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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

595–597

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

North, Douglass C., Wallis, John Joseph, u. Barry R. Weingast

Titel/Untertitel:

Gewalt und Gesellschaftsordnungen. Eine Neudeutung der Staats- und Wirtschaftsgeschichte. Übers. v. M. Streissler.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XIII, 326 S. 23,0 x 15,5 cm = Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, 145. Lw. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-150590-4.

Rezensent:

Andreas Pawlas

Wenn ein Nobelpreisträger wie Douglass C. North in Zusam­menarbeit mit hochangesehenen Wissenschaftlern, unterstützt von der Weltbank und anderen renommierten Einrichtungen und Forschern eine »Neudeutung der Staats- und Wirtschaftsgeschichte« vorlegt, so ist höchste Aufmerksamkeit geboten. Ihr Werk gliedert sich in sieben Kapitel mit anschließendem Literaturverzeichnis sowie Namen- und Sachregister. Dabei geht es den Autoren darum »nachzuvollziehen, wie Gesellschaftsordnungen das mensch­liche Zusammenleben strukturieren« (XI). Von maßgeblicher Be­deutung sei hierbei, wie »Gesellschaften die Anwendung von Gewalt beschränken und regeln« (1). Denkvoraussetzung für den dann anschließenden Gang durch 10.000 Jahre Gesellschaftsgeschichte sei, »daß systematische Rentenschaffung (also die Beschaffung ma­terieller Güter und Vorteile) mächtige Einzelpersonen und Gruppen von Gewaltanwendung abhalten kann« und dass »die Struktur aller sozialen Institutionen wesentlich von den Methoden be­stimmt ist, mit denen man dem Problem der Gewalt beizukommen sucht« (277). Eine detaillierte Differenzierung zwischen un­ rechter und berechtigter Gewalt, also zwischen »violence« und »power« bzw. »force« (z. B. 82.118 u. ö.) wird dabei jedoch nicht vorgenommen. Außerdem verwundert, dass der Fokus nahezu ausschließlich auf ökonomischen Anreizen und Ergebnissen liegt ohne jegliche religiösen oder ethischen Erwägungen, was etwa im Blick auf das mittelalterliche Verhältnis von Staat und Kirche zu Irritationen führt (z. B. 67 ff.).
Die Autoren erkennen in der Menschheitsgeschichte drei Ge­sellschaftsordnungen: die »Wildbeuterordnung« mit kleinen Grup­pen von Jägern und Sammlern; die »Ordnung mit Zu­gangsbeschränkung«, auch als »natürlicher Staat« be­zeichnet (Kapitel 2 und 3), wo »persönliche Beziehungen die Grundlage sozialer Organisation und das Mittel der Kontaktnahme zwischen einzelnen« seien; und schließlich die in der Moderne entstandene »Ordnung mit Zugangsfreiheit« (was der westlichen Gesellschaftsordnung entspricht), in der meist »unpersönlich kategorisierte Personen, oft als Bürger bezeichnet, in Beziehung zueinander (treten), ohne über die persönliche Identität ihrer Partner Bescheid zu wissen« (2).
In einer Wildbeutergesellschaft sehen die Autoren – durch Be­-funde an Skelettresten (80) empirisch belegt – innerhalb von und zwischen Gruppen viel Gewalt, welche aber im Rahmen der Sesshaftwerdung zurückging (59.81). In dem dann später entstandenen »natürlichen Staat« habe man versucht, das Gewaltproblem da­durch zu lösen, dass sich »mächtige Mitglieder der Gesellschaft in einer Koalition militärischer, politischer, religiöser und wirtschaftlicher Eliten« vereinigten, privilegierten Zugang zu wertvollen Ressour­cen, wertvollen Tätigkeiten und potenten Organisationen herstellten und so »mächtige soziale Organisationen wie Kirche, Regierung, Gerichte und Militär« kontrollierten. Und da Gewaltausbrüche die »Renten« dieser Eliten beeinträchtigten, hätten sie sich wechselseitig zur Begrenzung von Gewalt verpflichtet. Allerdings hinge der so erreichte Friede von dem leicht zu störenden Gleichgewicht der Interessen innerhalb der dominanten Koalition ab (273 f.).
Als wesentlich flexibler (275) und daher stabiler würden dagegen die Ordnung mit Zugangsfreiheit (Kapitel 4) erscheinen, in denen immer mehr Glieder des Volkes die unpersönliche Vollbürgerschaft erlangten und dann für beliebige Zwecke wirtschaftliche, politische, religiöse oder soziale Organisationen bilden könnten, und wo die Anwendung von Gewalt durch andere Organisationen als Militär oder Polizei verboten sei (274).
Sehr erhellend wird dann in den Kapiteln 5 und 6 der Übergang zu den offenkundig ökonomisch erfolgreichen (4 u. ö.) Ordnungen mit Zugangsfreiheit in Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten nachgezeichnet. Dort hätten sich die Eliten entschlossen, »ihre Privilegien dadurch zu schützen, daß sie sie zu subjektiven Rechten machten, und zwar durch Institutionen, die offenen wirtschaftlichen und politischen Wettbewerb garantierten, indem sie – in nie dagewesener Weise – die Bildung wirtschaftlicher und politischer Organisationen völlig frei stellten« (276). Allerdings würdigen die Autoren dabei weder den kämpferischen Einsatz des Bürgertums noch der Arbeiterbewegung.
Ordnungen mit Zugangsfreiheit seien nun nach dieser Studie nicht deshalb friedlicher als natürliche Staaten, weil der Staat im Weberschen Sinne das Monopol legitimer Gewaltanwendung habe, sondern weil Gewaltkontrolle und Zugangsfreiheit einander verstärkten (118). Und das sei dadurch bedingt, dass hier die Bürger gleichartige Wertsysteme hätten, welche Gleichheit, Teilen und die Einbeziehung aller betonten. Hinzu kommt die Konkurrenz politischer Parteien, wobei eine Reihe von Institutionen und Anreizsystemen dafür sorge, dass einer an der Herrschaft befindlichen Partei, die ihre Position durch systematische Rentenschaffung und Zugangsbeschränkungen zu festigen sucht, Kosten entstünden, was wiederum der Opposition Gelegenheit gebe, Stimmen zu werben, um wieder an die Macht zu kommen (119 f.). Das dominanteste Merkmal sei aber die Umwandlung einer auf Eliten gegründeten Gesellschaft in eine auf einer Masse von Bürgern gründende (127). Zwar räumen die Autoren ein, dass viele natürliche Staaten einige Merkmale und Institutionen wirtschaftlichen und politischen Wettbewerbs aufwiesen. Da sie aber nicht so funktionierten wie in Ordnungen mit Zugangsfreiheit, würden die positiven Wechselwirkungen von offenem Zugang und Wettbewerb ausbleiben (151). Außerdem könnten Ordnungen mit Zu­gangsfreiheit besser als natürliche Staaten neue Ideen entwickeln (158).
Die maßgeblichen drei Übertrittsbedingungen vom natürlichen Staat zum Staat mit Zugangsfreiheit seien »Rechtssicherheit für Eliten«, »Zeitlich unbegrenzte Organisationen im öffentlichen und im privaten Bereich« und schließlich »Konsolidierte Kontrolle des Militärs« (163). Wenn das dann im ganzen 6. Kapitel sorgfältig illustriert wird mit einer »Konzentration auf die Geschichte Großbritanniens, Frankreichs und der USA im frühen 19. Jahrhundert«, dann begreifen das die Autoren selbst als eine Engführung auf den euro-amerikanischen Blickwinkel (207 f.). Dennoch meinen sie, dort das maßgebliche »Begriffsraster« (208) zu finden. Und das zeigt sich in der parallelen Entstehung von Zugangsfreiheit und Wettbewerb in der Politik durch organisierte politische Parteien und in der Wirtschaft durch organisierte Unternehmen (269).
In Kapitel 7 schlagen dann die Autoren ein »neues Forschungsprogramm für die Sozialwissenschaften« (270 ff.) vor – auch mit dem Ziel der Bekämpfung lebensbedrohlicher Gewalt (273). Als sozialwissenschaftlich neu sehen sie dabei ihre Idee, »daß systematische Rentenschaffung mächtige Einzelpersonen und Gruppen von Gewaltanwendung abhalten kann« (277) und dass damit entgegen Weberschen Vorstellungen in natürlichen Staaten militärische Ressourcen über die ganze dominante Koalition verstreut seien (278). Um die Kontrolle von Gewalt zu verstehen, müsse deshalb die Analyse zu Recht »mit einer Gruppe mächtiger Einzelpersonen« beginnen sowie deren Einbindung und Spezialisierung auf den Gebieten der Wirtschaft, Politik und Gewaltausübung (279).
Die Autoren meinen »herausgefunden« zu haben, wie »freier Zugang zu Organisationen in unterschiedlichen Formen soziale Institutionen wie die Demokratie viel besser funktionieren lassen kann, indem er nämlich für schöpferische Zerstörung (nach Schumpeter) im wirtschaftlichen und politischen Bereich« sorge (281). Und hinsichtlich einer Theorie des Staates bekräftigen sie, dass »eine Grundannahme der modernen Sozialwissenschaft hinfällig« sei, de­ren »herrschendes Paradigma politische und wirtschaftliche Akteure in ge­trennte, genau definierte Sphären« verweise. Denn die Systeme von Wirtschaft und Politik seien faktisch eng miteinander verwoben (290). Allerdings ist diese Kritik nicht neu, da sie sozialethisch seit Langem unter der Rubrik »Eigengesetzlichkeit« thematisiert wird. Und entsprechend bleiben die Autoren, wenn sie abschließend »die Wichtigkeit einer viel stärker integrierten politischen Ökonomie« betonen (290), den Bezug zu Religion und Ethik schuldig. Das ist umso bedauerlicher, als ihre Arbeit eigentlich der »Auftakt« sein sollte »zu gründlicher Erforschung der eigentlichen Ursachen von Gewalt« (294). Wie sollte das gehen, ohne die theologische Frage nach dem »Bösen« zu stellen?
Auf jeden Fall beschreibt die Studie anregend die Entwicklung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der bislang prosperierenden westlichen Welt (293). Offen bleibt jedoch, ob der mit dieser westlichen Ordnung erreichte Wohlstand angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise Bestand hat. Offen bleibt vor allem auch die in dieser Studie nicht behandelte ethische Frage, ob und inwieweit es einen Zusammenhang gibt zwischen dem durch die westliche »Ordnung mit Zugangsfreiheit« erreichten Wohlstand und mancher Armut in den Entwicklungsländern. Und wenn die westliche Ordnung und ihre Domestizierung der Gewalt in demokratischen Institutionen als Erfüllung des amerikanischen »Gründungsmythos« (245 ff.) angesehen werden, dabei aber allein eine materialistische Perspektive eingenommen wird, dann sollte nicht vergessen werden, dass die amerikanischen Verfassungsväter nicht eine neue Gesellschaftsordnung konzipiert hatten, um ihre »Rente« zu erhöhen, sondern um ein neues, gottgefälliges Leben zu führen.