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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

590–591

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Funcke, Dorett, u. Petra Thorn [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die gleichgeschlecht­liche Familie mit Kindern. Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform.

Verlag:

Bielefeld: Transcript 2010. 494 S. m. Abb. 22,5 x 13,5 cm = Transcript Gender Studies. Kart. EUR 32,80. ISBN 978-3-8376-1073-4.

Rezensent:

Hartmut Kreß

In westlichen Gesellschaften hat sich seit den 1990er Jahren eine Öffnung zugunsten gleichgeschlechtlicher Lebensformen vollzogen. Aus ethischer Sicht stellen diese zuvor unüblichen Lebensformen gegenüber der bürgerlichen Ehe als dem Leitbild, das in Europa seit dem 19. Jh. maßgebend war, keine Verfallserscheinung und kein Defizit oder Schlechteres (peius), sondern etwas Neues und Anderes, ein aliud dar. Zutreffend geht auch der vorliegende Band von dieser Einschätzung aus. Das Buch wurde von der Familiensoziologin Dorett Funcke und der Familientherapeutin Petra Thorn ediert. Es enthält juristische, soziologische, medizinische, ethische, psychologische und therapeutisch-beratungsbezogene Beiträge. Im Schwerpunkt befasst es sich mit einem Sachverhalt, der meist noch zu wenig beachtet wird, nämlich mit gleichgeschlechtlichen, insbesondere lesbischen Partnerschaften mit Kindern.
Die Zahl der Kinder, die bei gleichgeschlechtlichen Partnerinnen oder Partnern aufwachsen, hat auch in der Bundesrepublik Deutschland zugenommen (ca. 20.000 Kinder [B. Eggen, 50]). Seit 2004 kann ein Kind, das eine Partnerin/ein Partner in die gleichgeschlechtliche Beziehung eingebracht hat, von der oder dem jeweils anderen adoptiert werden. Aufgrund einer solchen Stiefkindadoption vermag das Kind bei den beiden gleichgeschlechtlichen El­ternteilen rechtlich gesichert heranzuwachsen. Das Buch in­-formiert ebenfalls über gleichgeschlechtliche Pflegefamilien (D. Funcke, 321–366). Lesbischen Paaren steht aber noch ein weiterer Weg zur Verfügung, um eine Familie mit Kindern zu gründen. Sie können die Samenspende eines Dritten nutzen, um ihre intentionale Elternschaft zu verwirklichen und zu einem eigenen leiblichen Kind zu gelangen. In diesem Zusammenhang kann es für sie sinnvoll sein, die ärztliche Unterstützung der Reproduktionsmedizin in Anspruch zu nehmen (zu den verschiedenen reproduktionsmedizinischen Optionen: Th. Katzorke, 101 ff.).
In Deutschland hat man den Wunsch lesbischer Paare nach einem eigenen Kind immer wieder skeptisch beurteilt. Der wesentliche Einwand lautete, das Heranwachsen in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft gefährde das Kindeswohl. Empirische Untersuchungen haben den Einwand jedoch falsifiziert. Dies wird im vorliegenden Band – erneut – ausführlich dargelegt (zusam­menfassend z. B. F. Wapler, 130 ff.). Lesbischen Paaren liegt durchweg an einer bewusst verantwortlichen, verlässlichen, auf die Selbständigkeit und die eigene Entfaltung ihrer Kinder abzielenden Erziehung. Dem Kindeswohl widmet sich das Buch mithilfe kriterialer Ausdifferenzierungen (127 ff.) sowie rechtsvergleichend (184. 209 ff.).
Die Zurückhaltung, die die hiesige Rechtspolitik und die Bundesärztekammer (N. Dethloff, 169; vgl. 141) gegenüber dem Kinderwunsch lesbischer Paare an den Tag legen, lässt sich jedenfalls nicht mehr rechtfertigen. Die Beiträge des Sammelbandes gelangen aus den jeweiligen fachwissenschaftlichen Ansätzen heraus mit stichhaltigen Argumenten zu dem Fazit, dass es ethisch legitim ist, wenn Reproduktionsmediziner den Kinderwunsch, der in einer stabilen lesbischen Partnerschaft besteht, ärztlich begleiten und ihn unterstützen. Eingrenzend wird betont, dass die Kinder, die in lesbischen Familien durch Samenspende erzeugt werden, ein Recht auf Kenntnis ihrer genetischen Herkunft haben (145 u. ö.). Deshalb sollten Samenspenden nicht anonym erfolgen, wie es in Belgien oder – ohne ärztliche Begleitung – in Deutschland zurzeit oft der Fall ist ( M. Rupp/A. Dürnberger, 73). In Großbritannien wurde die anonyme Samenspende 2005 untersagt und für lesbische Paare stattdessen ein personalisiertes Verfahren eingeführt. Wichtig ist, dass der Aufsatzband überdies auf die Notwendigkeit kompetenter Beratung aufmerksam macht. Zu den sensiblen Problemen lesbischer Familien gehört das Verhältnis der Frauen und des Kindes zu dem genetischen Erzeuger, dem Samenspender. Lesbische Paare sollten vor der Umsetzung eines Kinderwunsches über medizinische, rechtliche und psychosoziale Aspekte und über spätere potentielle Konfliktkonstellationen vorsorglich informiert und eingehend beraten werden (hierzu im Buch die umfangreichen Kapitel »Psychologie« und »Beratung und Therapie«).
Durch die Erzeugung und das Heranwachsen von Kindern in lesbischen Partnerschaften ist in der Gegenwart eine Lebensform entstanden, die soziokulturell neuartig ist. Im angelsächsischen Bereich spricht man von »geplanten Inseminationsfamilien« (291) oder von »planned lesbian families«/»geplant lesbischen Familien«. Viele Staaten – u. a. skandinavische Länder, Belgien, die Niederlande, England, Spanien, Kanada, Südafrika, Neuseeland oder Bundesstaaten der USA – haben die künstliche, mit ärztlicher Assistenz vollzogene Befruchtung bei lesbischen Paaren rechtlich legalisiert (172 f.).
In Deutschland bestehen in verschiedener Hinsicht, z. B. zu Einzelfragen der Samenspende (P. Thorn, 373 f.), noch Rechtsunsicherheiten. Eizellspenden, die eventuell auch für lesbische Paare infrage kommen könnten (107 f.380 f.), sind im Inland sogar verboten. Es liegt am Gesetzgeber, für Rechtssicherheit zu sorgen und überzogene Verbote zu korrigieren. Interessant ist, dass sich trotz der herkömmlichen religiösen Vorbehalte sogar Israel relativ aufgeschlossen verhält. Dort können lesbische Paare eine künstliche Befruchtung vornehmen lassen ( E. Blyth, 205), genauso wie für männliche Partner die Adoption eines Kindes möglich ist (176). Sozialethisch und familiensoziologisch wird am Phänomen der geplant lesbischen Familien deutlich, dass sich die tradierte, vor allem im Naturrecht verankerte Ansicht nicht mehr aufrechterhalten lässt, nur heterosexuelle Partnerschaften seien für Kinder »offen« und allein sie seien »von Natur aus« auf Kinder angelegt. Auch bei lesbischen Frauen ist ein »natürlicher« Kinderwunsch vorhanden. Er beruht auf Motiven, die denen heterosexueller Frauen vergleichbar sind.
Der Sammelband ist breit konzipiert. Religiöse Traditionen und Positionen werden aber bestenfalls beiläufig erwähnt. Sofern dies überhaupt der Fall ist, wird auf die ablehnende Haltung der Religionen hingewiesen (202). Es wäre durchaus sinnvoll gewesen, derartige Hinweise stärker zu vertiefen, um sie dann auch eingehender problematisieren zu können. So hält die römisch-katholische Kirche gleichgeschlechtliche Lebensformen bis heute für naturrechtlich inakzeptabel. Das katholische Kirchenrecht verbietet sie. Die negativen Konsequenzen sind weitreichend. Sofern Menschen, die bei einem katholischen Arbeitgeber beschäftigt sind, in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben, oder wenn Katholikinnen eine außerkörperliche Befruchtung nutzen, drohen ihnen sogar arbeitsrechtliche Sanktionen. Im Licht der persönlichen Grund-, Schutz- und Freiheitsrechte sind derartige Restriktionen und Diskriminierungen rechtlich und ethisch nachdrücklich zu kritisieren. Evangelische Kirchen haben sich sehr zögernd verhalten, reagierten dann aber tendenziell toleranter als die katholische Seite. Insgesamt besteht bei den christlichen Kirchen und sogar in der akademischen Theologie zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, erst recht zu Partnerschaften mit Kindern, immer noch großer Informations- sowie gedanklicher Aufholbedarf. Das Buch sollte in dieser Hinsicht rezipiert werden.