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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

84–86

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Georgi, Dieter, Heimbrock, Hans-Günter, u. Michael Moxter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Gestaltung der Zeit.

Verlag:

Kampen: Kok Pharos Publ. 1994. 216 S. gr.8o. Kart. Nlg. 65.­. ISBN 90-390-0043-3.

Rezensent:

Ernstpeter Maurer

Zeit ist ein vielschichtiges Phänomen ­ und eben darin kann sie zum Hinweis auf die göttliche Wirklichkeit werden. Diese fruchtbare Einsicht durchzieht die Vorträge und Aufsätze aus dem Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Frankfurt. Im beschränkten Rahmen einer Rezension muß ein Blick auf die wegweisenden Gedankengänge genügen.

Der Beitrag von I. U. Dalferth bietet eine differenzierte Bestimmung des göttlichen Zeitbezugs jenseits der Alternative von zeitloser Ewigkeit und temporalisierter Gottesvorstellung. Zwei Aspekte sind bedeutsam: Zum einen müssen wir von der Pluralität der Zeiten ausgehen, die nicht in einem abstrakten "Zeit"-Begriff, sondern in Gottes Handeln ihre konkrete Einheit finden. Zum andern greift dieses Handeln als Unterscheidung von Alter und Neuer Zeit in Jesus Christus in die Zeit ein und relativiert damit alle, auch die religiösen Orientierungsmuster für die Gestaltung von Zeit: Aus der mythischen Orientierung an der Wiederholung dessen, was immer schon war, wird die "Vergegenwärtigung einer einmaligen Vergangenheit, die alles verändert hat" (19). Das mythische Zeit-Muster entdeckt in den immerwährenden Zyklen die zeitliche Analogie der Ewigkeit. Die Unterscheidung von Alter und Neuer Zeit überwindet dieses Schema, weil von einem einmaligen Ereignis eine dauerhafte Veränderung ausgeht. Denn die Geduld Gottes zielt darauf, "daß wir uns aus freiem Willen und eigener Überzeugung von unserem verderblichen, schöpfungswidrigen Lebenskurs abbringen lassen" (21). Damit wird andererseits die apokalyptische Orientierung an einer ausstehenden endgültigen Erfüllung modifiziert, weil die Ausrichtung auf das Kommende nicht mehr zur Verflüchtigung der Gegenwart führt, wenn Gott uns Zeit gewährt.

Dalferths Beitrag zeigt, wie die innere Spannung einander widersprechender Zeit-Muster die Vielfalt der Zeiten einfängt und die Dimensionen von Zeit füreinander durchsichtig werden läßt. Diesen Gedankengang vertiefen andere Aufsätze. So ist die Verflüchtigung der Gegenwart charakteristisch für Bultmanns Kategorie "Augenblick" ­ was M. Moxter scharfsinnig ausführt. Bultmann grenzt den Augenblick der Entscheidung von der naturphilosophischen Zeit ab und entrinnt der Dichotomie von Natur und Geist durch den Rekurs auf die Anrede, die auch die Selbstverfügung der Person aufhebt. Als Anrede läßt die Predigt gegenwärtig werden, was niemals vergangen sein kann, sie ist somit ein soteriologisch signifikantes Zeitphänomen. Allerdings wird diese paradoxe Identität von Bultmann nicht expliziert. Dadurch schnurrt die Differenz der Zeiten zu einem nunc stans zusammen. Daß der Mensch nicht über die Gnade verfügen kann, zeichnet sich in der Zeit darin ab, daß es für ihn kein Bleiben gibt: "Der Mensch ist gehetzt" (116). Dagegen wäre eine sich dehnende Gegenwart phänomenologisch zur Geltung zu bringen. Das könnte auch die eigenartige Bewegung des immer schon verschwindenden Augenblicks umgreifen ­ wie im sehr prägnanten Beispiel der Melodie, wo Gegenwart sich dehnt, weil wir keineswegs eine diskrete Folge einzelner Töne hören. So wäre Dalferths Andeutung einer Vielschichtigkeit der Zeiten in paradigmatischen Fällen gedehnter Gegenwart auszuarbeiten. Dann verschwinden die schlichten Alternativen: Es geht weder um Dauerpräsenz im Gegensatz zur stetigen Vorläufigkeit noch um eine mythische Wiederbelebung des Rituals im Gegenzug zur apokalyptischen Kritik an aller Gegenwart.

Je differenzierter die möglichen Zeiterfahrungen erfaßt werden, desto interessantere theologische Dimensionen treten hervor. Dabei fallen die Beschreibungsebenen nicht etwa auseinander ­ vielmehr werden sie wechselweise zum Hintergrund für die präzise Beschreibung. Das gilt gerade dann, wenn ein gemeinsamer Nenner der Zeiterfahrung nicht gegeben ist, wie die Skizze eines interreligiösen Dialogs im Beitrag von K. Otte zeigt. Gerade in der Begegnung unverrechenbarer Zeiterfahrungen unterschiedlicher Herkunft mag das "Umgreifende aller Herkunft" (125) aufleuchten und läßt einen Vorgriff auf Kategorien riskieren, die nicht mehr einer abendländischen Transzendentalphilosophie allein zuzurechnen sind. Dabei wird nicht der Absolutheitsanspruch einer jeden Religion ausgeschlossen, vielmehr zeigt sich gerade in der Begegnung der Positionen, ob sie tatsächlich von jenem Absoluten leben, das in ihnen erscheint. In der Offenheit für den absoluten Ursprung bedarf es nämlich keiner Selbstverabsolutierung. Solche Gedanken wären für die Frage nach Sinn und Unsinn interreligiöser "Dialoge" noch zu vertiefen. Für das Thema "Zeit" ist die Durchführung freilich etwas zu global geblieben.

Auch der neutestamentliche Beitrag von D. Georgi macht anschaulich, welche Möglichkeiten in der Vielschichtigkeit von Zeitgestaltung und -erfahrung stecken. Die zunächst überraschende Parallele zwischen Julius Cäsar und Jesus von Nazareth geht davon aus, daß beide nicht nur eines gewaltsamen Todes starben, sondern daß beider Tod als geschichtlich bedeutsam gesehen wurde, als Ewigkeit in der Zeit. Das wird im römischen Kalender durch Festtage zur Geltung gebracht, die als Freudenbotschaft anzusagen sind, also als Evangelium. Auf dieser Folie gewinnen neutestamentliche Aussagen erstaunliches Profil, vor allem Gal 4: Die Polemik gegen die schwachen und dürftigen Elemente bezieht sich auf die kalendarisch geprägte Frömmigkeit des Cäsarenkults, wo "Verwaltung und Religion zusammengehen und Befreiung versprechen" (62). Paulus bricht der soteriologischen Bedeutung des römischen Kalenders die Spitze ab. Man braucht ihn nicht einmal abzuschaffen ­ damit wäre er zu ernst genommen.

Wie fruchtbar eine präzise Beschreibung der einander durchdringenden Momente einander ausschließender Zeiterfahrungen für die praktisch-theologische Arbeit sein könnte, zeigt H. Streib. Wenn ich meine Identität Geschichten verdanke, wird Zeitdifferenz überbrückt, andererseits kommt es niemals zur Synchronie. Identität ist reflexiv, denn ich erkenne mich in Geschichten, und durch die narrative Dimension wird sie diachron. Die reflexive Selbsterkenntnis findet ihre Einheit in Geschichten, in wahren Berichten, aber auch in fiktiven Gedankenexperimenten. Diese "Ipseität" kann niemals ohne andere Personen gedacht werden, weil zur sprachlichen Konstitution der Identität auch das Worthalten gehört, vor allem aber gilt: "Wir haben niemals nur eine Identität, es ist immer eine Mehrzahl von Identitäten möglich" (188). Eine solch vieldimensionale und unerschöpfliche Lebensgeschichte provoziert Korrekturen im Bildungsverständnis, das eine vereinfachte Vorstellung personaler Identität, nämlich die bloße Kontinuität der Lebenslinie voraussetzt. Zur narrativen "Ipseität" gehört hingegen die kreative Fähigkeit, spielerisch zwischen verschiedenen (Selbst-)Interpretationen sich zu bewegen. Dieser Gedanke schlägt den Bogen zurück zu Dalferths Bestimmung der Integration der Zeiten durch das Handeln Gottes. Es ist nicht meine Identität, die eine solche Integration schaffen muß, um dauerhaft zu sein. Umgekehrt erweist sich die Freiheit des Glaubens in der vielschichtigen Gestaltung der Zeit, in der Offenheit für die vielen Zeiten.