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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

564–565

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Frank, Günter, u. Stephan Meier-Oeser[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Hermeneutik, Methodenlehre, Exegese. Zur Theorie der Interpretation in der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2011. 527 S. 23,6 x 16,7 cm = Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, 11. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-7728-2489-0.

Rezensent:

A. B.

Seit dem frühen 17. Jh. hat die als »Theorie der für die Theologie, Philosophie und Jurisprudenz gleichermaßen grundlegenden Praxis der Textauslegung« (9) verstandene Hermeneutik den Status einer selbständigen interdisziplinären Subdisziplin zu behaupten vermocht. Dabei markiert die von dem Straßburger lutherischen Theologen Johann Conrad Dannhauer 1630 publizierte Schrift »Idea boni interpretis et maligniosi calumniatoris«, die erstmals eine zusammenhängende »Hermeneutica generalis« skizzierte, nicht etwa, wie einleitend zu Recht betont wird, die »Gründungsleistung eines Einzelnen« (9), sondern lediglich ein einzelnes Element innerhalb des höchst komplexen, mit der frühneuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte eng verflochtenen Entstehungsprozesses des damit bezeichneten Faches. Im Übrigen hat es Reflexionen des hermeneutischen Gegenstandsbereichs selbstverständlich auch vor der frühneuzeitlichen Etablierung des entsprechenden Disziplinennamens jederzeit schon gegeben. Insofern wird der von Wilhelm Dilthey im Jahre 1900 vorgelegte Versuch, »Die Entstehung der Hermeneutik« bündig und zeitscharf zu rekonstruieren, nicht allein wegen der seitdem erreichten beträchtlichen Ausweitung der einschlägigen Quellen- und Problemkenntnis, sondern dazu auch aufgrund prinzipieller methodischer Bedenken in vielerlei Hinsicht als revisionsbedürftig zu gelten haben.
Die Herausgeber des anzuzeigenden Buches haben sich aus guten Gründen dafür entschieden, nun nicht ihrerseits eine historisch-systematische Entstehungsgeschichte der frühneuzeitlichen Hermeneutik zu konstruieren, sondern – zugleich bescheidener und effizienter – »anhand konkreter Fallstudien zu überprüfen, inwieweit die vorgelegten Regeln zur Methodologie der adäquaten Interpretation die zeitgenössische Praxis der Exegese beeinflusst haben und bei der Schriftauslegung zur Anwendung gekommen sind« (13). Der Band präsentiert die Beiträge eines im Oktober 2008 zu solchem Zweck an der Europäischen Melanchthon-Akademie Bretten abgehaltenen Symposions. Die meisten der hier versammelten Studien sind prosopographisch orientiert; sie gelten namhaften Repräsentanten der Disziplin wie etwa Johannes [!] Wyclif ( A. Brungs), Matthias Flacius Illyricus (K. Vanek), Abraham Calov (J. Haga), August Hermann Francke (M. Matthias) oder Immanuel Kant (F. V. Tommasi). Daneben werden allerdings auch übergreifende Gruppen- und Sachzusammenhänge untersucht wie beispielsweise der nachtridentinische Katholizismus (W. Dickhut), die christliche Kabbala (W. Schmidt-Biggemann), der Sozinianismus (S. Salatowsky) oder der Wolffianismus (H.-P. Neumann). Ein erfrischend lebendiger und kluger Essay unterzieht abschließend den von Dilthey eingebrachten Forschungsimpuls einer umfassenden, kritischen Würdigung (G. Scholtz).
In einer knappen »Einleitung« umreißen die beiden Herausgeber die jenem Symposion vorgegebene Fragestellung. Zwei kleine Unschärfen fallen dabei sogleich ins Auge. Denn die Kennzeichnung der Hermeneutik als einer strikt »normativen« (und also nicht etwa auch deskriptiven) Theorie der Textauslegung (9) bleibt ebenso undeutlich wie das Verdikt, man müsse das Postulat, die hermeneutische Wissenschaft sei protestantischen Ursprungs, als »ein Stück Kulturprotestantismus« abtun, wo doch im selben Atemzug daran erinnert wird, dass tatsächlich »die frühen Entwürfe einer hermeneutischen Theorie nahezu ausschließlich im protestantischen Kontext entstanden sind« (12). Aber solche Quis­quilien sollen keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass der Band durchweg reichhaltige, präzise Forschungsbeiträge bereitstellt, die für die jeweiligen historischen Einzelwissenschaften ebenso wie für die interdisziplinäre Wissenschaftsgeschichtsschreibung insgesamt von erheblichem Nutzen sind.