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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

86–88

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Gruber, Franz

Titel/Untertitel:

Diskurs und Konsens im Prozeß theologischer Wahrheit.

Verlag:

Innsbruck-Wien: Tyrolia 1993. 350 S. 8o = Innsbrucker theologische Studien, 40. Kart. öS 350.­. ISBN 3-7022-1881-5

Rezensent:

Reinhard Brandt

Diese Dissertation (Katholisch-Theologische Hochschule Linz, 1991) bietet insgesamt eine erfreuliche Lektüre. Einleitend gibt Gruber einen kurzen Überblick über die wahrheitstheoretische Diskussion in unserem Jh. Er führt die bekannten Argumente (insbesondere den Zusammenhang von Sprache und Wahrheit) gegen eine Korrespondenztheorie der Wahrheit vor und schildert den Gang der Debatte von der semantischen Theorie über die Redundanztheorie, über sprachanalytische Theorien und die Kohärenztheorie der Wahrheit zur Intersubjektivitätstheorie, auf der schon hier ein besonderer Schwerpunkt liegt. Angesichts dessen läßt sich auch in der Theologie "Wahrheit" nicht mehr als zeitlos gültige Erkenntnis in ontologischen Seinsstrukturen verstehen. Vielmehr ist (wie durch Dalferth) durch die Kritik an den philosophischen Positionen der sinnvolle Wahrheitsanspruch von Glaubensäußerungen herauszuarbeiten, auf die praktische Relevanz von Glaubenswahrheit zu achten und "Konsens" als das entscheidende Kriterium theologischer Wahrheit zu erörtern.

Im zweiten Kapitel (46-149) verfolgt G. an drei Beispielen die Krise des theologischen Wahrheitsverständnisses im 20. Jh. Im Modernismusstreit (46) wurde in der katholischen Theologie erstmals das neuscholastische, dogmatische Wahrheitsverständnis durch die Reflexion auf die Geschichtlichkeit menschlichen Sinnverstehens in Frage gestellt. In der wissenschaftstheoretischen Diskussion (82) wurde von Grund auf bezweifelt, daß religiöse und theologische Aussagen wahrheitsfähig (z. B. verifizierbar) sein können; G. untersucht die theologischen Antworten, die Pannenberg und Peukert zu dieser Diskussion beigesteuert haben. Ein drittes, wieder innerkatholisches Beispiel (128) ist die Debatte, inwiefern Glaubensaussagen unfehlbar definiert werden können (Küng). G. zeigt, daß in allen drei Problemkomplexen eine Lösung nicht an einer Reflexion über die Geschichtlichkeit und die Kommunikationsstruktur der Kirche sowie über den Praxisbezug des Glaubens vorbeigehen kann.

Im dritten Kapitel (150-254) zeichnet G. das Wahrheitsverständnis Karl Rahners nach. Insgesamt ist für Rahner "Wahrheit" ein "transzendentalontologischer Begriff", sofern "jede Wahrheitsreflexion zurückzufragen hat nach den Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis und Handeln" (249), speziell nach den Bedingungen im Erkenntnisakt des Subjektes. Daher tritt Wahrheit den Menschen nicht heteronom gegenüber, sondern wird als das Tiefste der menschlichen Existenz verstanden. ­ Philosophisch vertritt Rahner eine Adäquationstheorie und erläutert den Begriff "Übereinstimmung" mit einem ontologischen Begründungsmodell, mit dessen Plausibilität sein Wahrheitsverständnis steht und fällt. Theologisch denkt er Wahrheit als Selbstmitteilung Gottes, die im Wort als symbolhaften und wirksamen Zeichen von Heil mit dem Erkenntnis- und Freiheitsvollzug des Menschen vermittelt ist. In späteren Schriften, etwa zum Dialog mit den Weltreligionen, finden sich Momente, die einem kommunikationstheoretischen Wahrheitsverständnis entsprechen; Wahrheit ist nicht mehr einfach gegeben, sondern aufgegeben.

Im vierten Kapitel (255-325) entfaltet G. sein eigenes Verständnis: Wahrheit durch Diskurs und Konsens. Er weist zunächst darauf hin, daß alle Äußerungen als Sprechakte immer sowohl performative als auch propositionale Bestandteile haben (265). Im engen Anschluß an Habermas entfaltet er dann (269) die Konsenstheorie der Wahrheit und die formalen Eigenschaften des idealen Diskurses, in dem allein in kooperativer Wahrheitssuche problematisierte Geltungsansprüche geprüft werden können. Kandidaten für jene Geltungsansprüche sind religiöse Äußerungen, die als symbolischen Deutung der Welt (sie beschreiben die Welt, regulieren das Handeln, leiten zu expressivem Verhalten; 293) und von ihrer Funktion her (Tröstung, Verheißung von Sinn; 287) nicht empirischen Rationalitätskriterien genügen können und brauchen (z.B. 298, 307). Dabei versteht sich christlicher Glaube als Anredeerfahrung (299): In der Anrede durch Gott in Jesus von Nazareth entsteht eine Beziehung, in der Gott und sein Handeln nicht objektivierbar, aber identifizierbar ist (301).

G. faßt als Ergebnis seiner Untersuchung zusammen (329 f.): "Das theologische Wahrheitsverständnis ist mittels einer transzendental-pragmatischen Diskurstheorie von Wahrheit rekonstruierbar... Wahrheit ist in diesem Konzept ein Geltungsanspruch, für den ein Sprecher jene Garantien der Einlösbarkeit mitbringt, die besagen, daß ein behaupteter Sachverhalt auch tatsächlich besteht... Ein unabschätzbarer Vorteil dieser Wahrheitstheorie ist es, daß sie die Wahrheitsidee nicht an empiristische Verifikations- oder Falsifikationskriterien bindet, sondern an Akzeptabilitätsbedingungen, die jeweils sprecher- und hörerbedingt, also kommunikationsabhängig sind. Schließlich ist die Diskurstheorie differenziert genug, um begründete Konsense von herkömmlichen Konsensen unterscheiden zu können." Zugleich betont G., daß er "das theologische Konsens-Konzept bleibend gebunden sieht an den rein rational nicht letztbegründbaren Anspruch, daß Gott sich im Evangelium des Alten und Neuen Testamentes als versöhnende und aus dem Tod rettende Heilsmacht kundgetan hat" (331).

Daß Intersubjektivitätstheorien einen wesentlichen Aspekt von "Wahrheit" beschreiben, ist nicht zu bestreiten und wird von G. zu Recht herausgearbeitet. Trotzdem fordert solch ein Buch zur Auseinandersetzung, zum kritischen Diskurs heraus. Ich greife folgende Fragen heraus:

Zu Recht betont G. noch mehr als Habermas selbst, daß die Aspekte "Korrespondenz" und "Kohärenz" in die Konsenstheorie zu integrieren sind (z.B. 319, 330). Um zu einem begründeten Konsens zu kommen, ist nicht nur die ideale Diskurssituation, sondern sind auch die Argumente wichtig, die den propositionalen Gehalt einer Äußerung in ein Gesamtsystem von sich kohärenzial erweisenden Sätze (bzw. in ein solches Symbolsystem) eingliedern. Deshalb scheint mir Habermas’ Intersubjektivitätstheorie (ISK-TW) eher "eine sprachpragmatisch-intersubjektive Version der Kohärenztheorie der Wahrheit" zu sein.(1) Wenn begründete theologische Aussagen schriftgemäß, traditionsorientiert und zeitbezogen sein müssen, dann wird auch im praktischen Vollzug der Begründung auf Kohärenz abgehoben.

Daß die "ideale Sprechsituation" kein empirisches Phänomen, sondern eine in Diskursen unvermeidliche Unterstellung mit einem "transzendentalen Schein" ist, sagt auch Habermas (vgl. 277). Trotzdem äußert sich in der Hoffnung auf den Konsens eine bemerkenswert optimistische Anthropologie. In seinen Überlegungen zur theologischen Rezeption der Diskurstheorie (279 ff.) greift G. diese Frage nicht auf, obwohl ja der Widersacher nach Joh 8,44 der "Vater der Lüge" ist. Wenn G. die ideale Gleichheit im Diskurs und den universalen Konsens ungebrochen mit dem Eschaton identifiziert (323 u.ö.), drängt sich die Frage auf, ob denn mit der Kommunikationsstruktur christlicher Wahrheit schon über die Allversöhnung entschieden ist.

G. spricht nicht von Verifikation, aber von Akzeptabilitäts- und Glaubwürdigkeitsbedingungen. Jene Einsicht, daß Glaube oft angefochten ist, daß der Christ wider seine Erfahrung an die Verheißung glaubt (experientia contra experientiam), jene Bitte "Ich glaube, hilf meinem Unglauben", jene Entdeckung, daß Gottes Gnade und der Zuspruch der Rechtfertigung gerade nicht an meiner Glaubwürdigkeit hängen, müßte auch im Blick auf die Kommunikationsstruktur christlicher Wahrheit entfaltet werden.

G. beschreibt Probleme, die die katholische und die evangelische Theologie gemeinsam betreffen, und tut dies sachgemäß und fair. Seine Andeutungen zu den Applikationen der Konsenstheorie, etwa seine Kritik an einem hierarchisch strukturierten Lehramt, bleiben indes ganz dem katholischen Kontext verhaftet. Die evangelischen Kirchen haben seit CA VII und XXVIII andere Kommunikationsstrukturen. Trotzdem ist auch hier Positionalität notwendig; Lehrbeanstandungsverfahren müssen möglich bleiben. Ein Blick darauf hätte die Untersuchung erweitert.

G. versucht, für die (katholische) Theologie Anschluß zu finden an die moderne wahrheitstheoretische Debatte. Postmoderne Philosophen hingegen hinterfragen das Konzept der einen Wahrheit, um die es auch in Diskurs und Konsens geht. Über Lyotards Betonung des Dissenses wird nur am Rande (14) berichtet. Gerade wenn man im Gegenüber dazu den Konsens neu schätzen gelernt hat, wünschte man sich weitere Überlegungen in diese Richtung. Andererseits: Eine Dissertation ist keine Summa.

Schließlich bleibt die Frage, was eigentlich das Explikandum von G.s Überlegungen ist.(2) Deutlich ist, daß er eine kriteriologische Theorie der Wahrheit vorführt: "Der universale und deshalb ideale Konsens ist dann in der Tat das letzte Wahrheitskriterium." (319) Der ideale Konsens ist das Kriterium, mit dem entschieden wird, ob Wahrheit vorliegt. Schon bei der anderen Frage, auf Grund welchen Verfahrens (via inveniendi) Wahrheit entdeckt, erschlossen werden kann, nennt G. zu Recht nicht mehr den Konsens als einziges Kriterium: "Im Unterschied zur Philosophie geht Theologie von einem konkreten Freiheitsereignis als religiöser Erfahrung (Offenbarung) aus ­ und bleibt auch in ihrer Reflexivität daran gebunden" (316).

Auch an anderen Stellen schreibt G. über den Zusammenhang von Wahrheit und Erfahrung; das Explikandum ist die Bedingung von Wahrheit: "Die Überprüfbarkeit dieser Bedingungsfunktion der Wahrheit kann aufgrund ihrer Transzendentalität nicht ohne vorherigen Vollzug der Aussage durch eine Sprechhandlung erfolgen" (297). ­ Wieder an anderen Stellen ist die Relevanz von Wahrheit das Explikandum, wenn etwa die Funktion religiöser Äußerungen für die Gesellschaft beleuchtet wird (284 ff.)

G. selbst sieht die Schwierigkeit, das Explikandum einer Theorie der Wahrheit zu bestimmen (297: Ist Konsens "Bedingung, Kriterium oder definiens von Wahrheit?"), verfolgt diese Frage aber ­ so weit ich sehe ­ nicht weiter. Ob G. auch eine definitionale Theorie von Wahrheit intendiert, ist mir nicht klar geworden. Auf jeden Fall wäre die Zusammenfassung am Schluß durch einen systematischen Überblick über die Explikanda seiner Überlegungen zur Diskurstheorie der Wahrheit sehr bereichert worden.

Daß das Buch zu solchen Überlegungen, Wünschen und Fragen anregt, belegt einmal mehr seinen Wert.

Fussnoten:

(1) Vgl. L. Bruno Puntel: Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie. Eine kritisch-systematische Darstellung. (= EdF, 83) Darmstadt 1978, S. 164.
(2) Zum folgenden vgl. wiederum Puntel, a.a.O., S. 3-5.