Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

574–576

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Erarb. v. A. Regenbogen.

Titel/Untertitel:

Chronik der philosophischen Werke. Von der Erfindung des Buchdrucks bis ins 20. Jahrhundert.

Verlag:

Hamburg: Meiner 2012. XX, 639 S. m. 18 Abb. 24,0 x 16,0 cm. Lw. EUR 68,00. ISBN 978-3-7873-2146-9.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

In dem verbreiteten, inzwischen vergriffenen, von Franco Volpi und Julian Nida-Rümelin herausgegebenen Lexikon der philosophischen Werke, Stuttgart 1988, werden 1100 Hauptwerke der Philosophie in alphabetischer Ordnung kurz vorgestellt. Dieses Buch ist ein probates Hilfsmittel zur ersten Orientierung. Der Anspruch der Chronik ist ebenfalls der der Orientierung, aber in anderer Hinsicht. Einmal hat Arnim Regenbogen die Zahl der Artikel auf etwa 450 begrenzt und sich damit die Möglichkeit eröffnet, »Haupt-werke und innovative Programmschriften der Philosophie« (XI) deutlich ausführlicher vorstellen zu können, wozu umfangreiche bibliographische Angaben gehören. Zum anderen vermittelt die chronologische Ordnung einen hervorragenden Einblick in die Verschiedenheit der philosophischen Reflexion zu gleicher Zeit. Als Beispiel dafür wähle ich die drei Publikationsjahre von 1949 bis 1951, für die R. folgende Werke benennt: Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht; Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte; Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes; Jean-Paul Sartre: Materialismus und Revolution; Nikolai Hartmann: Philosophie der Natur; Martin Heidegger: Holzwege; Edmund Husserl: Die Idee der Phänomenologie; Edith Stein: Endliches und ewiges Sein; Paul Ricœur: Philosophie der Freiheit; Hannah Ahrendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft; Albert Camus: Der Mensch in der Revolte; John Rawls: Entwurf eines Entscheidungsverfahrens für die Ethik; Hans Reichenbach: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie. Das Beispiel zeigt für das eigenständige Verstehen der Philosophie die neuen Perspektiven der Chronik auf, die einem Lexikon philosophischer Werke nach den Ordnungen des Alphabets, der Epochen oder Schulen entgehen müssen.
Das Buch ist so aufgebaut, dass in sechs nach Jahrhunderten ge­gliederten Kapiteln die philosophischen Hauptwerke seit der Erfindung des Buchdrucks ausgeführt werden. Den Vorstellungen der Texte geht immer eine ausführliche, problemgeschichtliche Darstellung der jeweiligen Jahrhunderte voran. Auch das ist ein großer Unterschied zu anderen Lexika der philosophischen Werke, da hier die wichtigsten Themen der jeweiligen Jahrhunderte prägnant erfasst sind, auf die dann die jeweiligen Philosophien antworten.
Für das 15. Jh. wird deutlich, was es heißt, dass durch die Me­dienrevolution des Buchdrucks die philosophische Diskussion ihren Weg aus den begrenzten Räumen der Klöster und Universitäten in die Öffentlichkeit findet – und so gleichzeitig die Renaissance der antiken Schriften ermöglicht. Im 16. Jh. wird das von der Kirche vertretene geozentrische Weltbild erschüttert, die Reformation stellt viele bisher für sicher gehaltene Dogmen infrage, außerdem beginnen eigene Erfahrungen und Erkenntnisse zu Kriterien der Wahrheit zu werden. Im 17. Jh. führt, wegen der Glaubenskriege, die Reflexion auf Glaubensfreiheit und religiöse Toleranz zur Forderung nach Selbstbestimmung der eigenen Gesellschaftsform. Das 18. Jh. ist als Zeitalter der Aufklärung nicht nur auf die allgemeine Ausweitung der Denkfähigkeit der Menschen ausgerichtet, sondern sucht auch nach Möglichkeiten einer innerweltlichen Glückseligkeit für die Menschen. Gleichzeitig sehen sich die in orthodoxer Lehrtradition befangenen Kirchen durch die Freidenker in ihrer Lehrautorität gefährdet, was aber auch in anderer Hinsicht für die neue Bewegung der Volksfrömmigkeit des Pietismus gilt. Das 19. Jh. ist durch Schriften über Weltanschauungsfragen geprägt: Es wird nach der Theoriefähigkeit religiöser Lehren ebenso gefragt wie nach der Bedeutung der Evolutionsbiologie, aber auch nach derjenigen der vergleichenden Kulturanthropologie für das Menschenbild, und nach Möglichkeiten gesucht, das Naturgeschehen mittels einheitlich wirkender Kräfte erklären zu können. Im 20. Jh. wird durch die moderne Physik das traditionelle Kosmos-Modell endgültig infrage gestellt, ebenso wie das Bild vom selbstbeherrschten Menschen durch die Psychoanalyse. Phänomenologie, Lebensphilosophie und Existentialismus kreisen um das Bild vom Menschen.
R. vermerkt weiterhin besonders den sozialen »Bedarf an philosophisch begründeten Erklärungs- und Handlungsmustern«, der sich »auf Weltbilder und damit auf Erkenntnis- und Beherrschungsmodelle für die nichtmenschlichen Welten sowie auch auf Ethiken« konzentriert, »die das sinnvolle Handeln zwar nicht theoretisch ableiten, aber doch rechtfertigen können« (422). Mit einem kurzen siebten Kapitel über die »Konzeptionen der Zukunft in der Philosophie des 20. Jahrhunderts« (603) beschließt R. seine Darstellung mit Hinweisen auf die Bedeutung der Lösungen des Zukunftsproblems durch Karl Raimund Popper, Ernst Bloch, Karl Mannheim und Hans Jonas. Zusammenfassend bleibt jedoch eine große Unsicherheit, denn: »Die Tradierbarkeit eines universalis­tischen Menschenbildes als Maßgabe für weltweites politisches Handeln ist … noch nicht auf Dauer gesichert« (606). – Umfangreiche Titel- und Autorenregister (609 – 639) erschließen den Band und ermöglichen seine gute Handhabung.
Durch die prägnante Erfassung der historischen Situationen der jeweiligen Jahrhunderte und der Darstellung der Möglichkeiten, mit denen innerhalb der Philosophie auf diese Probleme geantwortet bzw. an ihren Lösungen zu arbeiten versucht wird, gelingt R. eine sehr anregende Darstellung der hauptsächlichen philosophischen Denkbewegungen von der Erfindung des Buchdrucks bis in diese Zeit hinein. So erscheinen die referierten Werke nicht für sich, sondern im Kontext ihrer Zeit.
Außerdem lässt sich der Band als eine hervorragende kurze Einführung in unsere wichtigsten philosophischen Texte nutzen. Gerade auch im Unterschied zu anderen Lexika philosophischer Werke fällt angenehm auf, dass R. die geschichtlichen Einführungen und die meisten Artikel selbst verfasst hat, was zur Einheitlichkeit des Werkes entschieden beiträgt. Die Chronik ist erkennbar mit dem Fokus auf die deutsche Philosophie und ihrer geläufigen Rezeption fremdsprachiger Publikationen ausgerichtet und leistet zu deren Verstehen einen sehr großen Beitrag. Mit der vorhandenen Auswahl der philosophischen Werke kann man sich im Wesentlichen einverstanden zeigen. Ohne selbst nun Vorschläge zur Erweiterung zu machen, möchte ich an R. jedoch die Bitte richten, für eine bald zu wünschende zweite Auflage eine breitere Aufnahme von modernen Texten der Philosophie aus der romanischen Sprachfamilie zu erwägen.