Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

597–600

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Altmeyer, Stefan

Titel/Untertitel:

Fremdsprache Religion? Sprachempirische Studien im Kontext religiöser Bildung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 351 S. m. 28 Abb. u. 22 Tab. 23,2 x 15,5 cm = Praktische Theologie heute, 114. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-021834-5.

Rezensent:

Bernhard Dressler

Der philosophisch-kulturwissenschaftliche linguistic turn hat die Religionspädagogik erst verspätet erreicht, in gewisser Weise zeitgleich mit dem konsequenten nächsten Entwicklungsschritt eines performative turns: Es geht um die Pragmatik des Sprachgebrauchs. Allerdings ist der Vorschlag, religiöses Lernen als religiöse Sprachlehre zu konzeptualisieren, ebenso wenig neu wie die Klage über religiösen Sprachverlust. In der hier vorliegenden, von der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn angenommenen Habilitationsschrift untersucht Stefan Altmeyer das damit angesprochene Themenfeld sowohl systematisch als auch empirisch.
Die Studie fragt nach der Erkenntnisreichweite der »hermeneutischen Metapher«, Religion sei heute eine »Fremdsprache« geworden. Sie hat dabei beide Lesarten dieser Metapher im Blick, die Defizienz der kirchlich-theologischen Sprache und die religiöse Sprachlosigkeit moderner Menschen (13 f.). Der Vf. fragt nun allerdings, ob die »in der Metapher der Fremdsprache verdichteten Symptomdiagnosen bislang an einem Idealbild religiöser Sprache orientiert sind? Dann würde religiöse Sprachlosigkeit aber vielleicht nur be­deuten, dass Menschen heute ihre Gottesvorstellungen nicht (mehr) in der vertrauten, sondern einfach in einer anderen Sprache zum Ausdruck bringen« (24). Zur Klärung dieser Frage hat sich der Vf. die Aufgabe gestellt, » die konkrete Verwendung von Sprache in religiöser Praxis und religiöser Bildung im Gespräch zwischen linguistischen und theologischen Herangehensweisen zu untersuchen« (26).
Zuvor aber werden in einem Teil A (35–124) »paradigmatische Lösungsansätze der Frage nach den Bedingungen, unter denen die Beziehung zu Gott Sprache werden kann«, präsentiert (32). Geboten wird ein unvermeidlich selektives, aber instruktives, sowohl theoriegeschichtlich als auch systematisch interessantes Resümee sys­tematisch-theologischer, religionspädagogischer und linguistischer Zugänge zum Problem religiöser Sprache. Es schließt ab mit dem Befund der Krise einer »ontologisch begründeten Theologie der Sprache« und deren Überwindung in subjektzentrierten sprachtheologischen Modellen (»von der Kulturtheologie Schleiermachers über die Transzendentaltheologie Rahners bis zu theolo­gischen Symboltheorien«) (114). Sprache dient nicht nur als Aus-drucksmittel religiöser Erfahrungen, sondern hat selbst »Anteil … am theologischen Erkenntnisprozess.« So stellt sich die Frage, wie weit religiöse Sprache »ihren Gegenstand konstituiert«, und zwar »durch metaphorische oder symbolische Sprache oder in bestimmten religiösen Sprechakten« (115).
Der Vf. bezeichnet in seinem Resümee präzise das Dilemma eines hermeneutischen Zirkels, dass nämlich nach religiöser Sprache in Abhängigkeit von der Annahme einer »religiösen Idealsprache« gefragt werde: »Auch religionspädagogische Ansätze (welche? Und welche nicht?! B. D.) nehmen weiterhin Bezug auf Vorstellungen idealer religiöser Sprache. … Demgegenüber fällt ins Auge, dass über Merkmale subjektiver religiöser Sprache … relativ wenig be­kannt ist.« Damit ist die empirische Fragestellung begründet: »Welche Merkmale religiöser Sprache lassen sich benennen, wenn nicht nach religiöser Sprache ›an sich‹, sondern – sprachempirisch – nach dem religiösen Sprachgebrauch gefragt wird.« (123 f.)
In Teil B (125–255), dem Schwerpunkt des Buches, wird in drei exemplarischen sprachempirischen Studien untersucht, »auf welche Weise Gott heute zur Sprache kommt.« Zur Anwendung kommen dabei aufwändige Methoden der sog. »Korpuslinguistik«, die anhand authentischer Daten einen jeweils bestimmten Sprachgebrauch (für den sich jeweils ein Kontext angeben lässt) untersucht. In der ersten Studie wird die Gebetssprache »kirchlich gebundener« Jugendlicher anhand von 300 Gebetstexten im Vergleich zu liturgischen Gebetsvorlagen aus pastoraltheologischen Fachzeitschriften untersucht. In der zweiten Studie geht es um schriftlich formulierte »Gottesvorstellungen« von Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht der Jahrgangsstufen 9–13. Die dritte Studie untersucht »erfahrungsbezogene Sprache in Predigten« anhand von in katholischen Fachzeitschriften publizierten Predigtvorlagen.
Im Teil C (257–319) wird abschließend nach der Bedeutung des sprachempirischen Befunds gefragt und eine Antwort auf die »Leitfrage« gesucht, wie »so mit der Fremdheit der religiösen Sprache umgegangen« werden kann, »dass darin nicht die negative Haltung eines zu beklagenden Verlusts, sondern die christliche Hoffnung zum Ausdruck kommen kann, dass Gott neu Sprache werde« (33).
Die Interpretation der empirischen Befunde (besonders der beiden ersten Studien) bietet neben einigen überraschenden Ergebnissen oft die Bestätigung praktischer Erfahrungen. Dass dem »liturgischen Beten« eine den Gebetstexten der Jugendlichen »vergleichbare Intimität« fremd ist, dass aber auch zu vermuten ist, »dass die kirchlich gebundenen Jugendlichen deutlich von Erfahrungen liturgischen Betens beeinflusst sind« (188), hätte man sich mit etwas gesundem Menschenverstand auch selbst sagen können. Zu Recht wirft der Vf. angesichts des performativen Charakters der Gebetssprache die Frage auf, »inwieweit … das Gebet als performative Sprachform unter Ausblendung dieser Performanz überhaupt sinnvoll thematisiert werden kann« (273). Auch bei der »Artikulation ihrer Gottesvorstellungen als eigene greifen die Jugendlichen auf bestimmte (ausgewählte) Sprachmuster der Tradition … zurück« (287). Aber als Problemanzeige liest sich der Befund, dass Gottesfrage und Christologie voneinander getrennt werden. Eine »Präferenz allgemein-abstrakter Religiosität« passt zur Fehlanzeige bezüglich des Gebrauchs »biblisch-metaphorischer Sprache« (290). Bemerkenswert ist die Beobachtung, dass die »Erfahrung der Negativität des Lebens … nicht zwangsläufig oder ausschließlich in die Krise des Gottesglaubens« führt, sondern eher die »Plausibilität der Gottesfrage« bestärkt. Man könne in Umkehrung eines bekannten Diktums von Karl Ernst Nipkow »daher sogar von Leiderfahrungen als Einbruchstelle für den Verlust der Gottesindifferenz sprechen« (299).
Insgesamt folgert der Vf., dass die »generelle Defizitdiagnose des Sprachverlusts der Religion und der religiösen Sprachlosigkeit der Menschen … aufgrund der durchgeführten Untersuchungen des Sprachgebrauchs modifiziert werden« müsse. Es sei angemessener, »von einer grundlegenden Transformation der Gottesrede zu sprechen: weg von der (christlichen) religiösen Sprache im Singular hin zu einem Plural je individueller religiöser Sprachen« (313 f.). Auch dieser Befund ist nicht wirklich neu. Freilich stellt sich die Frage nach der Validität dieser Ergebnisse angesichts der Tatsache, dass die Probanden kaum repräsentativ für die gegenwärtige Generation von Jugendlichen sind. Zudem: Gerade aufgrund des Vergleichs mit kirchlich-theologisch formatierten Texten handelt sich die Studie gleichsam hinterrücks das vom Vf. beklagte Problem einer petitio principii wieder ein, wonach der »Religiosität« der Sprache nur im Abgleich mit als religiös definierter Sprache auf die Spur zu kommen sei. Und der Bezug auf schriftlich kodifizierte Texte unterläuft in gewissem Maße die These von der Notwendigkeit, praktische Gebrauchskontexte religiöser Sprechakte in den Blick zu nehmen. Wenn freilich beobachtet wird, dass die »Sicherheit einer vorgegebenen religiösen Sprache« weitgehend »transformiert« wird »in die Unsicherheiten stets neu zu bewährenden religiösen Sprechens«, dann ist der Folgerung unbedingt zuzustimmen, dass sprachliche »Unsicherheit« keineswegs schon ein Indiz für Sprachverlust sei; ebenso »dass religiöse Sprache auch theologisch nicht unabhängig von der Praxis religiösen Sprechens ge­dacht werden kann. Religiosität ist keine Eigenschaft von Wörtern und Sätzen, sondern eine Frage der im Akt des (individuellen und gemeinschaftlichen) Sprechens zum Ausdruck gebrachten Gottesbeziehung« (314). Weil es keine religiöse Sprache unter Absehung von ihrem Gebrauchskontext gibt, gibt es in religiösen Bildungspro­zessen auch keine religiösen »Gegenstände« oder »Gehalte« unabhängig vom kommunikativen Modus.
Man wünscht sich mehr solcher Studien, in denen theologische und empirische Fragestellungen zusammenkommen, auch wenn einige der damit verbundenen methodologischen Probleme noch ungelöst bleiben.