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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

89 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hildemann, Klaus D., Kaminsky, Uwe u. Ferdinand Magen

Titel/Untertitel:

Pastoralgehilfenanstalt –­ Diakonenanstalt –­ Theodor Fliedner Werk. 150 Jahre Diakoniegeschichte.

Verlag:

Köln: Rheinland-Verlag i. Komm. Habelt, Bonn 1994. XIV, 332 S. m. Abb. 8o = Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 114. Pp. DM 32,­. ISBN 3-7927-1458-2.

Rezensent:

Heide-Marie Lauterer

Die Zahl der Festschriften im diakonischen Bereich, die die eigene Verbands- oder Institutionengeschichte ungeschminckt und kritisch darstellen wollen, hat in den letzten Jahren in erfreulicher Weise zugenommen. Auch der vorliegende Band zählt dazu. Die drei Autoren haben der Versuchung widerstanden, aus der 150-jährigen Geschichte des "Theodor Fliedner Werkes", einer Einrichtung der männlichen Diakonie im Ruhrgebiet eine "Jubelschrift" zu machen. Es ging ihnen darum, neben den "Erfolgen" die "Mißerfolge", also "Dunkles und Helles miteinander" zu sehen. Davon erhoffen sie sich, so der leitende Direktor und Mitautor des Bandes Klaus D. Hildemann, "Anstöße für die Bewältigung der gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben." Daß diese Sätze nicht bei einer bloßen Willensbekundung stehen bleiben, macht Hildemann im Dritten Teil des Buches deutlich. Hier stellt er zunächst die leitenden Konzeptionen dar, die vor allem auf der Idee der sozialen Integration von Menschen beruhen, die in Heimen oder anderen Sondereinrichtungen leben. In einem zweiten Abschnitt erfahren wir, wie diese Konzeptionen in den verschiedenen Einrichtungen des Werkes seit 1981 umgesetzt werden.

Im ersten Teil gibt Ferdinand Magen einen Einblick in die Gründungsgeschichte der Anstalt und in ihre Entwicklung bis zum ersten Weltkrieg. Im Jahre 1844 hatte Theodor Fliedner, angeregt durch einen Besuch in Johann Hinrich Wicherns "Rauhem Haus" eine Pastoralgehilfen- oder Hilfsdiakonenanstalt in Duisburg gegründet. Junge Männer sollten hier zu verschiedenen Diensten, wie z.B. der Erziehungsarbeit verwahrloster Jungen und der Krankenpflege ausgebildet werden. Zu dieser Zeit bestand die Kaiserswerther Diakonissenanstalt, die Theodor Fliedner zusammen mit seiner Frau in Kaiserswerth gegründet hatte, bereits seit acht Jahren. Die Organisation der Diakonenanstalt glich in vielen Aspekten der der Kaiserswerther Gründung, unterschied sich aber auch in einigen charakteristischen Punkten von ihr. Nicht zuletzt deshalb wäre hier ein Vergleich mit dem ­ wenn nicht in seiner Gründungszeit, so doch später ­ ungleich erfolgreicheren Modell der Kaiserswerther Mutterhausdiakonie fruchtbar gewesen.

Im 19. Jh. besaß es eine große Anziehungskraft auf junge unverheiratete Frauen aus ländlichen und kleinbürgerlichen Schichten, aber auch vereinzelt für Frauen aus dem Adel. Für diese Frauen bedeutete der Eintritt ins Mutterhaus einen gewissen gesellschaftlichen Aufstieg und eine sinnerfüllte Lebensgestaltung. Sie entschieden sich nicht nur für eine Ausbildung und eine zeitlich begrenzte Dienstzeit, sondern auch für eine Lebens-, Arbeits- und Dienstgemeinschaft im Mutterhause. Dagegen entschlossen sich nur vergleichsweise wenige Männer zum Diakonendienst. Die Anstalt begann 1844 mit vier Brüdern und zählte im Jahr 1862 90 Brüder. Leider erfährt man wenig darüber, aus welchen sozialen Schichten die ersten Diakone kamen. Magen ordnet sie den "ärmeren Teilen der Gesellschaft" zu, nennt Handwerksgesellen, Landarbeiter und ­ einigermaßen überraschend für die Mitte des 19. Jh.s ­ "Angestellte", ohne jedoch genauer zu spezifizieren. Im Vergleich zu den Frauen hatten die "Aspiranten" beim Eintritt in die Anstalt bereits einen Beruf erlernt, den manche von ihnen in der Anstalt weiter ausübten. Sie erhielten eine zusätzliche Ausbildung in Krankenpflege, in den 70er Jahre auch als Lehrer und wurden nach einer "Probezeit" zu Hilfsdiakonen ernannt. Diese waren zur Ehelosigkeit verpflichtet und mußten weitere fünf Jahre der Anstalt dienen. Genau wie für die Diakonissen galt auch für sie das Sendungsprinzip, d.h. die Direktion der Anstalt schloß für die Hilfsdiakone Arbeitsverträge mit deren Einsatzstellen ab und zahlte ihnen, im Gegensatz zu den Diakonissen, die bald nur noch ein Taschengeld erhielten, ein jährliches Gehalt aus. Was bewog diese Männer letztendlich zu einem Eintritt in die Diakonenanstalt und zu einer weiteren Ausbidung?

War es die Angst vor sozialer Deklassierung und Arbeitslosigkeit in dem sich rapide entwickelnden rheinischen Industriegebiet? Waren es religiöse Motivationen, individuelle Bekehrungserlebnisse oder die Sensibilität für die sozialen Probleme der Zeit, die z.B. Theodor Fliedner zu seinen Gründungen veranlaßt hatte? Obwohl das Werk, das sich wie Kaiserswerth zum großen Teil durch Spenden finanzierte, von Anfang an mit erheblichen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, gelang es der Anstalt ihre Arbeitsfelder auszudehnen und neue Zweigeinrichtungen zu gründen, die alle im ersten Teil beschrieben werden. Im Jahre 1914 zählte das Werk insgesamt 454 Diakone, eine Zahl, die in den folgenden Jahren stetig zurückging. Schuld daran waren nicht zuletzt die Einberufungen der Diakone zum Militärdienst während des Ersten Weltkrieges.

Im zweiten Teil will Uwe Kaminsky die Duisburger Diakonenanstalt "unter einer sozialgeschichtlichen Perspektive in historisch-kritischer Absicht unter Vermeidung der ’Theologisierung der Phänomene’" bis ins Jahr 1952 darstellen. Was immer damit gemeint sein mag ­ Kaminsky orientiert sich jedenfalls bei der Behandlung seines Untersuchungszeitraumes von 1918 bis 1952 an der Chronologie der Ereignisse. Trotz mentaler Vorbehalte und offener Sympathien mit den Rechtsparteien anerkannte die Direktion der Anstalt die Weimarer Republik als ihre Obrigkeit. Ein Teil der Diakone dagegen schien eher zu den demokratischen Kräften zu stehen. Sie fühlten sich darüberhinaus durch den gesellschaftlichen Umbruch zur Kritik an allzu lang tolerierten Mißständen in der eigenen Einrichtung legitimiert. Diese Ansätze wurden freilich erst Ende der 20er im Zuge der Professionalisierung der Wohlfahrtspflege und auf Druck des Weimarer Wohlfahrtsstaates umgesetzt. Wie wirkte sich die Verbesserung der Ausbildung, und die Möglichkeit eine Qualifkation als staalich geprüfter Wohlfahrtspfleger zu erwerben, auf die Diakone aus? Glaubt man Kaminskys Darstellung, so blieb die Brüderschaft das, was sie war: "eine Gruppe autoritär bevormundeter, christlich motivierter Männer, die ein volksmissionarisches Ziel mit ihrer Arbeit im wachsenden Feld der Wohlfahrtspflege verfolgten." So scheint es nur folgerichtig, daß sich 1933 von 296 Brüdern (einschließlich Hilfsdiakonen) 93 ­ über 30% ­ der NSDAP anschlossen, 34 in die SA eintraten und fünf gar die Mitgliedschaft in der SS erwarben. In dieser politischen Haltung drückte sich nicht zuletzt auch die Unzufriedenheit der Hilfsdiakone mit ihren schlechten Arbeitsbedingungen aus. Ihre Frontstellung zum Anstaltsleiter führte sie auch in die Glaubensbewegung Deutscher Christen. Die Diakone der Duisburger Anstalt dagegen sprachen sich gegen die Deutschen Christen aus.

Im November schloß sich die Anstalt, die, wie andere Einrichtungen der Inneren Mission, den direkten Anschluß an die Bekennende Kirche vermeiden wollte, der im September 1934 gegründeten "Arbeitsgemeinschaft der missionarischen und diakonischen Verbände und Werke der Evangelischen Kirche" an. Unter diesen Voraussetzungen bildete sich innerhalb der Diakonenschaft kaum Resistenzpotential gegen die nationalsozialistische Rassenpolitik heraus.

So z.B. richtete sich die zu der Diakonenanstalt gehörenden Heil- und Pflegeanstalt Waldbröl nach dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" und führte Sterilisationen an Patientinnen und Patienten durch. Schon 1931/32 scheint man hier der "Euthanasie" gegenüber, verstanden als "Sterbehilfe", positiv eingestellt gewesen zu sein, wie mehrere Fälle passiver Sterbehilfe in dieser Anstalt zeigen. Die Diakonenschaft stellte sich selbstverständlich auch aktiv auf die staatliche Judenpolitik ein. Im folgenden beschreibt Kaminsky die Durchführung der T4 Aktion ­ der sog. Vernichtung lebensunwerten Lebens ­ am Beispiel der nach Hausen umgezogenen Heil- und Pflegeanstalt Waldbröl. Das in der Einleitung angekündigte "Dunkle" kommt also in diesem Abschnitt zu Wort.

Für alle, die sich für Diakoniegeschichte interessieren, bietet der Band neue Informationen. Zahlreiche Abbildungen vermitteln darüberhinaus einen Eindruck von Umfang und Art der Arbeit. Das Buch ist nicht immer leicht zu lesen, da es an einigen Stellen ein solides kirchengeschichtliches Grundwissen voraussetzt. Bisher war die Geschichte der männlichen Diakonie noch kaum erforscht. Deshalb ist dieser Band wichtig, weil jetzt auch eine geschlechtergeschichtliche Perspektive auf die Diakoniegeschichte möglich wird.