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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

645–647

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Graf, Friedrich Wilhelm, u. Friedemann Voigt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion(en) deuten. Transformationen der Religionsforschung.

Verlag:

Berlin/New York: de Gruyter 2010. VIII, 374 S. 23,6 x 16,0 cm = Troeltsch-Studien. Neue Folge, 2. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-11-020467-4.

Rezensent:

Andreas Kubik

In den öffentlichen Debatten um Religion und in der Religionsforschung zwischen kurzlebigen Trends und wirklichen Tendenzen zu unterscheiden, ist eine Kunst für sich. An dieser Stelle zu helfen ist das Anliegen des vorliegenden Sammelbands. Hervorgegangen ist er aus einem Erfurter Troeltsch-Kongress, wobei der große Theologe eher als spiritus rector denn als Gegenstand dieses Bandes zu stehen kommt.
Lediglich zwei der zwölf Beiträge befassen sich im engeren Sinne mit Troeltsch. Hans Joas erwägt dessen Potential für eine mo­derne Religionssoziologie gerade auch dort, wo er gegenüber Max Weber eigene Wege geht. Lori Pearson lotet die zwiespältige Rezeption Troeltschs in Amerika aus, die in dessen komplexer Zuordnung von Christentum und moderner Welt begründet ist.
Die schon oft beschworene »Wiederkehr der Religion« ist ja bekanntlich vor allem eine Wiederkehr der Debatte über Religion. Dies führt zu Unübersichtlichkeiten eigener Art: »In einem erstaunlichen Maße haben die geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer in den letzten Jahren je eigene Religionsdiskurse etabliert.« (6) Der Band möchte demnach vor allem einen Einblick geben, was in den jeweiligen Disziplinen in Sachen Religionsforschung gerade vor sich geht.
Man kann die reichhaltigen Einzelbeiträge lose in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe gibt jeweils einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung, sei es in materialer, sei es in methodischer Hinsicht. Dabei kann man je nach eigener Vorkenntnis auf bereits Bekanntes treffen, wird aber in jedem Fall durch die gelungene Präsentation der Debatten und die umfäng­-liche Verarbeitung der Literatur bereichert.
Zunächst bespricht Sigurd Hjelde die Emanzipationsgeschichte der Religionswissenschaften gegenüber der Theologie, plädiert aber dafür, den »theolo­gischen Anteil an der Genese« (10) der Religionswissenschaften deutlicher und positiver zu lesen, als das gemeinhin geschieht. Stärker an den sacheigenen Problemen der Religionswissenschaft orientiert ist der Beitrag von Arie L. Mo­lendijk, so etwa an der Fraglichkeit des Begriffs der »Außenperspektiven« (40), der Problematik der christlichen Herkunft des Religionsbegriffs selbst, der Frage, ob es »Religion« überhaupt in Reinform gibt, oder der immer drohenden Gefahr der Selbstaufhebung der Religionswissenschaft in pure »Me­tho­dendebatten« (44). Karl-Heinz Kohl und Michael Minkenberg bieten überaus lehrreiche Einblicke in die gegenwärtigen Religionsdebatten in Ethnologie und Politikwissenschaft. Durch Globalisierung und Massentourismus droht die Ethnologie ihr Thema zu verlieren; sie reagiert und transformiert sich in die Wissenschaft von den möglichen Verhältnissen, die traditionale und ko­-loniale Lebensform (und deshalb auch Religion) zueinander entwickeln. Dadurch kommt die Ethnologie zum Teil wieder nach Hause, denn diese Prozesse spielen sich längst auch in den europäischen Großstädten ab. Die Politikwissenschaft steht vor der besonderen Herausforderung, Religion nicht bloß als Schattenseite dramatischer weltpolitischer Ereignisse wahrzunehmen, weil dann »Religion als ›normaler Faktor‹ nur selten in den Blick gerät.« (222) Für die Theorie der Demokratie, der Verteilung politischer Einstellungen oder als politische Einflussgrößen sind die Religionen permanent in Rechnung zu stellen.
Die zweite Gruppe der Beiträge besteht eher in der Vorstellung neuer Thesen und Forschungsergebnisse, natürlich ohne den Verzicht auf Bewährtes.
Monika Neugebauer-Wölk konstatiert zunächst, dass »deutsche Historiker […] traditionell überhaupt keine Erkenntnisansprüche gegenüber dem geschichts­bildenden Faktor ›Religion‹« (260) erheben. Ihr Beitrag besteht folglich in dem engagierten Plädoyer für eine eigene »disziplinäre Matrix« (262) in Sachen Religion. Sie entwirft diese (270–280) vor allem im Gespräch mit dem Projekt einer ›europäischen Religionsgeschichte‹ (Burkhard Gladigow) und erprobt ein plurales Konzept von ›Religion‹ an Beobachtungen zu außerchristlicher Religiosität seit der Renaissance, welche sich aus der Antikenrezeption und dem latenten Fortleben indigener europäischer Religion speiste. Dadurch könnte sich eine eigenständige historische Religionswissenschaft aus der allzu engen Umarmung mit der Kirchengeschichte befreien. Orientiert man sich an einem näher zu bestimmenden Religionsbegriff, so rückt beispielsweise die Reformation »an die zweite Stelle religiöser Wandlungsprozesse am Beginn der Neuzeit« (271). Darüber hinaus wäre vermehrt mit religiösen »Hybridfiguren« (277) zu rechnen.
Gangolf Hübinger diskutiert diesen Ansatz wohlwollend und kritisch zugleich. Er erinnert an die klassische Historik und deren Erben, welche sehr wohl anspruchsvolle Religionsdeuter waren. Ferner stellt er die Frage, ob Neugebauer-Wölk die esoterischen Bewegungen nicht ein wenig überschätzt. Mit dieser Rückfrage ist allerdings das Plädoyer für eine am Religionsbegriff orientierte Geschichtsforschung nur unterstrichen, keineswegs revoziert.
Die eigentliche Sternstunde des Bandes ist aber der voluminöse Beitrag von Reinhard Schulze, der auch als separate Publikation Sinn gehabt hätte. Schulze stellt am Anfang die simple Frage: »Warum […] wurde der Islam aus dem anfänglichen Kanon der Religionswissenschaft ausgeschlossen, so daß er einer eigenen Wissenschaft zugewiesen wurde?« (81) Ausgehend von dieser Frage rollt er die verschlungene Entstehung und die Etablierung der Islamwissenschaften aus, deren »disziplinäre[r] Status« (198) ungeklärt blieb. Minuziös verzeichnet er die vielen Abgrenzungsdiskurse der deut schen, vor allem protestantischen Gelehrtenschaft, welche den Islam als grundsätzlich moderneunfähig, seiner Gründungsgeschichte vollkommen verhaftet und als »Cultur« insgesamt dem Abendland gegenüberstehend deuteten: Sie blieben einer Heuris­tik, »die den Islam als prinzipielle Differenz definierte« (83), verpflichtet – teilweise bis heute. Man sieht aktuelle Islamdebatten nach der Lektüre dieses Artikels mit ganz anderen Augen.
Wie verortet sich schließlich die christliche Theologie angesichts dieser Entwicklungen? Zunächst präsentiert Jörg Dierken in seiner Reflexion über das Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft verlässlich so etwas wie einen aufgeklärt-protestantischen Normalkonsens: Die beiden Größen verdrängen sich nicht (mehr), »ergänzen« sich auch nicht, sondern stehen in einer »spannungsvolle[n] Dialektik« (212) zueinander. Forschung kommt nicht aus ohne Distanz, aber religiöse Gegenstände fordern immer wieder auch Stellungnahme. Dierken plädiert dabei dafür, den Ausdruck »Religion« – neben aller nötigen »Arbeit im Begriff« – auch »in pragmatischer Absicht zu gebrauchen« (219). Die latent kontroverstheologische Dimension dieser Position macht Alf Christophersen ausdrücklich. Nachdem er zunächst kenntnisreich verschiedene Ansätze zu einer Theologie der Religionen referiert und deren Potenzial erwägt, zeigt er auf, wie stark die katholische Kirche unter dem Pontifikat Joseph Ratzingers von einer inklusiven Position zu einer »Ausschließlichkeit des Heilsmysteriums« (325) zurücklenkt. Katholische Theologen würden die offizielle Position vermutlich freundlicher deuten.
Christian Albrecht schließlich entwirft eine Typologie der Teilnahmeinteressen am gegenwärtigen Religionsdiskurs, die jeweils ihre je eigenen »Perspektivengewinne« (294) erzeugen. Interessanterweise kommt hier gerade diejenige aufgeklärt-protes­tantische Praktische Theologie, die sich derzeit im Begriff der ›Wahrnehmung‹ selbst versteht, als ein »nur mühsam mit kulturhermeneutischer Tarnfarbe überzogenes Waffenstillstandsangebot« (296) zu stehen, die umgekehrt näm lich einen Anspruch auf Wahrgenommen-Werden re­-klamiert. Jenseits der Aufgeregtheiten bescheinigt Albrecht dann jenen Wortmeldungen die größte Chance auf Gehör, welche »Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstkritik, zur Selbstrelativierung, mithin zur Selbsthistorisierung« (301) beweisen. Denn die gegenwärtige Religionskonjunktur werde sicherlich auch wieder abkühlen.
Alles in allem macht der Band zwischen Troeltsch-Forschung, Handbuch und eigenem Debattenbeitrag zwar einen etwas uneinheitlichen Eindruck. Gleichwohl fühlt man sich im besten Sinne belehrt; und eine mitunter geradezu spannende Lektüre ist er auch. Die Herausgeber haben sich dafür entschieden, dem Eigengewicht der Beiträge zu vertrauen, ohne diese im Hinblick auf ein eventuell stimmigeres Gesamtkonzept abzusanden. Das ist absolut nachvollziehbar. Wünschenswert wäre hingegen ein Kapitel über die organisatorische bzw. institutionelle Seite der Religionsforschung gewesen (Forschungsverbünde, Cluster, SFB usw.), die sich kaum weniger dramatisch verändert als die Fachdiskurse.