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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

562–564

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Berner, Esther

Titel/Untertitel:

Im Zeichen von Vernunft und Christentum. Die Zürcher Landschulreform im ausgehenden 18. Jahrhundert.

Verlag:

Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2010. VIII, 465 S. m. 1 Kt. 22,5 x 15,5 cm = Beiträge zur Historischen Bildungsforschung, 40. Kart. EUR 59,90. ISBN 978-3-412-20388-7.

Rezensent:

Peter Opitz

Im Zentrum dieser am Institut für Erziehungswissenschaften an der Universität Zürich entstandenen Dissertation steht mit der Zür­cher »Enquête« von 1771 und ihrem sozial- und ideengeschichtlichen Umfeld ein quellenmäßig ergiebiges, bisher nur unzureichend ausgewertetes Beispiel einer im Geist der christlichen (Spät-)Aufklärung betriebenen volkserzieherischen Initia­tive. An der Frühlingssynode der Zürcher Kirche im April 1771 wurde den Dekanen der Zürcher Landschaft ein umfangreicher Fragebogen »über den Schulunterricht« ausgehändigt, mit dem Ziel, Erkenntnisse über den Stand des Landschulwesens zu erhalten. Angestoßen durch Forderungen aus dem Zürcher Oberland, sollte der allfällige Verbesserungsbedarf des – vollständig der kirchlichen Aufsicht unterstellten – Schulunterrichts durch eine breite Erhebung ausfindig gemacht werden.
Möglichst umfassend wurde dabei, im Zuge der aufkommenden »Statistik«, sowohl nach der »äußeren« wie nach der »inneren« Einrichtung des Schulwesens (430–435) gefragt: nach der entsprechenden Infrastruktur, nach den ökonomischen Rahmenbedingungen, dem Engagement und den fachlichen wie charakterlichen Voraussetzungen der Lehrkräfte, nach Unterrichtshäufigkeit und Unterrichtszeiten im Jahresverlauf, nach der Präsenz der Kinder und dem Umgang mit nachlässigen Eltern, nach Unterrichtsinhalten, den verwendeten Lehrmitteln und nicht zuletzt nach dem pädagogischen Erfolg im Blick auf die breite Landbevölkerung – Knaben und Mädchen sowie Kinder »armer Eltern oder Waisen« – erfassenden elementaren Schulbildung. Das pädagogische Bemühen um ein wirkliches Verstehen des Unterrichtsstoffes und umgekehrt um das Vermeiden von »Ekel« und »Verdruss« auf Seiten der Kinder wird dabei ebenso bereits im Fragekatalog deutlich sichtbar.
Die Richtung, in welche Verbesserungsmaßnahmen des Schulunterrichts im Rahmen der obrigkeitlich-kirchlichen volksaufklärerischen Bestrebungen zielen sollten, war durch das die Zürcher Geistlichkeit bestimmende Klima, zu dessen prägendsten Gestalten wohl Jean-Jacques Rousseau einerseits und Johann Joachim Spalding andererseits zu zählen sind, vorgegeben: Es ging um die Stärkung des moralischen Gefühls, um die Durchsetzung des Primats des »Nützlichen«, gerade auch im Blick auf die – nicht zuletzt ökonomische – Lebens- und Haushaltsführung, um den stärkeren Einbezug naturkundlicher Fächer und im Religionsunterricht um die Ersetzung eines bloßen Auswendiglernens eines Katechismusstoffes durch eine Pädagogik der individuellen Aneignung im Verbund mit individueller Entwicklung – um die Förderung von »Verstand und Herz«.
Der erste Teil der Studie (41–289) weist dies in engem Bezug zu den Quellen eindrücklich nach. Er besteht in einer detaillierten Darstellung des ländlichen Unterrichtswesens in den 1770er Jahren, die von Fragen des sozialen Status’ des Lehrers über die Lesemethodik und Unterrichtsorganisation bis hin zur Charakterisierung der pädagogischen Grundlagenliteratur reicht. Das me­tho­dische Vorgehen einer »Dichte[n] Analyse unter Einbezug vielfältiger Quellentexte« (16) bringt nicht nur manche Bestätigung, sondern auch manche Differenzierung und Erweiterung des Blick­feldes mit sich. So kann, um lediglich ein Beispiel zu nennen, über den traditionellen Klassikerkanon an deutschsprachigen aufklärungspädagogischen Autoren, wie ihn etwa die Namen Johann Bernhard Basedow, Johann Peter Miller oder Johann Georg Sulzer ausmachen, hinaus auf weitere einflussreiche Autoren aufmerksam gemacht werden, etwa auf den Berner Pfarrer Alfred Stapfer und seine Schrift über die »Auferziehung der Jugend auf dem Lande« (211–217).
Die Auswertung der Quellen im Zusammenhang mit der En­quête von 1771 liefert überdies eine Darstellung der zeitgenössischen »Defizitwahrnehmungen« und »Reformperspektiven« hinsichtlich des Landschulwesens, nicht nur, aber besonders aus den Reihen der Zürcher Geistlichkeit. Und schließlich gehört zu diesem ersten Teil auch die Untersuchung der »offiziellen Reformumsetzungen« (237–263) in Gestalt von gesetzlichen Neubestimmungen hinsichtlich des Landschulunterrichts und der Lehrerschaft.
Im zweiten Teil (293–427) werden »Motive und Kontexte« der Zürcher Landschulreform untersucht. Konkret in den Blick ge­nommen werden die Diskussion um eine Reform des Schulwesens in der »Moralischen Gesellschaft«, aus welcher die ersten Impulse zu einer Schulreform stammten (293–322), diesbezügliche Voten aus der Zürcher Synode (323–341) und die Behandlung des Themas in der »Asketischen Gesellschaft« (342–389).
Ungeachtet der pädagogikgeschichtlichen Perspektive der Ar­beit kommen hier kirchlich-theologische Diskurse und Argumentationen immer stärker in den Blick. Einerseits sachlich zwangsläufig: Entsprechend der kirchlichen Oberhoheit über das gesamte Schulwesen im Ancien Régime waren die Pfarrer in ihrer Aufsichtsfunktion über den Schulunterricht in ihrem Kapitel gefordert. An­dererseits entspricht dies aber auch der zu Beginn überzeugend erläuterten methodischen historiographischen Ma­xime, sozial- und ideengeschichtliche Fragestellungen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern vielmehr als miteinander verzahnt wahrzunehmen (15–18). Die Arbeit wird damit zu einer erhellenden und verdienstvollen Fallstudie über die faktische Umsetzung (und de­ren Probleme) der pädagogischen Vorstellungen der Theologie der Spätaufklärung. Wie damit einerseits dem klassischen sozialgeschichtlichen Blick die Bedeutung der theologischen Motivation deutlich gemacht wird, so wird andererseits dem klassischen ideengeschichtlichen Blick die Bedeutung der Rezeption und Transformation der großen Ideen durch die einfachen Landpfarrer, aber auch das Gewicht der wesentlich mitbestimmenden ökonomischen und sozialen Faktoren des Unternehmens »Volksaufkärung« vor Augen geführt.
Abgerundet wird die Darstellung mit einem Blick in die spezifisch theologischen Diskurse der Zürcher Spätaufklärung, insbesondere der 1780er Jahre. Mittels Streifzügen etwa durch Johann Konrad Pfenningers »Christliches Magazin« oder Heinrich Corrodis »Beiträge zur Beförderung des vernünftigen Denkens in der Religion«, aber auch unter Einbezug programmatischer Schriften wird versucht, das theologische (Schlacht)Feld zu beschreiben, welches den zeitgeschichtlichen Hintergrund der pädagogischen Re­formmaßnahmen bildete. Die wichtigsten Akteure sind hier ge­nannt und charakterisiert – auch unter Andeutung der pädago­gischen Konsequenzen ihrer theologischen Haltungen.
Aus kirchen- und theologiegeschichtlicher Sicht bleibt die Darstellung in diesem letzten Teil allerdings eher an der Oberfläche und gibt zu Rück­fragen Anlass. – Zu fragen wäre etwa, ob Johann Caspar Lavater ein geeignetes Paradigma für ein »autoritatives Christentum« [400] darstellt; das be­dürfte wohl weiterer Diskussion. – Die Arbeit stützt sich hier denn auch stärker als sonst auf Sekundärliteratur. Dies soll keineswegs als Kritik, wohl aber als Hinweis auf die disziplinär bedingten Grenzen der Untersuchung verstanden werden. Dass sie als pädagogikgeschichtliche Untersuchung diesen Horizont des zeitgenössischen theologischen Diskurses, den sie somit aus guten Gründen nicht weiter erkundet, überhaupt sieht und einzubeziehen gewillt ist, ist verdienstvoll und beweist das Ernstnehmen ihrer eigenen, zu Beginn erläuterten hermeneu­tischen Prinzipien. Gerade als pädagogikgeschichtliche Arbeit ist sie so auch der kirchengeschichtlichen Aufklärungsforschung warm zu empfehlen.