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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

539–540

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Anderson, Charles A.

Titel/Untertitel:

Philo of Alexandria’s Views of the Physical World.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XII, 299 S. 23,2 x 15,5 cm = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 309. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-150640-6.

Rezensent:

Dieter Zeller

Eigentlich sollte Philo herangezogen werden, um in 1Kor die Verankerung ethischer Weisungen in Schöpfungstraditionen besser zu verstehen (2). Doch angesichts der ambivalenten Aussagen Philos über die sinnlich wahrnehmbare Welt konzentrierte sich die unter der Anleitung von M. Bockmuehl in Cambridge angefertigte Dissertation von Charles A. Anderson auf Philo und seine kosmologische Begrifflichkeit. Kapitel 3 bis 6 untersuchen den ethical status der Termini οὐσία, ὕλη, γένεσις, κόσμος und φύσις in ihrem Kontext. Die Ergebnisse sind im Anhang (195–231) aufgelistet. Es zeigen sich bedeutsame Unterschiede in der Verwendung. Z. B. ist γένεσις oft durch den Gegensatz zwischen dem ewig seienden Gott und der Welt mit ihrem Werden und Vergehen bestimmt (Warum übernimmt A. dann auf S. 1 die Übersetzung creation und schreibt nicht deutlicher »das Gewordene«?). Positiv sind jedoch die Belege, in denen Gott Subjekt von γένεσις ist (Ergänzung: Er ist ja auch manchmal Subjekt von γεννᾶν und heißt »Erzeuger des Alls«). Dagegen lässt κόσμος schon vom Etymon her an eine durch Gott geordnete Welt denken. Über den Kosmos gewinnt man Er­kenntnis Gottes. Doch muss der Vollkommene die Welt verlassen, um Gott direkt zu schauen. Einen ähnlich positiven Stellenwert wie κόσμος hat φύσις, nur dass die Natur selbst der Agent ist, durch den Gott wirkt, während κόσμος das Objekt des göttlichen Wirkens darstellt. – Nebenbei: Die Feststellung auf S. 115, die Rede von der »menschlichen Natur« sei sozial bedingt, kann nur der moderne Beobachter machen. Sie ist nicht im Sinne Philos.
Die erwähnte Ambivalenz dieser Begriffe wird also verständlich, wenn man beachtet, in welcher grammatikalischen Beziehung sie zu Gott stehen und welche Funktion die Aussagen auf dem Weg des Menschen zur Vollkommenheit haben (dazu Kapitel 7 »Higher and Lower Approaches to God«). Mit dieser Funktion hängt auch ihr Vorkommen in den beiden hauptsächlichen literarischen Gattungen (wörtliche Expositio Legis und Allego­rischer Kommentar, dazu 18–22) zusammen. Dadurch erklärt sich etwa der seltene negative Gebrauch von κόσμος in Mut. 76 und Gig. 61 in Spannung zu Stellen aus der Expositio (91). Das abschließende Kapitel 8 fasst die unterschiedlichen Perspektiven Philos auf die physische Welt zusammen. Dabei wird die Teilung der Welt in einen himmlischen und einen sublunaren Bereich nachträglich eingeführt (171–173). Da die negative Sicht dem Pfad zur Vollendung eigen ist, erhält sie – obwohl statistisch unterrepräsentiert – das sachliche Übergewicht.
Bei seinen lexikalisch-semantischen Untersuchungen geht A. auch auf die Herkunft der Konzepte ein, sei es aus der Bibel oder aus der philosophischen Tradition. So wird deutlich, wie Philo den jüdischen Glauben an den Schöpfer in hellenistischer Umwelt und Sprache zur Geltung bringt. Sein anthropologischer wie kosmologischer Pessimismus aber – so das Fazit (189) – geht über biblische wie griechische Vorgaben hinaus. Andererseits ist er weder Mittelplatoniker, der das Böse für ein kosmologisches Prinzip hält, noch überträgt er die Schöpfung einem niedrigeren Wesen wie die Gnostiker. Am ehesten steht er unter mystisch-aszetischem Einfluss.
Alles in allem eine methodisch saubere, nützliche Studie, die differenziert, aber auch Grundlinien erkennen lässt.