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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

553–556

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Ernst, Allie M.

Titel/Untertitel:

Martha from the Margins. The Authority of Martha in Early Christian Tradition.

Verlag:

Leiden/Boston: Brill 2009. XIX, 369 S. m. Abb. 23,4 x 16,5 cm = Supplements to Vigiliae Christianae, 98. Geb. EUR 132,00. ISBN 978-90-04-17490-0.

Rezensent:

Andreas Heiser

»Martha from the Margins« als Indikativ aufgefasst beschriebe die Position jener Marthagestalt, die am Grab des Lazarus und bei der διακονία in Bethanien auftritt, in der Überlieferung oder in der ak­tuellen Forschung (2–7). Wer jedoch die bei Rick Strelan, University of Queensland, entstandene Dissertationsschrift von Allie Ernst liest, hört den begründeten Imperativ, die Figur der Martha gegenüber prominenten Figuren wie Jesus oder Maria nicht länger als Marginalie der Tradition oder der Forschung zu betrachten. Martha aus der misslichen Randposition zu bringen, stellt einen wichtigen Mosaikstein für eine ausgewogene Sicht des antiken Christentums bereit. Nähme man an, eine spätantike Pilgerin hätte Ostern in Jerusalem gefeiert. Sie hätte am Heiligen Grab die Lesung von Mt 28 gehört und die liturgische Darstellung mit zwei räuchernden »Myrrhophoren« angeschaut. Sie hätte einen Hymnus gesungen, in dem die beiden als Martha und Maria genannt worden wären, und sie hätte eine Ampulle gekauft, auf der die Szene inklusive der Namen abgebildet gewesen wäre. Welche Geschichte hätte sie zu Hause erzählt? E. folgert zu Recht: Die Erzählung der Martha am Grab wäre für sie zur »›real‹ easter story« (296) geworden. E. macht plausibel, wie in Gruppen des antiken Christentums solche Marthaerzählungen als trefflichere Reflektion der Tradition gegenüber den kanonischen Texten angesehen werden (ebd.). Ihre evidente Methodik besteht darin, Marthatraditionen des antiken Christentums ausgewogen darzustellen, indem nicht nur literarische Quellen, sondern auch liturgische Texte, Hymnen, Kirchenordnungen und Bilder untersucht werden (16–20).
Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile, die an dem Auftreten der Martha in kanonischen Texten orientiert sind: am Grab und am Tisch. In Joh 11,1–44 erscheint Martha als Idealtypus johanneischer Theologie, die sich auch für die Trägergruppe des Evangeliums in dem von Martha gesprochenen Christusbekenntnis (Joh 20,31) ausdrücke (46.49.65). Dass diese Marthafigur für variable Zwecke in­strumentalisiert wird, zeigt eine präzise Analyse der Tradition: Martha erscheint als Modell des Glaubens bei Cyrill von Jerusalem, bei Ps.-Eustathius von Antiochien, der sie einen »zweiten Petrus« (55) nennt und sie als Vermittlerin des Glaubens zwischen Petrus und Johannes darstellt, und bei Romanus dem Meloden. Dagegen entwerfen Origenes und Amphilochius von Ikonium an ihr ein Modell des Unglaubens. Die wenigen ikonographischen Darstellungen zeigen, dass nur die johanneische Martha ein ausgeprägtes visuelles Profil besitzt.
Wie andere Traditionen ebenjene Martha am Grab Jesu als Zeugin der Auferstehung positionieren, belegt die nach E. zwischen 120 und 170 n. Chr. in Kleinasien entstandene Epistula Apostolorum. Bestechend ist dabei E.s solide Quellenarbeit, deren abgewogene Behandlung der Einleitungsfragen Mustercharakter besitzt. Hier sind Hypothesen jedoch notwendig, und solche sind diskutierbar. Während E. vermutet, die Epistula beziehe sich sowohl auf die schriftliche Evangelientradition als auch auf eine »fünfte« Version vom leeren Grab (90), die aus johanneischen Kreisen stamme und aus dem gleichen »pool of oral tradition« (92) schöpfe wie die Evangelien, sieht D. Hannah (JThS.NS 59 [2008], 598–633) inzwischen ausschließlich Bezüge zu den vier Evangelien. Anders als in der Epistula wird die Verkündigung von Maria und Martha in Hippolyts Kommentar zum Hohenlied gewichtet, der ihnen das Epitheton »Apostel für die Apostel« (108) beistellt, um den apostolischen Status der Frauen zu bekräftigen.
Die Tradition der Martha am Grab Jesu wird überzeugend in der Osterliturgie verortet (115), so dass der Zusammenhang der homiletisch-exegetischen Literatur mit ihrem liturgischen Entstehungskontext sichtbar wird. Darum werden solche liturgischen Stücke analysiert, die Berührungspunkte aufweisen. So kennt Ambrosius die Hoheliedauslegung Hippolyts, und das Ambrosianische Messformular reflektiert Jerusalemer Traditionen aus der Woche nach Ostern, die auch in dem syrisch-katholischen Fenquitho aus dem 4.–6. Jh. nachwirken. In einem Osterhymnus (Kölner Holztafel und Bib. Nat. Paris Koptisch 129; 123–136) sind Martha und Maria die einzigen, die verstehen, während alle anderen weinen. Beide werden als Vorbilder für Frauen verstanden, die in der Trägergemeinde des Hymnus das Osterzeugnis verbreiten. Wenngleich E. ihre Arbeit als »feminist historiography« (301.7–13) versteht, beeinflusst diese Perspektive niemals ihr abgewogenes Urteil. So wird die Forderung einer »women’s community« (137) erfreulich sachlich abgelehnt.
E. stellt überzeugend dar, dass die ikonographische Darstellung die Ostererzählung nach Matthäus in der Form reflektiert, wie sie von Pilgern in der Liturgie Jerusalems erlebt wurde. Sie untersucht dazu eine syrische Evangelienillumination aus dem 6. Jh. und ein ägyptisches Kupferamulett aus ebendieser Zeit. Der Zusammenhang von Ikonographie und Liturgie führt auf den Dienst der Myrrhophoren im Jerusalemer Kultus, die mittels eines ikonographischen Zyklus’ aus Abyssinischer Kunst als Maria und Martha identifiziert werden. Auch in Konstantinopel ist dieser Dienst mit Jerusalemer Ursprung belegt.
Der zweite Strang der Marthatraditionen ist von ihrer διακονία (Lk 10,38–42) geprägt. Die Interpretation hängt davon ab, ob man darunter einen Tischdienst oder einen liturgischen Dienst versteht. Im ersten Fall richtet sich die Auslegung auf weltliche Belange, die vom Hören des Wortes abhalten. Im andern Fall verbietet Jesus öffentlich den kirchlichen Dienst einer Frau. Entsprechend facettenreich sind die Auslegungen bei Basilius (gegen Ausschweifung in Gastfreundschaft), bei den Messalianern und den Wüstenvätern (gegen und für Handarbeit), bei Origenes (Kontrast von actio und contemplatio) oder Augustin (Kontrast zwischen gegenwärtigem und zukünftigem Leben). Während die von Schüssler Fiorenza 1993 vertretene Auffassung eines eucharistischen Settings der Szene bei Lukas zunächst in antiken christlichen Texten keinen Anhalt findet, kann E. Traditionen vorführen, die Marthaerzählungen zur Begrenzung und zur Legitimierung des Dienstes von Frauen bei der Eucharistie verwenden (270). Da Martha in der Apostolischen Kirchenordnung als Sprecherin gegen die Tätigkeit von Frauen bei der Eucharistie fungiere, sei eine solche Tätigkeit in den Kreisen der Kirchenordnung vorausgesetzt. Die Philippusakten, die einen Streit zwischen der Mehrheitskirche und enkratitischen Gruppen in Kleinasien reflektieren, bieten mit Martha ein Rollenmodell für den Dienst von Frauen an.
Konsequent wird im Anschluss an Origenes (Cels. 5,61) nach Gruppen gesucht, in denen Martha eine autoritative Leitfigur gewesen ist. Mit Maria(mne), Salome und Arsinoe erscheint sie als Offenbarerin göttlicher Einsichten in der Pistis Sophia und dem Manichäischen Psalmbuch. Die Analyse der Marthafigur in der Ersten Apokalypse des Jakobus (282–284) ist jedoch nicht haltbar, da der bereits 2007 edierte Codex Tchacos (CT 2 p. 27,26 f. [122 f.; Bethge/Brankaer]) zeigt, dass die Lakune in NHC V,3 p. 40,22–26 sicher nicht mit »Martha« zu füllen ist. E.s Verdienst ist es hingegen, die Argumentation in Kirchenordnungen (Syrische Didascalia, Apostolische Constitutionen, Testamentum Domini) mittels Frauenfiguren für und gegen die Rolle der Frauen in der Kirche offenzulegen. Da solche Texte gewöhnlich zur Ordnung kirchlicher Verhältnisse auf kanonische Texte zurückgreifen, vermutet E. den Bezug auf ältere Traditionen, sei doch die kanonische Martha weder unter den Jüngerinnen noch in dem Kreis der Jesusanhängerinnen (Lk 8,1–3) noch beim Kreuz oder Grab zu finden. Eine Gruppe, die sich nach Martha benenne, lasse sich allerdings nicht ausmachen. Wenn sich jedoch hinter Origenes’ Mutmaßung »Marcellinas Nachfolgerinnen« verbergen würden (so McGuire 1999), gelte Martha bei ihnen auch ohne Nennung des Namens als »apostolic authority« (290). Zu bedauern ist, dass der Begriff der »authority« eigenwillig unterbestimmt bleibt und häufig nur aus der Frontstellung in Namens­-listen abgeleitet wird.
Die Zusammenfassung streicht das zukunftsweisende Zusam­menspiel von Exegese, Liturgiewissenschaft, Hymnologie und Ikonographie bei der Wiedergewinnung der Martha heraus. Ein Ap­pendix mit der Übersetzung der koptischen und äthiopischen Ostererzählung der Epistula Apostolorum, die – leider nicht nach Quellen und Sekundärliteratur gegliederte – Bibliographie und die üblichen Indizes der Reihe runden das Buch ab.
E. führt mit ihrem Fokus auf eine scheinbare Randfigur in ruhiger Sachlichkeit vor, dass es das Verständnis des antiken Christentums erheblich erweitert, die sog. apokryphe Literatur als lebendige Interpretation der Jesusüberlieferung zu verstehen, statt um die mutmaßlich korrekte Überlieferung zu streiten. »Martha from the Margins«? Ja, unbedingt!