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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

579–580

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Zwahlen, Regula M.

Titel/Untertitel:

Das revolutionäre Ebenbild Gottes. Anthropologien der Menschenwürde bei Nikolaj A. Berdjaev und Sergej N. Bulgakov.

Verlag:

Münster/Wien/Berlin: LIT 2010. 397 S. 23,3 x 16,1 cm = Syneidos, 5. Kart. EUR 31,90. ISBN 978-3-643-80067-1.

Rezensent:

Stefan Reichelt

Nach Studien der Slavistik, Kulturphilosophie und Politikwissenschaften Ost- und Ostmitteleuropas verfasste Regula Zwahlen die vorliegende, den russischen Religionsphilosophen Nikolaj A. Berdjaev und Sergej N. Bulgakov gewidmete Arbeit. Betreut wurde sie von Edward M. Świderski, Professor für Kulturphilosophie und Ästhetik, und Barbara Hallensleben, Professorin für Dogmatik. 2009 nahm das Departement für Philosophie der Universität Freiburg (Schweiz) die Arbeit als Dissertation an.
Fokus der Dissertation ist der Leitbegriff der Menschenwürde. Die »Verteidigung der Würde des Menschen und dessen geistiger Freiheit [ist] der gemeinsame Nenner …, der ihrem gemeinsamen Anliegen überzeugende Kontinuität verleiht und weiterhin eine politische Dimension enthält« (101). Den übergeordneten In­terpretationsrahmen des Wirkens der Religionsphilosophen bildet das 20. Jh., zu dessen Vordenkern sie gehören. Der religiöse Personalismus Berdjaevs und Bulgakovs sowie ihre orthodoxe Spiritualität in kritischer Distanz zum atheistischen Marxismus in Verbindung mit einer neuen Wertschätzung der Menschenrechte, dem Zentrum wertphilosophischen Interesses nach dem Zweiten Weltkrieg und später im KSZE-Prozess, trugen u. a. durch den Menschenrechtsartikel der Schlussakte des KSZE-Prozesses maßgeblich zur Erosion des Sowjetsystems bei (14 f.).
Nach einleitenden Bemerkungen im ersten Kapitel (13–43) zu Forschungslage und methodischem Design werden im zweiten die parallelen, wenn auch über weite Strecken nicht spannungsfreien Lebenswege Berdjaevs und Bulgakovs mit beachtlichem Einfühlungsvermögen und überzeugender Detailkenntnis in das geis­tesgeschichtliche Kolorit eingebettet. U. a. geht Z. auf das frühe ökumenische Engagement der Religionsphilosophen und ihre Förderung durch die YMCA (Young Men’s Christian Association) ein.
Es folgen fünf inhaltsreiche Kapitel: III. Philosophische Literaturkritik: Dostoevskij und Tolstoj (111–143); IV. Die religiös-philosophischen Sammelbände (145–198); V. Die Anthropologie Nikolaj Berdjaevs (199–268); VI. Die Anthropologie Sergej Bulgakovs (269– 257) sowie VII. Das antinomische »Und«: Schlussfolgerungen (359–367). Vom weiten Blick in die Forschungslandschaft zeugt das Literaturverzeichnis. Ein Namenregister (395–397) rundet die Studie ab.
Hinlänglich werden Berdjaevs und Bulgakovs reiche Œuvres betrachtet. Leider vergeblich sucht man die Bibliographien der Re­ligionsphilosophen Tamara Klépinine (Bibliographie des œuvres de Nicolas Berdiaev, Paris 1978; 483 Titel), und Kliment Naumov (Bibliographie des œuvres de Serge Bulgakov, Paris 1984; 413 Titel). So stellt sich die Frage nach Z.s Kriterien für die Auswahl verwendeter Schriften. Auch überzeugt das Übersetzungsangebot nicht in jedem Fall, wenn etwa » внешний луг« als »Frühlingswiese« (45, Anm. 1) und »подвиг« als »Wagemut« (181, Anm. 3) wiedergegeben werden. Die bibliographischen Angaben lassen nicht immer die gebotene Sorgfalt erkennen (detaillierte Auflistungen können beim Rezensenten abgerufen werden). Neben formalen Fragen sei auch auf inhaltliche hingewiesen: Vergeblich sucht man eine Einteilung in Schaffensphasen. Sollten die bewegten Lebenswege der Religionsphilosophen keine nachvollziehbaren Spuren in deren Denken hinterlassen haben?
Angeboten hätte sich etwa das von Roman Rössler in seiner Heidelberger Dissertation, Das Weltbild Nikolai Berdjajews. Existenz und Objektivation (Göttingen 1956), entwickelte Modell einer vor- und einer nachrevolutionären Periode, wobei erstere sich noch einmal in Mittel- und Spätperiode unterteilen lässt (7, Anm. 1). Alternativ benennt Vasilij V. Zen’kovskij in seiner – von Z. zitierten – Geschichte der russischen Philosophie (История русской философии. 2. izd. t. 2. Pariž 1989, 298–318) vier Perioden, die sich sogleich als Themen charakterisieren lassen: 1. Das ethische Thema; 2. Der religiös-mystische Um­bruch; 3. Die Historiosophie und 4. Der Personalismus. Auch die Stellung der Schriften im Gesamtwerk bleibt nahezu unbeachtet. So bezeichnete Berdjaev die von Z. beinahe unkommentiert zitierte »Philosophie der Ungleichheit« (Философия неравенства) in seiner philosophischen Autobiographie »Selbsterkenntnis« als »ungerecht« und distanzierte sich von ihr mit den Worten: »Zu Beginn des Jahres 1918 schrieb ich das Buch ›Die Philosophie der Ungleichheit‹, ein Buch, das ich nicht liebe; ich halte es in vielem für ungerecht, und außerdem gibt es meinen Gedanken unrichtigen Ausdruck. Während die einen es mir zum Vorwurf machten, daß ich dieses Buch geschrieben hatte, machten mir die anderen den Vorwurf, daß ich es widerrufen hatte. Es muss aber gesagt sein, daß ich in diesem ganz und gar emotionalen Buch, einer stürmischen Reaktion auf jene Tage, meiner Vorliebe für die Freiheit treu blieb.« (Darmstadt/Genf 1953, 255 f.)
Ebenso hätte man zu weiteren Fragen gern mehr erfahren, wie z. B. zur Auseinandersetzung der Religionsphilosophen mit dem deutliche Gemeinsamkeiten aufweisenden Denken Rudolf Steiners und der in Russland zu jener Zeit aufkommenden Anthroposophie. Obwohl das Verhältnis Berdjaev-Steiner wie auch das Verhältnis Bulgakov-Steiner immer wieder berührt wird (166 f. 171, Anm. 33 u. ö.), finden sich doch kaum Ausführungen dazu. Heranziehen lassen hätten sich etwa Victor B. Fedjuschin, Russlands Sehnsucht nach Spiritualität (Schaffhausen 1988, 157–174), oder die Dissertationsschrift Renata von Maydells, Vor dem Thore: ein Vierteljahrhundert Anthroposophie in Russland (Bochum 2005), mit den einschlägigen Kapiteln Nikolaj Berdjaev (254–264) und Sergej Bulgakov und Pavel Florenskij (264–269).
Zudem lässt sich der Verdacht ungleich verteilter Sympathien schwer zerstreuen. Nicht selten erscheint Bulgakov als Folie für Berdjaev. Ein Beispiel mag das illustrieren: »Im Verhältnis zu Solov’ev zeigt sich Berdjaevs Tendenz einer apokalyptischen Haltung im Gegensatz zur weltbejahenden Perspektive Bulgakovs.« (158) Ermüdend-stereotype Kritik findet sich u. a. auf den Seiten 216 f. 220.228.236.241.270.279. So gibt etwa das Fazit des Berdjaev gewidmeten Kapitels (268) eher Berdjaev-Kritik als Berdjaev selbst wieder. Sind auch die Schwierigkeiten bezüglich seiner »Lehre vom Un­grund« und vom »ohnmächtigen Gott« nicht zu Unrecht benannt, möchte der Rezensent doch fragen, welche dem modernen Menschen plausible Antwort auf die quälenden Fragen nach »Gottes Gerechtigkeit« angesichts »des Bösen« im 20. Jh., wie Genozid und Weltkrieg, Bulgakovs Denken bereithält, ungeachtet dessen, dass sich sein Entwurf zweifelsohne leichter mit christlichen Traditionen harmonisieren lässt. Handelt es sich bei diesem Interpretament um eine Unzulänglichkeit in Berdjaevs Denken oder könnte es auch komplementär zu Bulgakovs Entwurf gesehen werden, wie Z. im siebenten Kapitel nahelegt?
Ungeachtet aller Desiderate und Fragen hat Z. eine bemerkenswerte Studie aus der Literatur mehrerer Sprachen erarbeitet, die dem Ursprung beider Religionsphilosophen Rechnung trägt, u. a. indem russische Titel in Umschrift lateinischer Buchstaben mit deutscher Übersetzung angeführt werden. Souverän wird der Leser durch die Ideengeschichte geleitet und passiert wesentliche Stationen. Dennoch erscheinen einzelne Aussagen zu prononciert und eine häufiger komplementäre Sicht wäre nicht nachteilig gewesen. Doch der Mehrwert überwiegt. Eindrücklich zeichnet Z. die Genesis der Idee der Menschenwürde in Russland und jenseits Russlands von der Zeit des Silbernen Zeitalters bis in gegenwärtige Diskurse in den Vertretern Nikolaj A. Berdjaev und Sergej N. Bulgakov nach und leistet so einen gewichtigen Beitrag zur Erhellung u. a. der deutsch-russischen Ideengeschichte, der zum Studium empfohlen werden kann.