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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

79–82

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Beißer, Friedrich

Titel/Untertitel:

Hoffnung und Vollendung.

Verlag:

Gütersloh: Mohn 1993. 351 S. 8o = Handbuch Systematischer Theologie, 15. Kart. DM 98,­. ISBN 3-579-04944-5.

Rezensent:

Johannes Wirsching

Gemäß dem Aufbau des bekannten Handbuches sollen zunächst die Auffassungen "der Reformatoren Luther, Melanchthon und Calvin" dargelegt und ihnen dann "drei der modernen Theologen" gegenübergestellt werden: Barth, Tillich, Althaus. Die sich daraus ergebende Aufgabe faßt der Vf. in die Frage: "Inwiefern und in welcher Weise kann reformatorische Theologie heute vertreten werden?" (11). Angesichts des hier verhandelten Gegenstandes, der Eschatologie, erweckt diese Frage besonders gespannte Erwartungen.

1. Der "Eschatologie der Reformatoren" sind gut einhundert Seiten des Buches gewidmet. Dabei nimmt die Darstellung Martin Luthers auffallend breiten Raum ein (19-76), während Melanchthons Eschatologie auf nur neun Seiten umrissen und auch Calvin vergleichsweise knapp behandelt wird (89-119). Das hängt nicht nur mit der jeweils unterschiedlichen Betonung der Eschatologie zusammen, sondern ist zugleich Ausdruck eines theologischen Urteils. De novissimis gebühre Luther die Meinungsführerschaft. Durch Luther habe die Eschatologie insgesamt "eine überaus charakteristische Neuinterpretation erfahren" (19); nur bei ihm werden die Letzten Dinge zugespitzt "auf die heute zu machende Erfahrung" (23) und "im heute zu vollziehenden Glauben" entschieden (31). Man kann geradezu sagen, daß sich bei Luther "die eschatologische Wirklichkeit selbst... dem Glauben vergegenwärtigt" (87). Im Blick auf die Letzten Dinge ist zwar bei den Reformatoren insgesamt "eine grundlegende Übereinstimmung unverkennbar" (211), aber doch nur, insofern und insoweit sie mit der umfassenden Lehre Luthers übereinstimmen. Die nicht zu leugnenden Unterschiede ­ Melanchthon sucht die Nähe zum Innerlich-Geistigen, Calvin zeigt platonisierende Züge ­ werden als bloße "Nuancen" (87) der bei Luther unerreicht eindrucksvoll entfalteten Grundanschauungen verstanden und bleiben damit innerhalb der dort gegebenen und darzulegenden Vorbildlichkeit.

1.1. Das methodische Problem, welches sich daraus ergibt, daß Luther als ’irregulärer’ Dogmatiker keine gesonderte Abhandlung über die Eschatologie geschrieben hat, sucht der Vf. zu lösen, indem er es gleichsam einkreist. Ausgehend von den Katechismen, fragt er nach dem eschatologischen Gehalt von Luthers gesamter Theologie, wie er insbesondere in der Rechtfertigung als endzeitlichem Geschehen hervortritt, um schließlich, anhand von Einzelbegriffen ("Hoffnung", "Tod"), Luthers Eschatologie im Nacheinander zu entfalten. Viel Wichtiges und Richtiges kommt dabei zur Sprache. In der "Zuspitzung" und "Allgegenwärtigkeit des Eschatologischen" (33) kommt heraus, was den Menschen immer schon und grundsätzlich kennzeichnet: Blindheit, Gotteshaß. Für den Vf. ist Luther gerade hier der Moderne, der die Schwelle zur Neuzeit überschritten habe und ­ anders als etwa der christliche Humanismus ­ das "Empfinden gerade des modernen Menschen" und zugleich etwas "von dem heraufkommenden Atheismus" erfaßt (42). Der Leser gewinnt einen starken Eindruck von der Weiträumigkeit, die Luthers eschatologischem Denken eignet, und von der Fülle der hier zu behandelnden Gesichtspunkte, so der Hl. Schrift, überhaupt der Heilsmittel (Wort, Sakrament), der Fleischwerdung, ja der Schöpfung insgesamt.

1.2. Es kann indes nicht übersehen werden, daß der Vf. mit alledem einem bestimmten Lutherverständnis folgt, wonach Luther selbst, unabhängig von Werden und geschichtlicher Abkunft, als Paradigma des Glaubens schlechthin und seine Theologie als einmalig angesehen wird. "Von seinen Anfängen bis zu seinen späteren Zeiten" habe der Reformator immer "dieselbe Konzeption vertreten" (31) und die eschatologische Wahrheit "in einer Eindringlichkeit vergegenwärtigt, die ihresgleichen sucht" (339). Glaube und Letzte Dinge bilden bei Luther ein nirgends und niemals erschüttertes "Gefüge". Darum ist es auch unnötig, Luthers Schriften je für sich zu befragen und sie in ihrer Unterschiedlichkeit oder an ihrem besonderen Ort zu erfassen. "Es findet sozusagen eine Perichorese der Lehrglieder statt" (87), gegründet auf und übereinstimmend mit dem biblischen Zeugnis, so daß sich auch scheinbar weit auseinanderliegende Aussagen Luthers immer "zusammenordnen" lassen (48) und entwicklungsgeschichtliche Unterschiede angesichts der dabei zutage tretenden einheitlichen "Grundstruktur" bedeutungslos werden.

Mit dieser ­ sit venia verbo ­ urbildlichen Stillegung oder doch Festlegung des Reformatorischen, die ja zugleich eine gewisse Unerreichbarkeit einbegreift, hängt die vorherrschend deskriptive und weniger argumentative Darstellung zusammen, die der Vf. der Eschatologie Luthers angedeihen läßt. Ob die Gesamtaussage des Reformators tatsächlich so wenig auf den Begriff zu bringen ist, wie der Vf. das im Verlaufe seiner Ausführung glauben machen will? Sind wir nicht, wie er später selber sagt, "um der Klarheit willen... zum bestimmten Begriff... genötigt" (265)? Gerade der Begriff des Glaubens bleibt, obwohl er doch "das Herzstück der Theologie bildet" (33), der sprachlichen und sachlichen Aufklärung bedürftig. Dem Vf. geht es immer um die "Verborgenheit" des Glaubens und die ihm eigene zukunftsgerichtete Erwartung. Was ist dann aber mit Glauben als "Vorwegnahme" des Eschatologischen und als Vorausverwirklichung einer neuen "Realität" (40) gemeint? Handelt es sich hier um eine besondere Gestalt des Wissens, in der, wie etwa bei Clemens von Alexandrien, das künftige Heil (gedanklich) vorweggenommen wird? Worin besteht dann noch die "Macht", mit der sich bei Luther die Eschata selber "vergegenwärtigen" (61)? Kommt es da zu einer Prolepse der letzten Dinge, zu ihrem gleichsam objektiven Hereinbrechen, oder bleibt es bei ihrer bloßen Antizipation im Glauben, also einer mehr subjektiven Apperzeptionsleistung? Und: Wie verhalten sich Prolepse und Antizipation zueinander? Ist der Glaube, trotz seiner "Schlüsselstellung" (26), am Ende doch nur so etwas wie eine (notwendige) Fiktion über den Himmel, eine selbstgewisse Haltung, "wie wenn wir ihn schon erreicht hätten" (36)?

Historische Hinweise auf eine "spirituelle" Vergegenwärtigung bzw. auf "mystische" Frömmigkeit, die hier im Hintergrunde stehe, klären dies "Hauptproblem" ebensowenig wie die Versicherung, "die gesamte Wahrheit des christlichen Glaubens" sei eben ein "Wunder, das unser Denken durchbricht" (43). Auch ein "Durchbrechen" des Denkens kann nur im und als Denken festgestellt und mitteilbar gemacht werden. Wenn das Jenseitige "unsere Maßstäbe zerbricht" (69), hebt das die Frage nicht auf, woran solches Zerbrechen eigentlich gemessen und wie es verbindlich ausgesagt werden kann. Kernfragen der Eschatologie werden in diesem Buch doch mehr formuliert als diskutiert.

2. Der zweite Hauptteil stellt die Position Karl Barths, Paul Tillichs und die von Paul Althaus d.Ä. denen der Reformatoren gegenüber. Der Vf. gelangt zu dem Ergebnis, "daß im Werk von Paul Althaus... die weiträumigste und alles in allem beste Darstellung der Eschatologie vorliegt, die in der neueren evangelischen Theologie bisher geliefert wurde" (208). Da dies aber noch nicht die volle Antwort auf die Leitfrage sein kann, wie reformatorische Theologie am Beispiel der Letzten Dinge heute zu vertreten ist, müßte diese Antwort im dritten Teil des Buches, unter der Rubrik "Hauptprobleme der Eschatologie heute" (209 ff.) zu finden sein.

3. Im dritten Hauptteil werden zunächst "drei weitere Positionen" moderner Theologie (212) vorgestellt: Bultmann, Moltmann, Pannenberg. Am Ende dieser Exkurse erhält der Leser einen ersten ausdrücklichen Hinweis darauf, "wie reformatorische Theologie unter den Bedingungen der Gegenwart zu vertreten sei" (222). Reformatorische Theologie sei "nicht eine für sich bestehende Tradition, bei der man als solcher stehen bleiben dürfte". Nach eigenem Verständnis wollen die Reformatoren "nichts anderes als Ausleger der Schrift sein. Wer Luther folgen will, der wird von ihm an die Schrift gewiesen" (ibid.). Für ihn gilt, wie für alle Reformatoren, der Grundsatz, "daß der Ansatz bei der Schrift zu nehmen sei" (256). Reformatorische Theologie kann also unter den Bedingungen der Gegenwart nur so vertreten werden, daß der Ansatz beim biblischen Zeugnis ernstgenommen und in einzelner Auslegung wie grundsätzlicher Sachentfaltung durchgeführt wird. Entsprechend fügt der Vf. ein Kapitel über die "Eschatologie des Neuen Testaments" ein (223-255), das gleichsam den ersten Schritt im Nachvollzug reformatorischer Theologie heute darstellen soll.

Man wird aber bezweifeln dürfen, ob der Leser mit diesem Zwischenergebnis (nach immerhin 222 Seiten und mehreren ausführlichen Exkursen) wirklich zufrieden sein kann. War denn für die Einsicht, daß reformatorische Theologie heute nur als schriftgebundene Theologie vertreten werden kann, ein derart ausführlicher Vorlauf vonnöten? Hätte der Vf. diese Einsicht nicht viel schneller gewinnen können, etwa indem er Luthers eigene Exegese, so die des Galaterbriefes, und seine grundsätzlichen Ausführungen zur Schrift stärker herangezogen hätte, anstatt sich mit einem eigenen ­ wie immer treffenden ­ exegetischen Gesamtaufriß abzumühen? Der ganze Abschnitt über die Eschatologie des Neuen Testaments könnte angesichts der Leitfrage des Buches auch fehlen oder doch überflüssig erscheinen.

4. Im vierten Hauptteil ("Das Ende", 280 ff.) wird die Eschatologie im engeren Sinne entfaltet, wobei die gewonnenen "Grundzüge" der ntl. Eschatologie mit den systematisch-theologischen Grundfragen verbunden und die biblischen Einzelaussagen den jeweiligen Teilabschnitten zugeführt werden. Besonders eindrücklich erscheinen des Vf.s Ausführungen zu den Themen Tod (296 ff.) und Hoffnung (339 ff.). Hier erfolgt auch eine umfängliche und detaillierte Auseinandersetzung mit den divergierenden Positionen der Gegenwart.

Das Handbuch der Eschatologie beeindruckt durch seine ungewöhnliche Materialfülle, den hohen Darstellungs- und Dokumentationsaufwand, und wird mit den reichlichen Quellenmitteilungen wie überhaupt seinem Informationsreichtum auf lange Zeit ein schwer zu erschöpfendes Studien- und Arbeitswerk bleiben. Ich wüßte keine andere Darstellung zum Thema, in der ein solcher Reichtum, auch in Berücksichtigung exegetischer Positionen, vereinigt wäre. Aber in dieser Stärke liegt m.E. auch eine Schwäche. Wird hier nicht am Ende zuviel geboten? Schließlich muß der Leser selber die redundant ausgebreiteten Informationen noch einmal systematisch ordnen oder doch nachordnen, um den Reichtum des Buches wirklich nutzen zu können.

Errata: S. 15 (lies Vorgrimler statt: Vorgrimmler); S. 220, n. 16 (die dort gegebene Personalnotiz zu Pannenberg bedarf der Korrektur)