Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

584–586

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Redeker, Mirjam-Christina

Titel/Untertitel:

Wahrnehmung und Glaube. Zum Verhältnis von Theologie und Ästhetik in gegenwärtiger Zeit.

Verlag:

Berlin/New York: de Gruyter 2011. XII, 409 S. 23,0 x 15,5 cm = Theo­logische Bibliothek Töpelmann, 155. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-024782-4.

Rezensent:

Martin Fritz

Nach den goldenen Anfängen im 18. Jh. hat die Ästhetik seit einigen Jahrzehnten innerhalb der protestantischen Dogmatik wieder Konjunktur. Die Motive, Methoden und Ergebnisse der neueren Rezeption jener »Wahrnehmungswissenschaft« sind angesichts der verwickelten Ästhetikdiskurse auf der einen Seite und der unterschiedlichen theologischen Rezeptionsstränge auf der anderen Seite nicht leicht anzugeben. Eine Zwischenbilanz der fraglichen Entwick­lungen ist daher ein echtes wissenschaftliches Desiderat, aber auch ein äußerst anspruchsvolles Unterfangen. Mirjam-Christina Re­-deker hat mit ihrer Dissertation – unter der Betreuung von Michael Trowitzsch angefertigt und im Wintersemester 2007/08 von der Theologischen Fakultät der Universität Jena im Fach Systematische Theologie angenommen – einen entsprechenden Versuch gewagt.
Ihr Werk gliedert sich in einen rekonstruktiven (A.) und einen konstruktiven Teil (B.). Teil A. (11–188) bietet in etwas eigenwilliger Auswahl und Anordnung »Theologische Modelle der Verhältnisbestimmung von Theologie und Ästhetik« dar. Zuerst werden der Tübinger Emeritus Eberhard Jüngel und der Berner Privatdozent Matthias Zeindler nebeneinander als Vertreter einer offenbarungstheologischen Verarbeitung des Schönheitsbegriffs vorgestellt. Die zweite Gruppe bilden Gerhard Ebeling, Oswald Bayer, Hermann Timm und Eilert Herms, die – recht vage – einer »Theologischen Ästhetik als Wahrnehmungstheorie« subsumiert werden. Den Ab­schluss machen Wilhelm Gräb, Ulrich Barth und Dietrich Korsch als Urheber subjektivitätstheoretisch ansetzender Reflexionen über die Beziehung von ästhetischer und religiöser Erfahrung.
Leider gelingt es der Vfn. nicht, das unübersichtliche Terrain anhand der genannten Autoren genauer zu kartographieren. Dazu hätte es vor allem einer konzentrierteren Darstellungsregie be­durft. Die verhandelten Texte werden kaum thematisch sortiert, auf bestimmte Fragen hin fokussiert, innerhalb von Theoriekonstellationen situiert, sondern in irritierend sprunghafter Weise referiert, ohne dass dabei unmittelbar eine strukturierende Ge­samtperspektive erkennbar wäre.
Zudem ist die Arbeitsweise der Vfn. mitunter ärgerlich unsolide. So setzt sich mindestens ein Absatz (180, Abs. 3) vollständig aus Sätzen zusammen, die sich Wort für Wort bereits 30 Seiten zuvor (152) finden. Sie sind offenbar im Copy-and-Paste-Verfahren aus dem darstellenden Teil ins Resümee von A. III. hinüberkopiert worden, freilich in neuer Anordnung: Satz 1 (»Was ein …«) = S. 152, Z. 15–19; Satz 2 und 3 (»Daraus leitet …«) = Z. 4–9; Satz 4 (»Damit zeigt …«) = Z. 19–21. Ähnlich verfährt Vfn. auch auf S. 181 (vgl. 173 f.; weiter wurde nicht geprüft).
Insgesamt macht Teil A. den Eindruck einer arg unambitionierten akademischen Pflichtübung. Demgegenüber ist Teil B. (191–353: »Zum Verhältnis von theologischer und ästhetischer Hermeneutik«) der interessantere Part. Ihm obliegt es, Leitlinien für eine theologische Ästhetik zu entwickeln. Auch hier entsteht zwar nicht wirklich ein konturiertes Bild. Gleichwohl ist die Lektüre nicht ohne Ertrag. Immerhin lassen sich aus den Ausführungen Grundmotive erheben, die aus der Perspektive einer dezidierten Wort-Gottes-Theologie – der die Vfn. ebenso zugehört wie ihre wichtigsten Bezugsautoren (an erster Stelle G. Ebeling, dann O. Bayer, ansonsten u. a. Walter Mostert und Ulrich H. J. Körtner) – den Ausschlag für die Auseinandersetzung mit der Ästhetik gegeben haben mögen.
Zunächst ist ein apologetisches Motiv namhaft zu machen. Als Wissenschaft sinnlicher, überbegrifflicher Erfahrung wird die Ästhetik als Verbündete gegen die moderne »Monarchie« (291) der Vernunft in Stellung gebracht, um den rationalen »Rechtfertigungsdruck« (275) zu mildern, der auf Glaube und Theologie lastet. Die Allianz mit jener Erfahrungswissenschaft des Unaussprechlichen, so die Einschätzung der Vfn., »befreit die Theologie von dem Zwang, die Glaubensvorstellungen rational zu plausibilisieren […] Sie befreit also die Theologie von dem Anspruch, eine rein ratio­nale Wissenschaft zu sein« (356).
Zugleich beruft sich die Theologie auf die Ästhetik als Einspruchsinstanz gegen die »Eindimensionalität des neuzeitlichen Erfahrungsverständnisses« (188). Als Alternative zum empirischen, auf die Sphäre des Endlichen restringierten Konzept der modernen Wissenschaften erlangt die Theologie Zugang zu einem offeneren Begriff von Erfahrung, der vermöge gewisser Strukturmomente des Ästhetischen (Unterbrechung, Widerfahrnis, Transzendierung) eher Raum lässt für die Vorstellung eines »Einbruch[s] transzendenter Wirklichkeit« (245).
Damit ist der eigentliche Grundimpuls für das offenbarungstheologische Interesse an der Ästhetik berührt. Er dürfte in der Diagnose eines »Erfahrungsdefizits« (Ebeling) innerhalb des evange­-lischen Christentums zu erblicken sein. In selbstkritischer Wendung gegen die Tendenz zur lehrhaft-abstrakten Auffassung des Glaubens sucht die Wort-Theologie diesem »im Gespräch mit Kunst und Ästhetik« eine »ästhetische Dimension« (356) und damit eine neue Erlebnissphäre zu erschließen. Dabei schreckt sie auch nicht davor zurück, die einst verfemte ›Religion‹ als Erfahrungsreservoir des Glaubens (begrenzt) zu rehabilitieren. Um dem drohenden »Erfahrungsverlust« (356) zu wehren, sollen dem Glauben durch die Anknüpfung an gewisse ästhetische und religiöse Erfahrungen neue sinnliche Erlebnisqualitäten (Ahnung, Geheimnis, Aura, Atmosphäre, Präsenz) hinzugewonnen werden. Im Zuge dessen werden ästhetische Gebilde gar unter einen erweiterten Begriff des ›Wortes‹ subsumiert (290) und als potentielle Medien der Offenbarung eingestuft (277).
Die Ästhetikrezeption steht, so lässt sich resümieren, gleichsam im Dienste einer erfahrungstheologischen Auflockerung der Wort-Gottes-Theologie. Das kategoriale Grundgerüst dieser Theologie bleibt davon unberührt. So gibt etwa der Gedanke, dass auch die theologische Ästhetik auf die Elementarbegriffe ›Sünde‹ und ›Rechtfertigung‹ zu gründen sei, gewissermaßen das dogmatische Ostinato der besprochenen Arbeit ab. In diesem Horizont wird die Kunst der Kategorie des ›Gesetzes‹ zugeordnet: Theologisch relevant gilt sie der Vfn. wesentlich als Ausdruck der Sünde, Fragmentarität und Erlösungsbedürftigkeit des menschlichen Lebens, womit sie – »ubi et quando visum est deo« (148) – auf die durch Jesus Christus gewirkte Erlösung transparent wird.
Nur eine sachliche Anfrage soll zum Schluss formuliert werden. Sie betrifft Grundanlage und Denkstil der skizzierten Wort-Gottes-Ästhetik. So sehr die anvisierte Öffnung zur Erfahrung zu begrüßen ist, so wenig überzeugt doch die Art und Weise der theolo­gischen Inanspruchnahme ästhetischen Denkens. Statt unvor­-eingenommener »Wahrnehmung« der betreffenden Reflexionen herrscht fast durchgehend das Verfahren zielgerichteter Ideenverwertung. Weil auf jeder Seite fixe dogmatische Prämissen die Be­dingungen diktieren, kommt es nicht zu einer Begegnung mit instruktiven Gedanken, sondern nur zu einem oberflächlichen Theorieimport, dessen Plausibilität sich außerhalb der theologischen Zirkel in engen Grenzen halten dürfte.
Noch vor den sachlichen sind allerdings die handwerklichen Schwächen des besprochenen Buches zu bemängeln. Die Aufgabe, das »Verhältnis von Theologie und Ästhetik in gegenwärtiger Zeit« aufzuklären, ist schon unter darstellerischen Gesichtspunkten nicht erfüllt. Ihre Lösung bleibt Desiderat.