Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

567–569

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Reinhard, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Paul V. Borghese (1605–1621). Mikropo­litische Papstgeschichte. Mit CD-ROM (Mitglieder und Positionen der Kurie Pauls V.).

Verlag:

Stuttgart: Hiersemann 2009. XXV, 715 S. m. Abb. 24,0 x 16,5 cm = Päpste und Papsttum, 37. Geb. EUR 218,00. ISBN 978-3-7772-0901-2.

Rezensent:

Klaus Unterburger

Dieses monumentale Werk von Wolfgang Reinhard ist die Synthese von über 40-jähriger Beschäftigung des Vf.s mit dem Pontifikat Papst Pauls V. (1605–1621), in das zahlreiche Arbeiten seiner Schüler, aber auch von Forschern wie Klaus Jaitner und Christoph Weber eingegangen sind. Methodisch ist es zugleich der Nachweis, dass die traditionelle Papstgeschichtsschreibung, die im Gefolge Rankes und Pastors die Politik der Päpste und mitlaufend deren privates moralisches Leben untersucht hat, zu kurz greift.
Die Makropolitik vormoderner Akteure, hier des Papsttums, kann ohne die Regeln der Mikropolitik, nach denen man »durch die Nutzung anderer in organisationalen Ungewissheitszonen eigene Interessen verfolgt« (5), nicht adäquat analysiert werden. In der Moderne wird dieses mikropolitisch-informelle Verfolgen der eigenen Interessen oder der des eigenen Hauses neben den »objektiven« Interessen der Institution in der Regel als »Korruption« denunziert, auch wenn sich die Grenzen zwischen Formalität und Informalität nur verschoben haben dürften. Jedenfalls kann die Politik der Päpste bis ins 19. und 20. Jh. hinein (21.82: die Kirche sei Barockmonarchie geblieben, die römische Kurie dabei sozial- und symbolgeschichtlich analysiert ein »totalitäres Regime«, 75) nicht ohne jene Systemlogik des »do-ut-des« verstanden werden, die Netzwerke (Verflechtung nach Verwandtschaft, Landsmannschaft, Freundschaft und Patronage) gezielt für den eigenen Aufstieg nutzt und auf Akteure trifft, mit denen Mikropolitik ausgehandelt werden kann, da sie eine ähnliche Interessenslogik verfolgen. Ressourcen in diesem Spiel waren die Einnahme von Papsttum und Kurie, der Kirchenstaat, aber vor allem auch die vielen kirchlichen Ämter, an deren Besetzung die Päpste im Laufe der Geschichte ein Mitwirkungsrecht erworben hatten, wobei die Datarie hier von entscheidender Bedeutung war. In einem »geistlichen Kolonialismus« (39 u. ö.) wurden ganze Länder wie Neapel, aber auch die Lombardei und natürlich erst recht der Kirchenstaat als Versorgungsmasse für Kurialen verwendet, jenseits der Interessen der Stifter von Benefizien und der Seelsorge. Der Vf. hat für den allgegenwärtigen Nepotismus neben der Herrschaftsfunktion die Versorgungsfunktion betont, da die Dankbarkeit gegenüber der eigenen Familie und den eigenen Förderern geradezu als eine Pflicht der pietas angesehen wurde, betont aber selbst (58), dass diesem Verhalten zu allen Zeiten ein latenter Wertekonflikt in Blick auf den Gemeinwohldis­kurs immanent war. Die symbolische Selbstinszenierung der Päpste, die die persönliche Macht und damit auch die Vorrangstellung der Papstfamilie zum Ausdruck bringt, kollidiert mit der Inszenierung als de­mütigem, am Gemeinwohl orientierten pater communis.
Die Sieneser Oligarchenfamilie der Borghese verdankte den Aufstieg zum Papsttum jedenfalls der Familienstrategie mit ihrer Investition in Kaufämter, besonders dem Kammerauditoriat, das in ein Kardinalsamt zu münden pflegte, für Camillo, dazu der Protektion durch Sixtus V. und die Florentiner Netzwerke; im Konklave 1605 war Camillo Borghese, seit 1596 Kardinal und inzwischen Kardinalsvikar von Rom und Leiter der Inquisition, für die Faktionen schließlich ein akzeptabler Kompromisskandidat. Nunmehr be­gann mittels des von ihm eingesetzten Kardinalsnepoten Scipione Borghese eine ungeheuere Bereicherung und Statusaufwertung der Familie, die im Erwerb des Fürstentums Sulmona von Spanien gipfelte. Scipione wurde dank der Dispens­gewalt des Papstes von allen Steuern und Abgaben befreit, auch von der Ex­kommunikation für aktive oder passive Bestechung. Die Schenkungen führten etwa zur Entwendung der Bibliothek des Avignoneser Papstpalastes für die Familie und natürlich zum Erwerb der riesigen Kunstsammlung des Nepoten. 1619 war Scipione Kommendatarabt von 31 Abteien; die Einnahmen wurden besonders in den Erwerb von Immobilien investiert, dazu natürlich in Bau- und Kunstprojekte, die den neu erworbenen Status der päpstlichen Familie sinnenfällig demonstrieren sollten.
Mittels der Patronagekorrespondenz untersucht der Vf. möglichst umfassend die Netzwerkpolitik des Nepoten, die nach den Gesetzen von Klientelismus und Patronage, Empfehlung und wechselseitigem Gunsterweis in einem System mikropolitischer ungeschriebener Regeln funktionierte. Hierzu hat der Vf. in jahrzehntelanger Sammelarbeit zum Pontifikat Papst Pauls V. eine pro­sopographische Datenbank von insgesamt 2346 Personen im kurialen bzw. päpstlichen Umfeld aufgebaut. Die Kurialen entstammten dabei überwiegend dem nord- und mittelitalienischen Patriziat und Stadt­adel. Wichtige Einstiegsämter waren die Referendariate der beiden Signaturen; ihnen sollte nach Möglichkeit familienstrategisch eine Prälatur, am besten natürlich das Kardinalat folgen. Eine wichtige, mögliche Etappe hierzu war der Erwerb eines der be­sonders von Sixtus V. enorm vermehrten Kaufämter (in Kanzlei und Kammer vor allem). Auch die Nuntiatur war ein wichtiger möglicher Schritt hin zum Kardinalat; zielführend konnte auch das Rotaauditoriat oder die Stellung als apostolischer Sekretär sein. Kardinalskreationen erfolgten überwiegend unter nepotistischen oder zumindest klienteliaren Gesichtspunkten, hinzu kam der Ty­pus der Karriereprälaten, dazu auch die Patronage durch die großen Herrscherhäuser (Kron- und Nationalkardinäle). Unter den Kardinälen war der Anteil an Macht und Finanzen natürlich sehr unterschiedlich; das Kardinalskollegium war durch klienteliare Be­ziehung zum Nepoten bzw. den ehemaligen Nepoten als Faktionsführern und indirekt durch stärkere Spanien- oder Frankreichnähe bestimmt. Die Faktion des Vorgängers galt in der Regel als der natürliche Feind, was eine tendenzielle Freundschaft zur in der Regel aussterbenden Faktion des Vorvorgängers implizierte. Allein die Klientel der Farnese hatte eine gewisse, unabhängig von einem Pontifikat existente Sonderstellung; Grund mag deren nepotistisch erworbenes Fürstentum Parma-Piacenza gewesen sein, das durch deren Kardinal repräsentiert wurde.
Im Vergleich zum Jahr 1500 war die durchschnittliche Finanzkraft der Kardinäle um rund 70 % rückläufig; dennoch war die Kurie nur auf Kosten der Kirche des übrigen Italien, vor allem Neapels, zu finanzieren (267–269). Aufgrund der Patronagekorrespondenz des Scipione Borghese, die natürlich mit dem Tod des päpstlichen Onkels schlagartig abnimmt, erstellt der Vf. ein statistisches, datengesättigtes Profil der Klienten der Borghese, also jener Gruppe, die durch Worte oder Taten ein Verhältnis der Abhängigkeit und Loyalität ihm gegenüber zum Ausdruck bringt. Nicht immer wird der Patron selbst aus der Protektion von Mindermächtigen einen Vorteil gezogen haben, doch gehörte Versorgungs- und Herrschaftspatronage offenbar zum Standeskanon und wird eine indirekte herrschaftsstabilisierende Wirkung doch zu postulieren sein (vgl. 340.369–373). Organisatorisch stabile Netzwerke an der Kurie waren aber auch die großen Orden wie die Jesuiten und Dominikaner, eine Zeit lang auch das römische Oratorium, und auf andere Weise – wegen der zu vergebenden Kommenden, Balleien und Priorate und der Aufstiegswege zu lohnenden hohen Ordensämtern – der Ritterorden der Johanniter auf Malta. Theologische Konflikte wie der Gnadenstreit oder das Ringen um die heliozentristische Theorie Galileis haben so jedenfalls auch die Dimension konkurrierender mikropolitischer Interessen zwischen Jesuiten- und Dominikanerorden.
Aus mikropolitischer Perspektive interpretiert der Vf. schließlich das Herrschaftssystem im Kirchenstaat, dessen Städte überwiegend von einem abgeschlossenen Patriziat regiert wurden; diese Oligarchisierung kam der päpstlichen Herrschaftsausübung insofern entgegen, da so Klientelbildung und -bindung mikropolitisch möglich war, die die Herrschaft mittels Legaten, Vizelegaten und Gouverneuren ermöglichte und stabilisierte. Städtische Oligarchie und kuriale Ämterelite entstammten ja überdies demselben Milieu mit derselben Herrschaftslogik. Mikropolitik und mikropolitische Interessen der Borghese bestimmten aber auch die makropoli­tischen Außenbeziehungen, besonders zu Neapel, Mailand, Genua und der Toskana, ebendort, wo der Pfründen- und Privilegienmarkt und die Rechtslage für deren Besetzung für beide Seiten eine intensive Zusammenarbeit nahelegte. Für den Erwerb von po­litischen, finanziellen und künstlerischen Ressour­cen setzten die Borghese im Gegenzug durchaus geistliches Kapital wie etwa Heiligsprechungen und geistliche Gnadenerweise ein. Wichtige Agenten gerade auch der Mikropolitik waren die Botschafter, von päpstlicher Seite also die Nuntien. Die lange unterschätzte Privatkorrespondenz der Nuntien ist also bei der Analyse der dem meritokratisch-gemeinwohlorientierten Dis­kurs verpflichteten formalisierten (makropolitischen) Nuntiaturkorres­pondenz mit hinzuzuziehen. Diese Mikropolitik gipfelte in der Verleihung des Kardinalats für den spanischen Günstlings­mi­nis­ter Lerma und der spanischen Verleihung des Fürstentums Sulmona für die Borghese.
Dort, wo eine enge mikropolitische Interessenverflechtung be­stand, wie etwa mit Genua, konnten makropolitische Konflikte viel leichter mittels Interessensausgleich und Kompromiss geregelt werden als dort, wo kaum Verflechtung existierte; der Konflikt mit Venedig 1606/07 ist hierfür ein Beispiel. Hier eskalierte der Jurisdiktionskonflikt und hätte beinahe zum Krieg geführt; derartige Konflikte traten aufgrund des neuen kanonistischen Selbstbewusstseins des nachtridentinischen Papsttums überall in Europa auf, konnten andernorts freilich mikropolitisch besser entschärft werden. Der Vf. vertritt nunmehr die m. E. richtige These, dass die treibende Kraft dahinter die neuen kirchlichen Ansprüche waren, was zu einer verstärkten Trennung von geistlich und weltlich und somit zu einer Säkularisierung des politischen Gemeinwesens geführt hat, eine These, die im Widerspruch steht zu dem von ihm lange Zeit propagierten etatistischen Konfessionalisierungstheorem (603).
Das große Werk des Vf.s zeigt, dass Papstgeschichte nur unter Berücksichtigung der mikropolitischen Spielregeln und Interessen geschrieben werden kann. Natürlich hat sich der Vf. auf einen einzelnen Pontifikat konzentriert, doch gelingt es ihm durchaus, die überindividuellen mikropolitischen Spielregeln daraus zu destillieren. Auf den ersten Blick apologetisch entlastend mag wirken, dass dies einen Abschied vom moralisierend-individualethischen Blick auf die Einzelpäpste bedeutet, der der Papstgeschichtsschreibung als verstaubtes Relikt aus dem 19. Jh. noch vielfach anhängt. Zugleich wird Informalität aber ein Systemkonstitutivum, und – was viel entscheidender ist als individualethische Exzesse – die ekklesiologischen Grundsätze der päpstlichen plenitudo potestatis sind nicht ohne ihre Genese aus Macht- und Eigeninteressen zu lesen. Jenseits der Absicht einzelner Päpste hat die Kurie dem Vf. nach ihre Machtlogik durch die Jahrhunderte behalten, die noch die Beziehung zur Transzendenz der harten Logik des do-ut-des unterwirft. Dies ist jedenfalls die Analyse dieses katholischen Sozialhistorikers und Kulturanthropologen, die noch eine apologetische Antwort sucht.