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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

602–604

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Ritzer, Georg

Titel/Untertitel:

Interesse – Wissen – Toleranz – Sinn. Ausgewählte Kompetenzbereiche und deren Vermittlung im Religionsunterricht. Eine Längsschnittstudie.

Verlag:

Münster/Wien/Berlin: LIT 2010. 482 S. m. 4 Abb. 23,5 x 16,2 cm = Empirische Theologie, 19. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-643-50030-4.

Rezensent:

Joachim Willems

»Werden im Religionsunterricht Kompetenzen vermittelt?« (15) Dies ist die Frage, die der katholische Religionspädagoge Georg Ritzer in seiner an der Universität Salzburg entstandenen Habilitationsschrift zu beantworten versucht. Auf den ersten Blick mag die Frage in ihrer Schlichtheit überraschen, könnte man es doch als selbstverständlich ansehen, dass ein über Jahre unterrichtetes Schulfach die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler fördert. Tatsächlich aber kümmerte sich die Religionspädagogik (wie auch andere Fachdidaktiken) lange wenig darum, systematisch zu erheben, welche Effekte Religionsunterricht eigentlich hat. Dies änderte sich erst mit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie und dem dadurch ausgelösten ›PISA-Schock‹. Seitdem wurden die Fachdidaktiken vor die Aufgabe gestellt, fachspezifische Kompetenzmodelle zu entwickeln, um die Formulierung von Bildungsstandards empirisch zu fundieren. Vom Sog des Kompetenzdiskurses wurde auch die Religionspädagogik erfasst, und verschiedene Arbeitsgruppen entwickelten Modelle religiöser Kompetenz.
Aus Österreich kommt nun eine Studie, die die religionspädagogische Arbeit an Fragen der Konzeptualisierung und Evaluation religiöser Kompetenz ein gutes Stück voranbringt. Eine Pionierarbeit stellt das Werk vor allem deshalb dar, weil es erstmals in einer Längsschnittstudie den tatsächlichen Kompetenzerwerb im Religionsunterricht untersucht. Ein solches Unternehmen befindet sich notwendigerweise an der Schnittstelle unterschiedlicher Dis­kurse, die R. in den ersten Kapiteln gründlich darstellt und so seine Entscheidungen begründet oder zumindest deutlich macht, wie er sich in den jeweiligen Diskursen verortet.
In Kapitel 1 (»Lerntheoretische Vorüberlegungen«) stellt R. vor allem anhand einschlägiger Lehrbücher ein kognitiv-konstrukti­vistisches Verständnis von Lernen dar, dem er sich offensichtlich anschließt. Die »[n]eurobiologischen Notizen« (Kapitel 1.1) tragen dabei weniger etwas für die weitere Arbeit bei, sondern sind wohl eher der Dominanz der Neuro-Diskurse geschuldet. Kapitel 2 (»Ziele schulischen Religionsunterrichts«) dient der Offenlegung des normativen Vorverständnisses: Denn religiöse Kompetenz ›gibt‹ es ja nicht, sondern sie ist ein wissenschaftliches Konstrukt, in dessen Konstruktion eben auch normative Annahmen darüber einfließen, was Ziele schulischen Religionsunterrichts sein sollen. R. referiert die üblichen Begründungen für schulischen Religionsunterricht und stellt die für katholischen Religionsunterricht in Österreich grundlegenden normativen Dokumente dar (Beschluss der Würzburger Synode; Lehrpläne).
Aus pragmatischen Gründen ist es sicherlich sinnvoll, die der Studie zugrunde gelegte Definition von religiöser Kompetenz aus diesen Dokumenten abzuleiten. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob sich wissenschaftliche Religionspä­dagogik die Konzeptualisierungen religiöser Kompetenz von Bi­schofskonferenzen vorgeben lassen sollte. Kapitel 3 bietet einen Überblick über bisherige Längsschnittstudien, die für R.s eigene Studie relevant sind. Kapitel 4 erläutert auch für die nicht mit statistischen Methoden vertrauten Lesenden die von R. gewählte Forschungsmethodik, indem grundlegende Begriffe der statistischen Berechnungen erläutert, die eingesetzten Fragebögen und die Stichprobenziehung be­schrieben werden: R. untersuchte im Schuljahr im Rahmen zweier Erhebungen Klassen der Oberstufen von allgemeinbildenden und berufsbildenden höheren Schulen im Bundesland Salzburg. Dabei umfasst die Bruttostichprobe insgesamt 2149 Schülerinnen und Schüler (im Religionsunterricht bzw., als Vergleichsgruppen, im Ethikunterricht oder ohne Teilnahme am RU/ EU), die Nettostichprobe zum ersten Erhebungszeitpunkt 1839 Personen und 982 zum zweiten. In Kapitel 5 stellt R. dar, welche Variablen er im Einzelnen untersucht (demographische Variablen, Binnengeschehen im Religions- bzw. Ethikunterricht, Schulklima, religiöse Sozialisation durch die Familie). In den Kapiteln 6 bis 9 stellt R. die in seiner Arbeit untersuchten Teilkompetenzen dar: »Interesse an Religion« und »Perspektivenübernahme«, »In­haltskompetenz«, »Sinnkom-petenz« und »Umgang mit Pluralität«. Dazu werden jeweils bisherige Untersuchungen zu diesen Teilkompetenzen referiert, theo­retische Vorüberlegungen angestellt, das Untersuchungsinstrumentarium erläutert und höchst differenziert die Ergebnisse der em­pirischen Untersuchung vorgestellt. Im Kapitel 10 werden die Ergebnisse im Überblick vorgestellt.
Zu diesen Ergebnissen gehört unter anderem die Einsicht, dass dem Religionsunterricht zuzutrauen sei, Wissen zu vermitteln. Gleichwohl sei die Wissensquote teilweise ernüchternd. Wissenszuwachs gebe es im Religionsunterricht nur [!], wenn Ethikunterricht als verpflichtende Alternative angeboten werde – ein Ergebnis, das auch für die religionspolitische Diskussion in Deutschland interessant ist. Einen deutlichen Zusammenhang sieht R. zwischen dem Interesse an Religion und dem Wissen über Religion. Eine Veränderung von Werten oder Haltungen sei dagegen nicht feststellbar.
In Kapitel 10.3 stellt R. Überlegungen an für ein integrierendes Modell religiöser Kompetenz, das anschlussfähig ist an bisher diskutierte Modelle und das die Ergebnisse der empirischen Untersuchung aufnimmt. Kern des Kompetenzmodells ist die Unterscheidung von Wissen, Interesse, Interrelation als der Fähigkeit, sich kritisch zu etwas in Beziehung setzen zu können, und habitueller Kompetenz als Oberbegriff für Sinnkompetenz, Fähigkeit zum Umgang mit Pluralität und ethische Kompetenz. Diese Di­mensionen werden jeweils ausgelegt auf die Bereiche Bezugsreligion, andere Religionen und Weltanschauungen sowie ethische Fragen. Schulischer Religionsunterricht konzentriere sich auf Wissen, Interesse und Interrelation, da Veränderungen von Einstellungen und Haltungen realistischerweise nicht vom Unterricht geleistet werden könnten. Das Kapitel endet mit einem Entwurf für ein integrierendes religionspädagogisches Kompetenzmodell für Lehrende und sieben Thesen.
Im Anhang finden sich, neben den üblichen Verzeichnissen, Daten der Regressionsanalysen und der Internet-Link zum Fragebogen.
Angesichts der Fülle von Überlegungen, Reflexionen und Er­gebnissen kann an dieser Stelle die Arbeit von R. weder umfassend dargestellt und diskutiert noch angemessen gewürdigt werden. Hinzuweisen ist lediglich auf die Fragen, die sich aus dem von R. verwendeten sehr weiten Kompetenzbegriff ergeben: Ist es wirklich sinnvoll, den Begriff der Kompetenz von dem der Fähigkeit so zu lösen, dass letztlich alles, was als wünschenswert betrachtet wird, zu einer Kompetenz (v)erklärt wird? Es ist verständlich, wenn Religionspädagogen hoffen, dass ihre Schüler Interesse an Religion haben. Aber sollte man jemanden für religiös inkompetent erklären, der sich für anderes interessiert? Ähnliches gilt für die Rede von »Sinnkompetenz«: Ist inkompetent, wer nicht Aussagen zu­stimmt wie »Ich finde Halt im Glauben«, »Ohne Glauben wäre das Leben ohne Sinn« oder »Es gibt eine göttliche Macht, die alles trägt und meinem Leben Sinn gibt« (293)? Und reicht es nicht, den Abbau von Ausländerfeindlichkeit zum Bildungsziel zu erklären, muss man fehlende Ausländerfeindlichkeit zur »Kompetenz religiöser Toleranz« (312) machen?
Trotz dieser Anfragen: Es ist der Arbeit zu wünschen, dass ihr Umfang und ihre Komplexität nicht ihrer Rezeption entgegenstehen, denn die Verbindung von Forschung auf dem aktuellen Stand der empirisch-bildungswissenschaftlichen Diskussion und religionspädagogischer, erziehungswissenschaftlicher wie theologischer Reflexion machen R.s Werk zu einem Meilenstein in der Debatte um religiöse Kompetenz.