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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

592–595

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Moltmann, Jürgen

Titel/Untertitel:

Ethik der Hoffnung.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2010. 272 S. 22,5 x 15,0 cm. Geb. EUR 22,95. ISBN 978-3-579-01929-1.

Rezensent:

Martin Honecker

Jürgen Moltmanns Ethik nimmt in der derzeitigen ethischen Debatte eine besondere Stellung ein. M. geht nämlich nicht auf die breite Diskussion um Grundlegung und Methode der Ethik in Theologie und Philosophie ein. Seine Ethik der Hoffnung schließt vielmehr an die »Theologie der Hoffnung« an und will aus deren Perspektive veranschaulichen, wie ethische Bewertungen, gelebte Praxis und konkretes Handeln aussehen könnten. Im Vorwort betont er: »Diese Ethik der Hoffnung ist kein Lehrbuch, das Übersichten vermittelt und in Methoden der Ethik einführt. Sie ist auch keine Politikberatung, wie sie in den Denkschriften der EKD geliefert wird. Ich wende mich an die Christenheit, um Handlungsvorschläge in Hoffnungshorizonten zu machen.« (13) Inspiriert ist diese Ethik also immer noch von der Botschaft der Weltkirchenkonferenz von Uppsala 1968: »Im Vertrauen auf Gottes erneuernde Kraft rufen wir euch auf: beteiligt euch an der Vorwegnahme des Reiches Gottes und lasst heute schon etwas von der Neuschöpfung sichtbar werden, die Christus an seinem Tag vollenden wird.« (14) Eine solche Ethik der Hoffnung will nicht nur ökumenische Ethik sein, sondern auch eine bewusst christliche Ethik. Dabei weist das Vorwort selbst auf zwei Defizite hin. Ausgeklammert ist einmal die katholische Soziallehre. Damit ist auch das Naturrechtsthema von vornherein nicht aufgenommen. Ebenso fehlt ein Kapitel über ökonomische Ethik (15 f.). Dabei stellt die Ökonomie gerade heute Theologie und Kirche vor neue, schwierige und bislang ungeklärte Herausforderungen! Es genügt, die Stich- und Reizworte zu nen nen: Finanzkrise, Globalisierung, Weltmarkt und Welthunger, Weltarmut, Schwierigkeiten der Arbeitsgesellschaft und Arbeits-losigkeit, ethische Folgeprobleme der Informationstechnologie. Die drei Themenkomplexe, welche in der Ethik der Hoffnung erörtert sind: eine Ethik des Lebens, eine Ethik der Erde und eine Ethik des gerechten Friedens.
Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert. Kapitel I »Eschatologie und Ethik« (19 ff.) stellt das Leitthema vor. Die Einleitung (20–26) präludiert anhand der Begriffe hoffen, handeln, fürchten, beten und wachen. Die drei folgenden Paragraphen gehen jeweils aus von »Eschatologien« des Reformationsjahrhunderts, die bis in die Gegenwart hinein als fortwirkende Typen betrachtet werden. Als »apokalyptische Eschatologie« (27 ff.) wird zunächst die lutherische Zweireichelehre, dann Carl Schmitts Zeitdeutung mithilfe der Vorstellung vom Katechon sowie die fundamentalistische Vorstellung vom Harmagedon umrissen. Die »christologische Eschatologie« (37 ff.) hat ihren ersten Repräsentanten im Calvinismus, dann in Karl Barths christologischer Eschatologie, die auf eine theokratische Demokratie zuläuft. Unter der Überschrift »Separatistische Eschatologie« (44 ff.) wird – dankeswerterweise – die Reich-Gottes-Auffassung der Täufer vorgestellt; Stanley Hauerwas’ »postliberale Separation von Kirche und Welt« bildet dabei den Ausblick (50 ff.). M.s Anliegen ist eine mögliche Vermittlung dieser divergenten Positionen.
Allerdings ist im Blick auf diese Typisierung doch eine kritische Rückfrage erforderlich. Warum Luthers Unterscheidung von Gottesreich und Weltreich apokalyptisch sein soll, leuchtet nicht ohne Weiteres ein. Außerdem ist das Wort »apokalyptisch« mehrdeutig. Man kann darunter sowohl die Offenlegung göttlicher, himmlischer Geheimnisse in Auditionen und Visionen (also eine Geheimlehre) verstehen – das geschieht bekanntlich auch teilweise im Fundamentalismus – als auch eine spezifische Deutung der eschatologischen Endzeit in einem kriegerischen und dramatischen Endkampf. Beides findet sich so bei Luther nicht. Dagegen spielt in der lutherischen Reformation, wie bei den anderen Reformatoren die Frage der Unterscheidung von Gemeinde, Kirche und Welt einerseits und andererseits der Bezug von Geschichtsdeutung auf die endzeitlichen Vorstellungen, die »Eschatologie« also, eine Rolle. Solche Grundlegung der reformatorischen Zuordnung von Eschatologie und Ethik, von christlichem Hoffnungsglauben und weltlichem Handeln wird freilich nicht thematisiert. Darüber hinaus ist zu fragen, ob nicht die radikale Infragestellung der tradierten christlichen Eschatologie seit der Aufklärung und das dadurch ermöglichte Aufkommen säkularisierter Eschatologien, Weltveränderungsentwürfe und Utopien nicht ebenfalls zu bedenken wäre. Auch gibt es durchaus Theologen, die eine geschichtstheologische Vereinnahmung der »Eschatologie« strikt ablehnen (z. B. Gerhard Ebeling, Joseph Ratzinger) und dagegen die Ausrichtung auf das ewige Leben in den Vordergrund stellen.
M. stellt im § 4 sodann den eigenen Entwurf unter die einprägsame Formel »transformative Eschatologie« (53 ff.), wobei er sich an die Programmatik von Uppsala anschließt: »Reich-Gottes-Ethik ist Nachfolgeethik und die Ethik der Nachfolge Jesu ist Antizipations-Ethik seiner Zukunft.« (57) Christliche Ethik soll darum weder an­gepasste Weltverantwortung noch separatistische Weltflucht, sondern Anleitung zur Weltveränderung geben (59). Dies ermöglicht es, aus den drei idealtypisch vorgestellten Eschatologien je­weils einen positiven Aspekt aufzunehmen und gleichzeitig als Mangel erkannte Ideen und Verhaltensweisen zu korrigieren. Zu­vor wäre freilich zu diskutieren, wie Eschatologie und Ethik überhaupt zusammenhängen. Man kann ja Eschatologie nicht nur, wie M., als Ausgangspunkt und Basis christlicher Ethik aufgreifen, sondern genauso legitim als Grenze und Horizont. M. selbst expliziert diese transformatorische Ethik anhand von drei Anwendungsfeldern, Ethik des Lebens, der Erde und des gerechten Friedens. Dabei fällt freilich auf, dass auf allen drei Praxisgebieten zunächst einmal jeweils spezifisch fachliche Informationen und Rahmenbedingungen zu bedenken sind. Insofern stellt sich auch hier die Frage nach dem Verhältnis von Sachkenntnis, die nicht aus der Eschatologie abzuleiten ist, und Hoffnungsperspektive.
Die »Ethik des Lebens« in Kapitel II setzt ein mit dem Terrorismus als Inbegriff einer Kultur des Todes (62 ff.) und listet dann die verschiedenen massiven heutigen Bedrohungen des Lebens auf (soziale Verelendung, ökologische Schäden); ihnen wird das »Evangelium des Lebens« entgegengesetzt (70 ff.) und eine Ethik der Liebe zum Leben entfaltet. Die medizinische Ethik (88 ff.) behandelt vornehmlich Probleme am Lebensanfang und am Lebensende sowie Gesundheit und Krankheit. Undeutlich bleibt (auf 105) wie M. den rechtlichen Status und das Lebensrecht des Embryos beurteilt. Nach Überlegungen zur Lebenskraft in Gesundheit und Krankheit (10 7ff.) wird die »Spiritualität des Körpers« herausgestellt (120 ff.).
Das Kapitel III »Ethik der Erde« ist analog angelegt (127 ff.): Der Raum der Erde, wobei u. a. die Gajatheorie dargestellt wird, die Zeit der Erde mit der Auseinandersetzung um Schöpfungslehre und Evolutionstheorie, Evolution und Emergenz bilden die theore­tische Basis. Es folgen zwei praxisbezogene Paragraphen: § 3 Öko­-logie (150 ff.) und § 4 »Ethik der Erde« (167 ff.). Dazu wird jeweils als Kontrast ein Blick auf biblische Perspektiven eingeführt (z. B. Gottesbund, Sabbat). Im Abschnitt zur Ökologie ist erneut die Abhängigkeit vom Stand der Wissenschaft evident. M. ist auch hier um Ausgleich bemüht, wenn er eine »nichtanthropozentrische An­thropologie« fordert. (159) Leitgedanken sind ein alternativer Le­bensstil und eine Kultur der Solidarität. Gefordert wird ein Ausgleich zwischen globalisierender Uniformierung und der Bewahrung der regionalen Eigentümlichkeiten (Subsidiarität!) und da­mit der Vielfalt der Kulturen.
Kapitel IV »Ethik des gerechten Friedens« (185 ff.) ist bewusst als politische Ethik und nicht als Ethik des Staates und der Organisation von Macht und Recht konzipiert. Die »Eckpunkte der Urteilsbildung« setzen ein mit dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Gleichheit (186 ff.). Sodann folgt eine Besinnung auf »göttliche und menschliche Gerechtigkeit« (189 ff.). Leitgedanke ist ein »partei­ergreifendes Befreiungsethos für die Armen und die Erde« (197). Unter der Überschrift »Drachentöten und Friedenstiften im Christentum« (211 ff.) wird das Thema von Macht und Gewalt aufgegriffen. Eine zentrale Rolle spielt für M. das Widerstandsrecht. Freilich bleibt bei allem Bemühen um die Betonung des Vorrangs des Friedens undeutlich, wie er über eine Abschaffung des Militärs und einen absoluten Pazifismus denkt. Denn die »Lehre vom gerechten Krieg« (219 ff.) führt doch zu einer »christlichen Doppelstrategie für gerechten Frieden« (227 ff.). Kontrastethik und Verantwortungsethik sollen so vereinigt werden. Den Abschluss dieses Kapitels bildet eine Besinnung auf die Menschen- und Bürgerrechte und ihr Verhältnis zu Gottes Gerechtigkeit (241 ff.). Der Leitgedanke einer Person in Gemeinschaft ist durchaus erhellend und klärend.
Insgesamt finden sich in den drei konkreten Kapiteln mancherlei Einsichten und Anregungen, die Zustimmung unter Christen finden können und auch müssten.
Das kurze letzte Kapitel V »Freude an Gott. Ästhetische Kontrapunkte« (255–266) greift hingegen die geschichtstheologische Perspektive des Eingangskapitels kaum auf. Es setzt vielmehr einen Kontrapunkt, nicht nur mit dem Lachen Gottes, mit der Sabbatruhe Gottes, dem Osterjubel der Auferweckung Jesu Christi und des Friedens »mitten im Streit«. Auffallend ist hier, dass metaphorisch geredet wird und wohl auch werden muss. Ein Beispiel: »Gott wohnt in der Zeit. Der Sabbat ist die jüdische Kathedrale« (259). M. will alle unsere fünf Sinne – Fühlen, Schmecken, Riechen, Hören und Sehen – durch Spiritualität aufgeschlossen und »bewahrt« sein lassen. Im gesamten Buch ist »Ganzheit« ein Schlüsselwort.
M.s »Ethik der Hoffnung« trägt eine persönliche Note. Man spürt in ihr lebenslange Überlegungen und eigene Erfahrungen. Insofern ist sie eine gewichtige Stimme in der gegenwärtigen Debatte der Ethik, und zwar eine Stimme der Ermutigung. Im Kontext der Ethikdebatte stellen sich jedoch auch prinzipielle Anfragen an einen derartigen Ansatz. Einige dieser Anfragen seien genannt. Zu­nächst einmal: Man kann Ethik nicht nur auf Eschatologie gründen, sondern primär setzt sie eine Anthropologie voraus. Bei Luther war dies der Fall, denkt man an seine Unterscheidung von Person und Werk, Glaube und Handeln (gute Werke). Wohlgemerkt: Es geht anthropologisch um Unterscheidung, nicht um Trennung. Daraus folgt sodann die Notwendigkeit einer Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft, man kann auch sagen von Christsein und Humanität. Diese anthropologische Perspektive wird nicht eigens aufgenommen. Sodann bleibt das Verhältnis von politischer Macht, staatlicher Macht, auch internationaler Macht zur Gesellschaft außerhalb des Blickfeldes. Vorrang hat die Konzeption einer bewusst »christlichen« Ethik. Mit dieser Akzentsetzung verbinden sich offenbleibende Fragestellungen, wie der Umgang mit gesellschaftlichem und kulturellem Pluralismus, Toleranz, überhaupt die einer Kultur des Zusammenlebens. Solche Fragestellungen sind jedoch nicht mit der Programmatik einer christlichen Ethik zu lösen, sondern stellen die Aufgabe der kulturellen Vermittlung. Zudem sind die veränderten Einstellungen zu Leben, Leiblichkeit, Erde, Umwelt und Gesellschaft, genauso wie Religionskonflikte, nicht ausschließlich mithilfe der Eschatologie zu klären. Ihre Wurzeln sind Individualisierung, Pluralismus, eine freiheitliche Gesellschaft, auch die Forderung einer gewaltfreien Gesellschaftsordnung und der Kompromissfähigkeit sowie die Säkularität einer religiös und weltanschaulich pluralistischen Ge­sellschaft. Christliche Leitvorstellungen sind hier nicht dominant. Bemerkenswert ist ferner, wie wenig Aufmerksamkeit dem Phänomen des Bösen gewidmet ist. Und schließlich könnte man auch, in Anlehnung an das Glaubensbekenntnis, Eschatologie nach wie vor als Teil der Pneumatologie begreifen. Gleichwohl kann man in vielen Einzelfragen dieser Ethik zustimmen.
Abschließend: Müsste man nicht überhaupt die drei Zeitdimen­sionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedenken, denen korrespondierend Glaube, Liebe und Hoffnung entsprechen? Dann hätte freilich eine christliche Ethik der Hoffnung keine Sonderstellung und keinen Primat, zumal Hoffnung auch ein menschliches Existential ist. Die »Ethik der Hoffnung« kann zweifellos Impulse und Orientierungshilfe geben auf einer schwierigen Gratwanderung, bei der die Christenheit sich auf dem Weg zwischen einem kulturfeindlichen Fundamentalismus und einer völlig individualistischen Beliebigkeit sowie einem absoluten Relativismus in der ethischen Urteilsbildung zurechtfinden muss.