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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

570–572

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Witt, Christian Volkmar

Titel/Untertitel:

Protestanten. Das Werden eines Integrationsbegriffs in der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XI, 310 S. 23,2 x 15,5 cm = Beiträge zur historischen Theologie, 163. Lw. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-150951-3.

Rezensent:

Walter Sparn

Die Wuppertaler Dissertation erforscht die Entstehung von »P.« (protestantes, protestants) als Verbindungsbegriff für die konfessionell getrennten Reformationskirchen. Der derzeitige Forschungsstand (S. Bräuer, Th. Kaufmann, M. Ohst) bezweifelt die seit W. Maurer gängige Auffassung, dass der selbstbezeichnende Begriff im 17. Jh. in England entstanden und erst im 18. Jh. in den deutschen Sprachraum eingewandert sei, und weist ihn schon bei den 1529 »protestierenden Ständen« und den Schmalkaldischen Bun­desgenossen bzw. »Augsburger Konfessionsverwandten« seit der Wittenberger Konkordie 1536 nach, tradiert durch Johannes Sleidanus (1555). Es fehlt noch der Nachweis, ob und wie der integrative Begriff »P.« im Reich ausgebildet wurde (Einleitung, 1–18). Diese Lücke füllen »begriffsgeschichtliche«, die Diskussionskontexte und ihren kirchlich-politischen Hintergrund berücksichtigende Analysen von theologischen Quellen lutherischer und reformierter Provenienz des späten 16. und des 17. Jh.s. Ihre Disposition berück-sichtigt die schon beobachtete Zäsur von 1648 und die mit dem Namen Georg Calixts verbundenen Veränderungen.
Teil I erhebt die integrative Terminologie »P.« bei deutschen Reformierten bis 1648 (19–90), beginnend mit der Pfälzischen Irenik des späten 16. Jh.s; hier erweisen sich die seit H. Leube (1928) bekannten, aber auch unbekannte Quellen als sehr ergiebig. Der Vf. stellt als Motiv der Irenik zugunsten des gemeinsamen »Protestantischen« die prekäre Situation der Kurpfalz, die im Begriff war, zum reformierten Territorium zu werden, im Blick auf ihren reichsrechtlichen Schutz heraus. Der Augsburger Religionsfriede hatte »dissimuliert«, auf welche Fassung der CA sich dieser Schutz beziehe; die FC 1577/1580 ließ dies allein für die invariata gelten (20 ff.). Mit Zacharias Ursinus (1581) beginnt die Reihe der Autoren, welche die variata mit den »Augsburger Religionsverwandten« und den »protestierenden Ständen« verbinden (30 ff.). Das von ihm bereitgestellte »integrative Potential« wurde vielfach angewandt (David Pareus, Irenicum 1614), auch außerhalb der Pfalz (Wilhelm Zepper, 1594, Christoph Pezel 1591; 39 ff.), dann als CA-Interpretation im Sinne Melanchthons (Christian Beckmann, 1621; 66 ff.). Eine neue »terminologiehistorische Qualität« zeichnet die Interpretationen von Heinrich Alting (1647) und Johannes Crocius (1647) aus, die auch nichtdeutsche reformierte Kirchen als mit den fundamen­talen biblischen Wahrheiten konforme »P.« anführen; sie agieren nicht mehr irenisch, sondern setzen die CA ( variata) der lutherischen Abendmahls- und Ubiquitätslehre entgegen (75 ff.).
»Verweigerung durch Verharren« nennt Teil II die lutherische Verwendung von »P.« bis 1648 (91–120). So negierten Johann Georg Sigwart (1616/18) oder Leonhart Hutter (1616) Pareus’ Behauptung der Übereinstimmung in den fundamentalen Glaubensartikeln; ebenso die Zielsetzung eines protestantischen Konzils: Es laufe auf »Synkretismus« hinaus. Nur die Lutheraner seien »protestierende Stände«; sie aber hätten auf dem Reichstag 1566 die CA-Verwandtschaft des Pfälzer Kurfürsten nicht anerkannt (92 ff., vgl. 21 f.25 f.). Der Vf. bringt den reichs- und kirchenpolitischen Kontext dieses Exklusivismus allerdings kaum in Anschlag, auch nicht bei der (vor allem gegen die Jesuiten gerichteten) Verteidigung der Invaratia bzw. der gegen reformierte Polemik gerichteten Behauptung der Nichtabweichung der FC hiervon (Matthias Hoe von Hoenegg 1628, 1635; 105 ff.) oder bei der historischen Reduktion der Variata auf ein Verhandlungsangebot (Abraham Calov gegen Crocius 1646; 115 ff.).
Teil III: »Verhärtete Fronten trotz reichsrechtlicher Zäsur« (121–158) führt überzeugend vor Augen, dass die politische Sicherung der Reformierten 1648 (121 ff.) die Lutheraner, die den »dissimulierenden« Vertragstext nicht auf eine Anerkennung der reformierten Lehre als CA-konform bezogen, nicht zur Veränderung ihres Exklusivismus veranlasste (Calovs Historia Syncretistica 1682, Johann Botsack 1651; Johann Conrad Dannhauer 1658, Antonius Reiser, 1680; 126 ff). Dagegen benutzte die reformierte Publizistik »P.« weiterhin als (integrativ gemeinte) Selbstbezeichnung, zielte aber nicht mehr auf den unnötig gewordenen Nachweis der CA-Zugehörigkeit, sondern auf einen Kirchenfrieden »beyde(r) Theile der Protestanten«, ja auf »Vereinigung der Evangelischen Protestanten« auf der Basis der biblischen (und von Luther gelehrten!) Fundamentalartikel des Glaubens – bei bald deutlicher Absage an die Normativität der Bekenntnisse als solcher (Samuel Strimesius 1687/89; Crocius 1653; der Konvertit Christoph Barthut 1689; 139 ff.).
Als »nicht nur terminologiegeschichtliche(n) Dammbruch« bezeichnet Teil IV (159–256) die integrative Begrifflichkeit »P.« in der Schule Georg Calixts, der erstmals die Möglichkeit gegenseitiger Toleranz der Lutheraner und der Reformierten aufgrund eines Konsenses in den Fundamentalartikeln des Glaubens angenommen hatte. Das Kasseler Religionsgespräch 1661, obwohl keineswegs »synkretistisch«, initiiert diesen Weg zum Kirchenfrieden (159ff., mit J. Wallmann). In der Folge wurde, zwar nicht durchweg, »P.« transformiert zur übergreifenden Bezeichnung, so bei dem Rintelner Heinrich Martin Eckard (1662; 170 ff.) und bei Friedrich Ulrich Calixt (1667, 1700; 184 ff.). Auch Pufendorfs integratives »P.« (1695) folgt zum Teil der calixtinischen Annahme gemeinsamer Fundamentalartikel (193 ff.). Der Vf. übergeht, dass der »vermittlungstheologischen« (199) Konstruktion von Fundamentalartikeln im 17. Jh. eine lutherische gegenübersteht, die gerade den unüberbrückbaren Dissens fixiert; ebenso, dass das integrative »P.« (von Calixt nicht benutzt) antikatholisch agiert, im Unterschied zu Ca­lixts Rekurs auf den altkirchlichen Konsens.
Auch bei lutherischen Pietisten lässt sich das übergreifende »P.« belegen, so bei Philipp Jakob Spener, der »Evangelische« nur für seine Kirche gebraucht, dennoch auf Toleranz zwischen den »P.« wenigstens hofft (201 ff.). Die sich andeutende Lockerung der Gleichsetzung von geglaubter Wahrheit und Bekenntnis (210 f.) wird radikal bei Gottfried Arnold (1699/1700), dessen erleuchtete »Unparteilichkeit« die konfessionelle Spaltung für gotteslästerlich hält. Er bezeichnet als »P.« sowohl, mit Veit L. von Seckendorff, nur die Lutheraner als CA-Angehörige als auch, mit dem reformierten Friedrich Seyler, alle ursprünglichen Träger der bald aus Selbstliebe verlorenen Gemeinsamkeit (212 ff.). Dieser doppelte Begriffsgebrauch bildet Arnolds Urteil über das Reformationsjahrhundert ab (238 ff.).
»Abschließende Betrachtungen zum Werden eines Integrationsbegriffes« (257–277) fassen, zum Teil etwas redundant, Gang und Ergebnisse der Analysen zusammen, tragen auch Quellen nach (260ff.). Unklar bleibt zum einen das Verhältnis von »Begriffsgeschichte« (definiert erst 260, Anm. 1) und »Terminologiehistorie« (pass.). Offen bleibt zum andern, ob es richtig war, den Integrationsbegriff »Evangelische«, der bei den Lutheranern dann durchweg notiert wird (108.114 f.136 ff.148, Anm. 120.168 ff. 210 u. ö., und nicht nur bei diesen: 67, Anm. 179), nur am Rande behandeln zu wollen (17, Anm. 80). Warum nannten sich diese lieber »Evange­lische« als »P.«? Die Verbindung beider bei Schleiermacher (276 f.) macht eine solche Frage nicht gleichgültig. Ferner bleiben Zweifel bei der Wertung des (im Unterschied zu »Evangelische« primär religions politisch konnotierten) Integrationsbegriffs »P.« als eines »schöpferischen« (18.36.66 u. ö.). Er war und blieb postulativ; auch auf reformierter Seite ging er immer mit einem überlegenen, die Theologen »lutherischer Fasson[!]« (108; »Facon« auf S. 264) zu doktrinalen Verzichten auffordernden Wahrheitsbewusstsein einher – wie wurde das angeblich gemeinsame Fundamentale hierauf bezogen? Reale Integration wurde möglich, wie an Spener und, trotz scharfer Kritik (253 f.), an Arnold gezeigt, durch die Ablösung des Wahrheitsbewusstseins vom tradierten Bekenntnis durch neue »Bewusstseinsausformungen« oder »Mentalitätsverschiebung(en)« (210 f.270 ff.). Unreflektiert bleibt das vom Vf. vermutete »Bewusstsein für die (höhere[?]) Einheit« der Konfessionskirchen (19) und sein positives Vorurteil für die Entschränkung des Begriffs »P.« durch reformierte Theologen, die damit, mit R. Koselleck, »neue Wirklichkeiten freigesetzt haben« (277).
Gleichwohl dokumentiert das Buch, ergänzt durch Bibliographien der Quellen, der (meisten) weiterführenden Literatur sowie ein Personen- und ein Sachregister, in seiner Verbindung von textnaher Genauigkeit und guter Lesbarkeit eine wichtige Forschungsleistung.