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Ausgabe:

Juni/2012

Spalte:

643–645

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Damberg, Wilhelm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Soziale Strukturen und Semantiken des Religiösen im Wandel. Transformationen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989. Hrsg. in Zusammenarbeit m. F. Bösch, L. Hölscher, T. Jähnichen, V. Krech u. K. Tenfelde.

Verlag:

Essen: Klartext 2011. 222 S. m. Abb. 24,0 x 16,5 cm. Geb. EUR 24,95. ISBN 978-3-8375-0535-1.

Rezensent:

Claudia Götze/Gert Pickel

Der Sammelband unter der Herausgeberschaft Wilhelm Dambergs möchte eine »Zwischenbilanz« (10) der Arbeit des DFG-Forschungsverbundes »Transformation der Religion in der Moderne. Religion und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« an der Universität Bochum ziehen. Bereits die Einleitung lenkt in die weitverzweigten Gänge des Forschungsvorhabens, zeigt aber gleichzeitig den Kern des Vorhabens auf – die Verknüpfung von religionssoziologischen Zugängen und historischer Forschung zu Religion. In dieser Sicht steht der Band paradigmatisch für die gesamte interdisziplinär arbeitende Forschergruppe, die auf Basis des gegenwärtigen religionssoziologischen sowie kirchen- und sozialgeschichtlichen Forschungsstandes Veränderungen auf dem religiösen Feld mittels dreier Themenkomplexe nachzeichnen möchte.
Für den ersten thematischen Zugang, die religiöse Sozialisation, stehen die Beiträge von Owetschkin und Hero. Beide setzen sich mit Professionalisierung religiöser Akteure auseinander, die sie als Resultat einschneidender gesamtgesellschaftlicher Veränderungen in der Bundesrepublik nach 1949 ansehen: Während Owetschkin die Professionalisierung innerhalb der Kirchen am Beispiel des Pfarrerbildes mit seiner Gleichzeitigkeit der Professionalisierung und Entprofessionalisierung (religiöser Kommunikation) nachzeichnet, nimmt Hero außerchristliche und synkretistische Formen des Religiösen als Folge der gesellschaftlichen Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse in den Blick. Dabei werden jeweils deutliche Akzentverschiebungen in den Anforderungen der Individuen und dem damit verbundenen Leistungsprofil der religiösen Akteure herausgearbeitet. So sind selbst die neuen Heilsanbieter einem deutlichen religiösen Innovationsdruck ausgesetzt (64). Leider bleibt der Beitrag von Hero der einzige im Band, der explizit außerchristliche Formen des Religiösen behandelt, was ein wenig verwundert, da der Titel wie auch die Einleitung des Sammelbandes mehr in dieser Richtung verspricht.
Vier Beiträge widmen sich der zweiten Perspektive des Forschungsverbundes, der Transformation der Sozialformen religiösen Handelns. Henkelmann/Kunter und Kaminsky/Henkelmann schließen thematisch an die vorherigen Artikel an, indem auch sie die Professionalisierung kirchlicher Arbeitskräfte in ihr Zentrum stellen. Henkelmann und Kunter beleuchten Caritas und Diakonie als Dienstleistungen der Kirchen, wobei sie einen historisch ge­wachsenen Cleavage zwischen »einer zunehmend erforderlichen Professionalisierung kirchlicher Mitarbeiter auf der einen Seite und der von kirchlichen Arbeitgebern erwünschten konfessionellen Milieubindung auf der anderen Seite« (72 f.) seit den 1950er Jahren nachzeichnen. Die Existenz einer Spannungslinie zwischen »Glaubensgebundenheit und Fachlichkeit« (104) wird durch einen detaillierten Blick auf die Ehe- und Familienberatung in Diakonie und Caritas im Beitrag von Kaminsky/Henkelmann bestärkt. Die Autoren stellen die Grundlinien der Entwicklung kirchlicher Beratungstätigkeit heraus und zeichnen pointiert nach, welche konfessionellen Unterschiede bezüglich der Konzeption von Beratungsarbeit, aber auch der Tendenzen zu mehr Liberalität im kirchlichen Denken bestanden.
Zu den Liberalitätsforderungen gehört das Zulassen von Frauensynoden, denen sich Oehmen-Vieregge widmet. Sie skizziert mittels eines vergleichenden Abrisses die Etablierung dieser basisorientierten Sozialform religiösen Handelns auf internationaler Ebene, indem sie die reformorientierte, ökumenische und interreligiöse Arbeitsform als »Modell der Selbstermächtigung, Selbstentscheidung und Selbstverpflichtung« (120) charakterisiert. Den Abschluss dieses Themenkreises bildet der Beitrag von Tripp zur Entstehung christlicher »Dritte-Welt«-Gruppen in den 1960er und 1970er Jahren. Er sieht Transformationsprozesse des kirchlichen Selbstverständnisses von einer »europäischen Exportreligion zu einer transnationalen, polyzentrischen Religion« (123) als Folge von deren Entstehung. Diese veränderten auch die Intention kirchlichen Handelns von einer missionierenden zu einer unterstützenden Absicht durch Entwicklungshilfe, die letztlich auch Veränderungen im Selbstbild durch Übernahme außereuropäischer christlicher Glaubensmuster zuließ und schließlich in eine Selbstwahrnehmung als christliche »Weltgemeinschaft« (136) mündete.
Der dritte Themenkomplex der Forschergemeinschaft – »Mediale Repräsentation und Semantiken von Kirche und Religion« – wird wiederum durch vier Beiträge vertreten. Sie widmen sich dem Umgang der Konfessionen mit den erstarkenden (Massen-)Medien. Gettys beschreibt, welche unterschiedlichen Konzepte von Öffentlichkeit und Publizistik Protestantismus und Katholizismus über die Zeit entwickelten. Wie besonders die katholische Kirche die Medien zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils nutzte und die Deutungshoheit der Berichterstattung halten konnte, entschlüsselt der anschauliche Beitrag von Städter. Seine Ergebnisse können als Gegenentwurf des Beitrags von Hannig gelesen werden, der auch religiöse Berichterstattungen in Zeitschriften der 1960er Jahre betrachtet, in ihnen aber eher eine Hinwendung der Medien zu individuellen Glaubensporträts statt kollektiven Großereignissen aufzeigt. Mittmann nimmt nochmals einen anderen Blickwinkel ein: Er konstatiert eine »Eventisierung« im Bereich kirchlicher Akademien und Kirchentage, die er aber nicht als Resultat von Medialisierung, sondern als Produkt von Individualisierung und dem damit verbundenen veränderten Anforderungsprofil der Menschen im Umfeld der Kirchen betrachtet.
Eine Rahmung des Bandes mit Bezug zur Einleitung bildet der Abschlussbeitrag von Hölscher. Bemüht sich Damberg in der Einleitung, Säkularisierung als zentralen Leitbegriff zu vermeiden und dafür eher den normativ weniger besetzten Begriff der »Transformation« in den Vordergrund zu rücken, plädiert Hölscher für die Erhaltung des Säkularisierungsbegriffes. Er begründet dieses Plädoyer mit begriffsgeschichtlichen Überlegungen, die letztlich darauf hinweisen, dass er keine pauschale Antithetik zwischen Religion und Gesellschaft aufzeichnet, sondern in seiner Vielschichtigkeit gerade das Bestehen reziproker Verweisstrukturen beinhaltet. Damit ist er aber ein guter Leitbegriff für die Analyse der Transformation dieses Verhältnisses, speziell wenn man seine starke christliche europäische Prägung berücksichtigt. »Denn nur unter dem Gesichtspunkt der Säkularisierung lassen sich gleichermaßen Kirche und Religion als soziale wie auch Staat und Gesellschaft als religiöse Erscheinungen diskutieren« (214). Möglicherweise finden sich bei weiteren empirischen Betrachtungen sogar noch vielfältigere, von historischen Pfadabhängigkeiten geprägte und vom europäischen Verständnis abweichende Ausformungen von Säkularität und Säkularisierung – was ja nicht das Gleiche ist.
Gerade durch diese zuletzt vorgenommene Rahmung bekommt der Sammelband eine zusätzliche Kongruenz, die implizit die Brücke zwischen den verschiedenen Beiträgen herstellt. Denn der Be­zug auf Säkularisierung findet sich immer wieder innerhalb der verschiedenen Beiträge. Auch die Bezüge zu den in der Einleitung des Bandes formulierten Ansprüchen interkonfessionellen Vergleichs verbinden die einzelnen Aufsätze. Leider bestehen an keiner Stelle trotz vielseitigster thematischer und inhaltlicher Überschneidungen Verweise auf andere Beiträge im Band, was ein wenig verwundert, handelt es sich doch um einen institutionell engen Forschungsverbund. Entsprechend müssen eben die stärker impliziten Leitlinien weiterhelfen. Diese legen aber ihren Schwerpunkt in der Regel auf das Verhältnis zwischen den Organisationseinheiten des Religiösen (Kirchen) und der Gesellschaft. Individualisierte Religiosität oder auch neue religiöse Bewegungen kommen nur vereinzelt in den Blick. Dies drückt sich auch im weitgehenden Fehlen von Analysen von Zusammenhängen und Veränderungen von Religion und Gesellschaft auf der Werteebene aus. Kann man dies noch mit dem Verweis auf eine gewisse notwendige Konzentration von Forschungs- und Publikationsprojekten entschuldigen, so ist die Ausblendung der DDR-Geschichte doch kritisch zu hinterfragen. Wäre sie nicht ein guter Kontrastfall für manch sozialhistorische Entwicklung gewesen?
Trotz dieser kritischen Anfragen wird der Band dem Anspruch, Religionsgeschichte zwischen 1949 und 1989 in der Bundesrepublik darzulegen, gerade dadurch gerecht, dass er die vielfältigen Facetten von Transformationsprozessen auf dem religiösen Feld, für die es gar nicht eine deutsche Religionsgeschichte geben kann, in ihrer Komplexität bewusst macht.