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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

604–606

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Saß, Marcell

Titel/Untertitel:

Schulanfang und Gottesdienst. Religionspädagogische Studien zur Feierpraxis im Kontext der Einschulung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. 555 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 45. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-02791-0.

Rezensent:

Lutz Friedrichs

Gottesdienste und religiöse Feiern zur Einschulung stehen hoch im Kurs. Sie sind so gut besucht, dass in Gemeinden von einem »zweiten Weihnachten« die Rede ist. Hat die Einschulung deshalb nicht zufällig das Interesse der Praktischen Theologie geweckt (siehe Arbeitsstelle Gottesdienst 20 [1/2006], Themenheft: »Einschulung als neue Kasualie?«), so nimmt sich nun auch die Religions­pädagogik dieses »Falls« an, und zwar überaus gründlich und me­thodisch differenziert, wie die Münsteraner Habilitationsschrift »Schulanfang und Gottesdienst« von Marcell Saß zeigt. Sein Interesse ist von Anfang an, das Thema und damit auch das Selbstverständnis der Religionspädagogik möglichst weit zu halten: Es gehe nicht nur um Einschulungsgottesdienste im engeren Sinn, sondern, wie S. formuliert, um die »Feierpraxis im Kontext der Einschulung«, mithin um eine Religionspädagogik, die sich nicht ausschließlich auf Schule konzentriere (31) und es vermeide, ihren Gegenstand »über normativ bestimmte Begriffe« (111) wie Religion, Kultur oder Gottesdienst zu rekonstruieren.
Nach einer methodisch-begrifflichen »Grundlegung« (Teil I., 12–78) wendet sich S. der Praxis zu, zunächst in einer kritischen Sichtung von Praxishilfen, dann in Form einer »dichten Beschreibung« (Clifford Geertz) zweier Einschulungsgottesdienste, die er als teilnehmender Beobachter besucht hat: In einer »Brennpunktschule in Dortmund« (134) lernt er einen »interreligiösen Gottesdienst« kennen, den nicht nur er, der Forscher, sondern auch mitfeiernde Eltern, wie er später in Interviews erfährt, als »verwirrend« (siehe 475), ja »alarmierend« (160; »… Türkenkinder mussten zu dem Türkenpastor«, ebd.) erlebt. In Wernigerode beobachtet er hingegen einen »evangelischen Einschulungsgottesdienstes im Kontext der Konfessionslosigkeit«, der ihn stärker als der Dortmunder Gottesdienst zum Mitfeiern animierte. Wieder sind es die Interviews mit mitfeiernden Eltern (und Großeltern), die zu verstehen helfen, warum dem so ist. S. kommt am Ende seines umfangreichen, 555 Seiten starken Buchs auf die Elternsicht zurück.
Zunächst nimmt er differenziert die Kinderperspektive wahr. In 23 Kreisgesprächen mit insgesamt 57 Kindern im Alter zwischen fünf und sieben Jahren macht er aufschlussreiche Entdeckungen. Eine dieser Entdeckungen ist der besondere Wert des Singens. Wie ein roter Faden zieht sich dieses Thema durch seine Studien, es taucht hier in den lebendig-bewegten Erzählungen der Kinder auf, dann aber auch in den historischen Analysen und den Erinnerungen der Eltern und Großeltern. Hatte Christian Grethlein, der diese Arbeit begleitet hat, bisher Beten und Gesegnetwerden hervorgehoben, kommt nun nicht nur das Singen als weiterer elementarer Grundvollzug christlicher Religion in den Blick, sondern auch dessen spezifische religionspädagogische Relevanz im Zusammenhang interreligiöser Praxis. Wenn Matthias, Jan und Lale, die Muslima ist, im Kreisgespräch gemeinsam »Gottes Liebe ist so wunderbar« singen, dann ist klar: »Singen verbindet Kinder verschiedener Religionen« (143).
S. versteht seine empirischen Studien als den Forschungsprozess schärfende »Entdeckungen in der Praxis« (Teil II., 79–182). Es ist überaus erfreulich, dass die Arbeit methodisch hoch reflektiert vorgeht – jedoch so hoch, dass der paradigmatische Wert, den S. ihr für religionspädagogische Forschungsarbeit zumisst (siehe etwa 31), das eigentliche Thema bisweilen in den Hintergrund treten lässt.
Ist der empirische Teil dem Entdeckungszusammenhang zugewiesen, so kommt mit den »Diskurstheoretischen Rekonstruktionen« (Teil III., 183–411) der Begründungszusammenhang der religionspädagogischen Studien in den Blick. Dieser Teil stellt sich als eigentliches Kernstück der Arbeit dar, methodisch ebenso wie inhaltlich. Es geht um historische Rekonstruktionen unter Rück-griff auf den diskurstheoretischen Ansatz von Michel Foucault. Er soll den Zusammenhang der exemplarischen Fallstudien zu den sie überspannenden, besser noch, zu den sie bestimmenden »Diskursen« herstellen. Der Weite des Verständnisses von Einschulung und Feierpraxis entsprechend, setzt S. sehr früh bei der »Oblatio Puerorum« im benediktinischen Mönchtum an. Es folgen das mittelalterliche »Gregoriusfest« (12. März), seine reformatorische Transformation in das »Gregorii-Schulfest«, die bis ins 19. Jh. reichenden »Schulpredigten« (besonders an Michaelis), die »Völkischen Schulfeiern«, die Einschulungsfeiern in der DDR und zuletzt »Anknüpfung und Dekonstruktion in der BRD«, nicht ohne in einem eige nen Kapitel auch Einschulungsfotos und Glückwunschkarten be­dacht zu haben.
Die Einzelstudien zeigen, wie angemessen der diskurstheoretische Ansatz dem Forschungsgegenstand ist: nicht nur, dass die Einschulung als rituell begangener Übergang in die Bildungsinstitution »Schule« in ihren verschiedenen historischen Formen deutlich wird. Der Ansatz lässt auch forciert nach dem fragen, was aus theologischer Sicht diesen Prozess kritisch begleiten lässt.
Im Schlussteil werden fünf »Aktuelle Diskurse« (Teil IV., 412–471) rekonstruiert: pädagogische, praktisch-theologische/religions­pädagogische, pluralitätstheoretische, medientheoretische und juristische Diskurse. Ihre Überzeugungskraft gewinnen sie nicht aus der Diskurstheorie an sich, sondern aus dem Anliegen, das Phänomen, wie in der historischen Analyse deutlich geworden ist, multiperspektivisch und nicht eindimensional zu fassen. So entsteht nach Lektüre der Studien der Eindruck, S. habe das Phänomen nicht nur praktisch, sondern auch historisch und systematisch umfassend in den Griff bekommen – wäre da nicht jenes zwar nüchtern titulierte, mehrfach positiv überraschende Schlusskapitel »Differenzierungen« (472–485): Es sind die Erzählungen der Eltern – S. kehrt mit diesem Kapitel zum Entdeckungszusammenhang zurück –, die das Forschungsfeld auch nach Abschluss der umfangreichen Studien offen halten (die Interviews mit Eltern und Kindern sind über eine beiliegende DVD in vollem Umfang zu­gänglich!): Friederike aus Dortmund, 32, alleinerziehend, religiös nicht sozialisiert, sensibilisiert nicht nur für den Charakter der Feier als eines, so würde ich sagen, rituellen Exils (»… für mich der erste Moment der Ruhe«, 474), sondern sie macht auch das Bedürfnis anschaulich, sich – wenn Religion praktisch wird – distanzieren zu können, unter anderem »in der Art und Weise, wie gesprochen« (476) wird. Und ihr »Gegenstück«, Lisa aus Wernigerode, 38 Jahre alt, kirchlich zwar sozialisiert, aber in religiösen Fragen unsicher, lässt erkennen, wie Kinder zu »Missionaren« Erwachsener werden (»dann sitze ich da, dann kriege ich fast Tränen in die Augen«, 481).
Die »Klammer«, von der S. hier spricht, bindet die wissenschaftlichen Studien in einen Zusammenhang, der dem Fall »Einschulung« in besonderer Weise angemessen erscheint: ihn theoretisch präzise zu fassen und doch entdeckungsoffen für weitere Tiefen zu bleiben, oder in Anlehnung an Brecht formuliert: Der Vorhang geschlossen und doch, wenn nicht alle, so doch weitere Fragen offen.
Ich verstehe diese Klammer als Ausdruck wissenschaftlicher Bescheidenheit, die mir sympathisch ist. Das Buch ist nicht nur für die Praxis anregend, weil es unter anderem mit dem Mythos aufräumt, im Einschulungsgottesdienst gehe es wesentlich um eine – über den Segen vermittelte – »Angstkompensation« (88). Vielmehr ist es für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen der Einschulung in theologischer Perspektive unumgänglich.