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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

572–574

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bartels, Cora

Titel/Untertitel:

Kierkegaard receptus II. Die theologiegeschicht­liche Bedeutung der Kierkegaard-Rezeption Rudolf Bultmanns.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2011. 416 S. 24,0 x 15,8 cm. Geb. EUR 53,90. ISBN 978-3-89971-516-3.

Rezensent:

Konrad Hammann

Mit dem anzuzeigenden Band legt Cora Bartels den zweiten, abschließenden Teil ihrer Studien zur Kierkegaard-Rezeption Rudolf Bultmanns vor. Das Buch knüpft nahtlos an die Untersuchungen des ersten Bandes (vgl. zu diesem meine Besprechung in: ThLZ 135 [2010], 212 f.) an, wie die fortgeführte Kapitelzählung schon rein äußerlich zu erkennen gibt; allerdings weist der zweite Band eine eigene Seitenzählung auf. Dass das dem ersten Band beigegebene und dezidiert auf diesen bezogene Vorwort von Hans Hübner im zweiten Band erneut abgedruckt erscheint, mutet freilich etwas befremdlich an. Bedauerlicherweise hat B. die seit 2008 erschienene Literatur zu ihrem Gegenstand in die Darstellung nicht eingearbeitet. Ihre optimistische Annahme, die von ihr 2002 abgeschlossene Arbeit werde durch die seither publizierten Quellen und Forschungsbeiträge gestützt (413), ist gewiss nicht generell infrage zu stellen. Hätte B. allerdings die Korrespondenzen zwischen Bultmann und Friedrich Gogarten (erschienen 2002) sowie zwischen Bultmann und Martin Heidegger (erschienen 2009) wirklich berücksichtigt, hätte sie – etwa zur Auseinandersetzung zwischen Bultmann und Gerhardt Kuhlmann – manche erhellende Nuance und Differenzierung in ihre Darstellung einbringen können.
Kapitel 8 zeichnet zunächst die theologischen und philosophischen Affinitäten wie auch die Differenzen zwischen Bultmann und Heidegger seit 1923 nach, wie sie zumal in Bultmanns Auseinandersetzung mit Gerhardt Kuhlmann und in Heideggers Vortrag »Phänomenologie und Theologie« erkennbar werden. Das u. a. durch Karl Barth neu gestellte Problem der natürlichen Theologie aufzunehmen, war für Bultmann aufgrund seines Rekurses auf die Daseinsontologie Heideggers von besonderer Dringlichkeit. Nach B. weist Bultmanns Konzept, eine legitime natürliche Theologie habe vom Glauben aus das vorgläubige natürliche Dasein aufzudecken und zu kritisieren, Parallelen zu Kierkegaards Analyse der vorgläubigen Existenz auf. Den Beweis dafür, dass Bultmann hier von Kierkegaard regelrecht »angeregt« worden sei (56), vermag B. aber nicht zu erbringen. Daran wird eine Grenze ihres rezeptionsgeschichtlichen Ansatzes deutlich. Es bleibt dabei unterbewertet, dass Bultmann die Frage der natürlichen Theologie eigenständig vom Neuen Testament her (vgl. bes. Röm 1,18–3,20 zwischen Röm 1,16 f. und 3,21–28) bearbeitet hat.
Das umfängliche Kapitel 9 analysiert die Rezeption Kierkegaards in Heideggers Werk »Sein und Zeit«. B. zeigt, dass Heidegger in seiner Fundamentalontologie verschiedene Gedanken und Mo­tive Kierkegaards (das Selbst, die uneigentliche Verzweiflung, die Angst und die zeitliche Verfasstheit des Selbst) aufgreift und modifiziert. Freilich hat sich Heidegger auch, wie B. zu Recht betont, von Kierkegaard explizit distanziert. Nach Heidegger nämlich bleibt Kierkegaard in seinem Verständnis der Existenz und der Zeitlichkeit des Daseins noch der idealistischen Philosophie verhaftet, so dass bei dem Dänen eine ontologische Daseinsauffassung noch nicht entwickelt ist. Die in der zeitgenössischen Diskussion von Karl Löwith einerseits und Karl Barth andererseits gegen Bultmanns Berücksichtigung der philosophischen Daseinsanalytik Heid­eggers erhobenen Einwände werden in Kapitel 10 rekonstruiert. Selbst wenn beide Kritiker den Intentionen Bultmanns nicht hinreichend gerecht geworden sind (oder sein sollten), bleibt nach wie vor umstritten, ob die von der phänomenologischen Daseins­-analyse aufgewiesenen formalen Strukturen des Daseins theologisch neutral sind – so Bultmann – oder aber nicht.
Die beiden folgenden Kapitel gehören thematisch engstens zusammen. B. eröffnet sie jeweils mit einem kritischen, aber fairen Referat, einmal über Marcel Lills vergleichende Untersuchung zu Heideggers »Sein und Zeit« und Bultmanns Johannes-Kommentar, zum anderen über Eberhard M. Pauschs Buch zu Bultmanns An­eignung und Modifikation der Wahrheitskonzeption Heideggers. Die Analyse von Bultmanns Johannes-Kommentar führt zu dem gut belegten Ergebnis, dass Bultmann für seine Interpretation der johanneischen Christologie, Eschatologie und Soteriologie Kierkegaards Reflexionen über die Indirektheit der Offenbarung Gottes im Christusgeschehen in vielfältiger Weise fruchtbar macht (Kapitel 11). Was Bultmanns Anknüpfung an Heideggers Wahrheitsbegriff angeht, zeigt B. an verschiedenen Texten auf, dass Bultmann in seinem hermeneutischen Programm der existentialen Interpretation die Daseinsanalyse Heideggers vor allem aufgegriffen hat, um mit ihrer Hilfe die methodischen Konsequenzen aus der durch Kierkegaard vermittelten Einsicht in die Indirektheit der Offenbarung ziehen und die Aneignung des Glaubens plausibel machen zu können (Kapitel 12).
Diese ihre Hauptthese bewährt B. gewissermaßen negativ in einem Durchgang durch die Positionen, die in der Debatte um Bultmanns Entmythologisierungsprogramm und Eschatologie (kritisch Helmut Thielicke, Julius Schniewind, Oscar Cullmann und Walter Künneth sowie affirmativ Friedrich Gogarten) bezogen wurden. All diesen Autoren bescheinigt B., Bultmann vor allem deshalb missverstanden bzw. nicht hinreichend interpretiert zu haben, weil sie die Bedeutung der Gedanken Kierkegaards zur In­-direktheit der Offenbarung für die Theologie Bultmanns nicht erkannt hätten (Kapitel 13). Das abschließende 14. Kapitel fasst die in der genetischen Analyse von Bultmanns Kierkegaard- und Heid­egger-Rezeption gewonnenen Resultate noch einmal zusammen. Insgesamt erscheint es als überzeugend, für die Theologie und Hermeneutik Bultmanns nicht ausschließlich die Daseinsontologie Heideggers als philosophischen Referenzrahmen in An­schlag zu bringen. Vielmehr muss man – und dies umfassend herausgestellt zu haben, ist ein großes Verdienst B.s – für Bultmann als mindestens ebenso bedeutsam die Existenzdialektik Kierkegaards in Rechnung stellen (Kapitel 14).
Auch dort, wo man einzelnen Exegesen B.s nicht folgen mag, ist die Relevanz des Denkens Kierkegaards für Bultmann eindrücklich unterstrichen. Folgender Hinweis dürfte aber nicht unangebracht sein. Rezeptionsgeschichtliche Arbeiten können die Denktraditionen aufhellen, aus denen Theologen schöpfen. Sie vermögen jedoch einen eigenständigen Denker wie Bultmann nicht »ganz« zu erklären. Es sollte nicht übersehen werden, dass der Neutestamentler seine Theologie nicht zuletzt im beständigen Austausch mit den Texten des Neuen Testaments entfaltet und auf seine Zeit bezogen hat.
Die Rezeption der rezeptionsgeschichtlichen Studien B.s wird vermutlich dadurch behindert, dass sich auch dieser zweite Band mit langen Zitateinschüben, mitunter überbordenden Fußnoten und etlichen in Fettdruck gesetzten Passagen, Sätzen und Wörtern nicht gerade leserfreundlich präsentiert. Register, die das Buch erschließen könnten, fehlen leider. In einem Anhang gibt B. noch eine erhellende Analyse der Ausführungen, die Karl Barth in den Prolegomena zu seinem »Unterricht in der christlichen Religion« (1924) dem Inkognito-Begriff Kierkegaards und dessen Verständnis der indirekten Offenbarung gewidmet hat.