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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

577–579

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rohbeck, Johannes

Titel/Untertitel:

Aufklärung und Geschichte. Über eine praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2010. 249 S. 21,0 x 13,0 cm. Lw. EUR 39,80. ISBN 978-3-05-004686-0.

Rezensent:

Anne Käfer

»Üblicherweise bezeichnet man mit dem Begriff Geschichte dasjenige, was in der Vergangenheit geschehen ist. Demgegenüber stelle ich die Frage, ob nicht auch die Zukunft einen Projektionsraum darstellt, den man unter bestimmten Voraussetzungen als Ge­schichte begreifen kann.« (10) Dieser Frage geht der Dresdner Philosoph Johannes Rohbeck in seiner Geschichtsphilosophie nach, die 2010 unter dem Titel »Aufklärung und Geschichte. Über eine praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft« im Akademie Verlag erschienen ist.
Angesichts der ökologischen Krise ist der Blick auf die Zukunft von besonderer Bedeutung. »Durch das Bewusstsein der Bedrohung elementarer Lebensgrundlagen und der Verantwortung für künftige Generationen erhalten Fragen nach der Zukunft der Menschen eine neue Dringlichkeit.« (194) Hier könnte eingehakt und nachgefragt werden, wieso allein die Zukunft des Menschen in den Blick genommen wird. Doch sollen stattdessen R.s Ausführungen in der Reihenfolge ihrer drei Teile vorgestellt werden.
R. beginnt, nach einem fundierenden Abschnitt zu »Aufklärung und Moderne«, mit der Analyse von Geschichtsphilosophien der französischen Aufklärung (Erster Teil: Aufklärungskultur und Geschichtsphilosophie, 25–100). Nach R. zeigt sich, dass einerseits Geschichte als Produkt menschlichen Handelns vorgestellt wird und entsprechend moralische Ansprüche erhoben werden. Auf der anderen Seite werde Geschichte als Entwicklung verstanden, die teleologisch bestimmt und nicht beeinflussbar sei (98 f.).
In einem zweiten Teil (Teleologie und Evolutionstheorie, 101–162) geht R. vom teleologischen Geschichtsverständnis aus und unternimmt es, dessen angebliche Verbundenheit mit der »normativen Dimension« von Geschichte nachzuweisen (98.118). Weil nach R. Geschichtsphilosophie weder bloß als Deskription von mehr oder weniger zielgerichteten Geschehenszusammenhängen noch als ausschließlich ethisches Unternehmen angemessen betrieben wird, schlägt er »eine Synthese von Evolutionstheorie und Theorie der Geschichte« vor (146) und plädiert dafür, Geschichte als »kulturelle Evolution« zu verstehen – als einen Prozess der »Wechselbeziehung« von Natur und Kultur (147.151). Hierbei zieht er der Teleologie die Evolutionstheorie vor, weil diese unter anderem darauf verzichte, »die Geschichte so darzustellen, als ob sie von einem Handlungssubjekt geplant oder gesteuert würde.« (161 f.)
Im dritten Teil (Zeit-Räume der Geschichte, 163–243) hält R. für sein Verständnis von Geschichte als Ergebnis aus den beiden vorangehenden Teilen zugespitzt fest: »Geschichte ist dasjenige, das in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von den Menschen ›ge­macht‹ wird.« (200) Es scheint, als habe er das eben erst verabschiedete »Handlungssubjekt« durch »die Menschen« ersetzt, deren Planen und Handeln Geschichte begründen soll. Jedoch hält R. fest, dass »wir [die Menschen] keine Verantwortung für die Geschichte im Ganzen [haben]« (216). Wie ist dann aber der Zusammenhang von menschlicher Handlungsfreiheit, Verantwortlichkeit und Ge­schichte zu verstehen?
Diese Frage versucht R., mit seinen Ausführungen zu Kontingenz und Zufall zu beantworten. »Kontingenz« bezeichnet nach R. den »Spielraum«, in dem Handlungsalternativen verfügbar seien. Damit nicht dem Zufall überlassen bleibe, welche Handlungen realisiert werden, sei »an dessen Stelle die bewusst zu realisierende Handlungsmöglichkeit zu setzen.« (215) R. geht von einem Spiel-Raum aus, in dem Zufall oder menschliches Handeln gestaltend tätig seien und so einen vorhandenen Zeit-Raum bestimmten. Die Bedingtheit dieses Zeit-Raums wird von R. allerdings nicht thematisiert. Dabei würde genau sie darüber entscheiden, inwiefern tatsächlich im Geschichtsgeschehen von »Zufall« die Rede sein kann.
Zum Zweck möglicher Gestaltung des zukünftigen Zeit-Raums verbindet R. Geschichtsphilosophie und Zukunftsethik (217). Zu­kunftsethik könne immer nur vom Standpunkt der jeweiligen Gegenwart aus betrieben werden. Rückwirkend aber könnten zukünftige Menschen die gegenwärtig Handelnden für ihr Handeln verantwortlich machen. Diese retrospektive Verantwortlichkeit gegenüber nachfolgenden Generationen ist leitend für R.s Ethik der Zukunft, und vor allem sie soll der Grund dafür sein, dass auch Zukunft als Geschichte begriffen werden kann (203.242). Mit Reflexionen darüber, wie Menschen zu verantwortungsbewusstem Handeln motiviert werden könnten, endet R.s »Aufklärung und Geschichte«.
Mit seinem Buch macht R. in ausgesprochen lesefreundlicher Weise deutlich, wie eng Zukunftsfragen mit dem Verständnis von Geschichte zusammenhängen. Indem er wissensreich und pointiert Kernprobleme der Geschichtsphilosophie thematisiert und weiterdenkt, arbeitet er die beiden bereits genannten Fragen heraus, die es allerdings noch zu vertiefen gilt: Welche Rolle spielen menschliche Freiheit und Verantwortlichkeit im Geschichtsgeschehen wirklich? Und: Wie kann die Tatsache adäquat berück-sichtigt werden, dass die Zeit, die in der Geschichte »gemacht« wird, ebenso immer schon gegeben ist wie die Möglichkeit, Geschichtsphilosophie zu treiben?