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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

551–553

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Spivey, Robert A., Smith, D. Moody, and C. Clifton Black

Titel/Untertitel:

Ana­-tomy of the New Testament. A Guide to Its Structure and Meaning. Sixth Edition.

Verlag:

Minneapolis: Fortress Press 2010. XVI, 501 S. m. zahlr. Abb. u. Ktn. 23,4 x 17,5 cm. Kart. £ 35,99. ISBN 978-0-8006-9770-7.

Rezensent:

Lukas Bormann

Die Rezension eines fremdsprachigen Lehrbuchs ist nicht nur eine fachwissenschaftliche, sondern auch eine kulturwissenschaftliche Herausforderung. Aus der fachwissenschaftlichen Perspektive stehen Fragen im Mittelpunkt wie: Wird die Zwei-Quellen-Theorie für die Evangelien zugrunde gelegt? Bekommt die sog. Logienquelle ein eigenes Kapitel? Wie werden die schwer zu datierenden Paulusbriefe, der Gal und der Phil, in die paulinische Chronologie eingeordnet? Werden die Teilungshypothesen zu den Paulusbriefen aufgenommen und werden die literarkritischen Fragen, die das Johannesevangelium aufwirft, behandelt? Wie werden die neutes­tamentlichen Texte mit judenfeindlicher Auslegungsgeschichte (Mt 27,25; Joh 8,44; 1Thess 2,15) interpretiert? Wird die Theologie des Paulus ausgehend von der (lutherischen) Unterscheidung von Gesetz und Glaube entfaltet oder im Rahmen der New Perspective als Integration der Nichtjuden in das Volk Gottes verstanden?
Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive fragt man sich aber auch, welchen Einblick ein US-amerikanisches Lehrbuch in eine besondere Lehr- und Bildungskultur eröffnet. Auf welches vorausgesetzte Wissen nimmt das Lehrbuch Bezug? Wie werden die Lesenden angesprochen, um »abgeholt« zu werden? Das nun in sechster Auflage erschienene Werk Anatomy of the New Testament bietet sich für eine solche Betrachtungsweise in einem besonderen Maße an, weil es über vier Jahrzehnte zu den am häufigsten verkauften und gelesenen Lehrbüchern des Faches in den USA zählt. Die sechste Auflage ist durch einige grundlegende Änderungen durchaus so etwas wie ein Neuanfang.
Das Buch setzt mit einem instruktiven Kapitel zur Umwelt des Neuen Testaments ein (10–47), um dann in zwei Teilen zunächst die Evangelien und Jesus (Kapitel 2–6) und dann »die Apostel« und das frühe Christentum (Kapitel 7–13) zu behandeln. Die Bücher des Neuen Testaments werden nach einer sachlichen Ordnung, die von der kanonischen Reihenfolge abweicht, dargestellt, z. B. erst Mk, dann Mt. Ein Epilog über Bedeutung, Struktur und Identität des Neuen Testaments (bzw. des frühen Christentums) schließt den Textteil des Buches ab.
Beginnen wir mit den kulturwissenschaftlichen Fragen. Der Irak-Krieg, die Debatten um gleichgeschlechtliche Ehen und ge­schlechtergerechte Sprache, die Kenntnis des Films Passion Christi, des Buches Da Vinci Code und der millionenfach verkauften christlich-apokalyptischen Reihe Left behind gehören zum unterstellten und durch die Autoren aufgerufenen Vorwissen des Lesers (XXI f.). Das Lehrbuch setzt vor diesem Hintergrund bei Fragen ein, die bei dem interessierten Leser vermutet werden, vertieft diese Fragen zunächst und führt dann in die fachwissenschaftlichen Probleme und Lösungsmöglichkeiten ein. Das ist an vielen Stellen außerordentlich gelungen, und nimmt den Leser in die Entwick­lung des Gedankengangs mit hinein. Die einzelnen Abschnitte erhalten so eine klare Ausrichtung, die in aller Regel auch ihr Ziel erreicht, nämlich eine identifizierbare deutliche Antwort auf die Ausgangsfrage.
Unter fachwissenschaftlichen Gesichtspunkten fällt der diskursiv-konsensuale Stil auf. Das Buch verweist in der Regel zunächst darauf, dass es unterschiedliche Meinungen gibt. So sei die Zwei-Quellen-Hypothese zwar die einfachste und wahrscheinlichste Lö­sung, aber nicht überall akzeptiert (56). Auf eine eigene Darstellung der Logienquelle wird ebenso verzichtet wie auf die im angelsäch­sischen Raum verbreitete Bezeichnung als Sayings Gospel (131f.), was inzwischen bisweilen ins Deutsche mit »Spruchevangelium« rückübersetzt wird und damit deutlich andere Bedeutungen transportiert als das auch im vorliegenden Lehrbuch bevorzugte, nüchterne Q für »German Quelle, meaning ›source‹« (56). Dort, wo es möglich ist, werden auch die Argumente pro und kontra angedeutet, selten nur entfaltet, um dann deutlich zu machen, dass nun die Autoren sprechen (299): »We shall proceed on the assumption that Philippians and Philemon are the last extant letters of Paul, probably written from Rome.« Das Zitat verdeutlicht, dass sich die Autoren durchaus auch traditionsorientierte Sichtweisen, die eher eine Minderheitenmeinung darstellen, zu eigen machen. Die Pastoralbriefe hingegen gelten ebenso als pseudonyme Schriften wie Kol und Eph (375–399), 2Thess wiederum wird Paulus zugeschrieben (279). Nach dem zuvor Gesagten ahnt man schon, dass der synthetische Zugriff der Autoren wenig Gefallen an Teilungshypothesen finden kann. Dennoch wird auf die relevanten Bruchstellen im 2Kor hingewiesen und eine Zweiteilung erwogen (293). Joh 21 wird explizit als spätere Ergänzung des Evangeliums bezeichnet (152).
Insgesamt wird das Neue Testament deutlich in den Horizont des Judentums des Zweiten Tempels gerückt. Auf die in deutschsprachigen Lehrbüchern nach wie vor häufig verwendete Abgrenzungsrhetorik gegenüber dem Judentum wird verzichtet (vgl. ThLZ 136 [2011], 634). Die Antithesen der Bergpredigt stellten keine neue Lehre vor, sondern zögen radikale Folgerungen aus der alten (101). Das »Gespenst des Antisemitismus«, das vor dem modernen Leser bei der Lektüre von Mt 23 (Pharisäerrede) und 27,25 (»sein Blut komme über uns«) erscheine, wird durch eine ausführliche Erörterung in seine Schranken verwiesen (111 f.). Die stereotype Anrede »die Juden« im Joh und ihre antijüdischen Implikationen werden thematisiert (153). Auf Joh 8,44 und 1Thess 2,15 wird allerdings gar nicht eingegangen. Jedenfalls gelten Jesus und Paulus den Autoren als Juden; »christlich« und »Christentum« seien für das Neue Testament ana chronistische Begriffe, und die Gesetzeskritik des Paulus im Gal richte sich nicht gegen das Judentum, sondern ziele auf die Glaubensgeschwister des Paulus. Die Aussage, Jesus sei der Messias, sei im Rahmen jüdischer Messianität unproblematisch. Paulus vertrete al­lerdings die Meinung, dass mit dem Auftreten dieses Messias’ die Tora keine Heilsbedeutung mehr habe, und wende sich von einer zentralen Überzeugung des Judentums ab, was auch seine Glaubensgenossen verunsichert habe (291): »Paul’s claim raised doubts and objections among his fellow believers who, like him, were Jews.« Diese durchweg respektvolle Behandlung all der Fragen, die das Verhältnis von Judentum und Christentum betreffen, überzeugt. Geschickt gestaltete Karten und Tabellen unterstützen die Lektüre. Die verwendeten Photographien haben al­lerdings eher assoziativen Charakter und lassen einen musealen Eindruck von Israel/Palästina entstehen, der die konfliktreiche Ge­genwart der Menschen dort ausblendet und so den national-reli­giösen Missbrauch archäologischer Forschungen unkritisch unterstützt.
Deutschsprachige Lehrbücher orientieren sich meist am gesamten zugänglichen Wissen des Faches und sind deswegen angesichts der Stoffmenge gezwungen, dieses Wissen verkürzt weiterzugeben. Eine Orientierung an lernförderlichen Fragestellungen, wie sie das vorliegende Lehrbuch unternimmt, könnte dabei helfen, nicht in die Falle einer simplifizierenden Elementarisierung zu geraten. Anatomy of the New Testament ist ein sehr lesenswertes und lesbares Lehrbuch. Es unterstützt mit der Orientierung an Fragen, durch Karten, Abbildungen, Tabellen, Indizes, Bibliographien und durch ein Glossar einen ersten Zugang zum Neuen Testament und zur neutestamentlichen Wissenschaft, der jedem interessierten und aufgeschlossenen Leser ein individuelles und kreatives Leseerlebnis ermöglicht.