Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

532–534

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kreuch, Jan

Titel/Untertitel:

Unheil und Heil bei Jesaja. Studien zur Entstehung des Assur-Zyklus Jesaja 28–31.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2011. XVII, 550 S. 22,0 x 14,5 cm = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 130. Geb. EUR 79,00. ISBN 978-3-7887-2511-2.

Rezensent:

Konrad Schmid

Die jüngste Jesajaforschung steht im Begriff, vergangene einseitige Datierungsoptionen hinter sich zu lassen und in methodischer Offenheit nach Möglichkeiten plausibler historischer Einordnungen der Texte des Jesajabuches zu fragen. Die von Jan Kreuch vorgelegte Arbeit zum sog. Assur-Zyklus in Jes 28–31 zählt zu diesem neuesten Strang der Forschung und sie erweitert die methodischen Zugangsweisen zum Jesajabuch namentlich um den dezidierten Einbezug assyrischer Quellen, die einen mutmaßlich zeitgenössischen Verstehenshintergrund für verschiedene Textaussagen bieten können.
Der sog. Assur-Zyklus (in leicht variierender textlicher Umgrenzung in Jes 28–31/32) galt der traditionellen Jesajaforschung seit Bernhard Duhm als zweiter literarischer Kern neben Jes 6–8 (oder breiter Jes 1–11) der Jesajaüberlieferung, aus denen das Buch ur­sprünglich entstanden sei. K. bestätigt diese herkömmliche An­sicht in wesentlichen Elementen. In Jes 28,1–4.7–13.14–18.19b.21; 29,1–7.9 f.13.15 f.; 30,1–5.6 f.8–11.12–14.15–17; 31,1–3 erkennt er un­heilstheologische Texte, die »wohl auf Jesaja und/oder seine ersten Tradenten« (498) zurückgehen und in das »ausgehende 8. bzw. frühe 7. Jh. v. Chr. datiert werden können« (ebd.). Sie gehören theologiegeschichtlich in den Streit um die Deutung der abgebrochenen Einschließung Jerusalems 701 v. Chr. durch die Assyrer, die – wie Jes 22,1–14 zeigt – höchst umstritten war. Ist Jerusalem nun gerettet (22,2) oder hat es nach wie vor Gericht zu gewärtigen (28,13 f.)? Die Stücke aus Jes 29–31 lassen sich dabei als Explikationen (K. spricht von einer zweistufigen »Konkretion und Reflexion« [177–247.249–342]) des in Jes 28 Exponierten verstehen, können aber diachron nicht von Jes 28 abgesetzt werden. Die Erfolglosigkeit der Deutebemühungen dieser Jesajatexte bei seinen Hörern und Lesern führte dann im Jesajabuch zur Ausbildung der charakteristischen Verstockungsaussagen. Bezeichnend ist, dass sich in Texten wie Jes 30, 1–5.6 f.; 31,1–3 Rezeptionen assyrischer Propaganda aufweisen lassen, die mit diesem literarischen Mittel die theologische Legitimität Assurs als Gerichtswerkzeug Jhwhs aufzeigen wollen. Die Möglichkeit, dass diese Erstausgabe des Assur-Zyklus im literarischen Zusammenhang mit Teilen aus Jes 1–11 tradiert worden ist, hält K. für denkbar, aber nicht für mit Bestimmtheit erweislich.
Für die redaktionelle Nachgeschichte des Assur-Zyklus im Jesajabuch schließt sich K. zunächst an Hermann Barths These einer spätvorexilischen Assur-Redaktion an, die davon ausgeht, dass mit der Josiazeit das Ende der assyrischen Oberherrschaft gekommen ist und die Heilswende für Israel eingetreten ist. Ihr weist er im Bereich Jes 28–32 die Stücke Jes 29,8; 30.27–33; 31,4 f.8 f. und 32,1–5 zu. Mit diesen Texten verändert sich das Bild des Propheten Jesaja innerhalb seines Buches in deutlichem Maß: Die radikalen Un­-heils­perspektiven der älteren Überlieferungen werden relativiert und zeitlich wie sachlich eingeschränkt.
Exilische Fortschreibungen finden sich möglicherweise in 28, 23–29 und 32,9–14, während 32,15–20* und die Kapitel 33–35* in die mittlere Perserzeit gehören. Mit Jes 30,18–26 ist dem Assurzyklus dann im 4. Jh. v. Chr. der letzte Text eingeschrieben worden, der »dem Volk Israel unumschränktes Heil ankündigt« (508). Weitere Hinzufügungen, im literarischen Horizont deutero- und tritoje­sajanischer Prophetie abgefasst, identifiziert K. in 29,17–24; 28,22; 29,11 f.18, die nun mit einer Scheidung innerhalb Israels rechnen.
K. hat eine ebenso eingehende wie methodenbewusste Analyse von Jes 28–31 vorgelegt, deren textliche Sorgfalt und historische Umsicht hervorzuheben sind. Gleichwohl stellen sich einige Fragen, die der weiteren Klärung bedürfen.
Zunächst wird die von K. unter den wenig glücklichen Kategorien einer »Hermeneutik des Vertrauens« bzw. einer »Unschuldsvermutung« (5) verhandelte methodische Präferenz gegen »exzessive Spätdatierungen« kritisch zu diskutieren sein. Die forschungsgeschichtliche Dynamik steht, zumindest in gewissen Strängen, ohnehin auf Seiten von K., so dass kein Anlass besteht, diese durch einseitige Weichenstellungen künstlich zu verstärken. In methodischer Hinsicht ist sowohl die Annahme wie auch die Bestreitung der »Jesajanität« eines Textes ein gleicherweise begründungspflichtiger Akt. Weder maximalisierende noch minimalisierende Interpretationen der Jesajaüberlieferung können jeweils der anderen Seite die Begründungslast ihrer Optionen zuweisen. In der tatsächlichen Durchführung seiner Textanalysen verfährt K. dann auch in angemessener Weise offen, die Zuweisung eines ansehnlichen Textbestandes von Jes 28–31 in die Zeit des 8. und 7. Jh.s v. Chr. bedarf keiner »Hermeneutik des Vertrauens«, sondern muss durch entsprechend hinreichende Beobachtungen und Argumente ge­deckt werden.
Dann ist zu fragen, ob die in der Prophetenforschung zwar weit verbreiteten, aber doch einigermaßen pauschalen Kategorien von »Unheil« und »Heil« so zutreffend sind, dass mit ihnen das Eigengepräge der Texte und die Dynamik ihrer innerbiblischen Weiterentwicklung hinreichend differenziert beschrieben werden kann. Natürlich sind diese Charakterisierungen gut eingebürgert, doch der eingeübte Gebrauch stellt noch keine hinreichende Legitimation dar. Möglicherweise kommt man um detailliertere inhaltliche Beschreibungen der Inhalte nicht herum, wenn man nicht dichotomischen Vereinfachungen verfallen will.
Weiter stellt sich die Frage des literarischen Horizontes der Textanalysen. Zwar fragt K. bewusst nach dem »Jesaja-Buch als sinntragende[m] Ganze[n]« (512), doch die kontextuelle Wahrnehmung der Einzeltexte konzentriert sich weitgehend auf den Zu­sam­menhang des Assur-Zyklus. Namentlich das Verhältnis zu Jes 6–8 bzw. 1–11 bleibt in nicht vollumfänglich befriedigender Weise offen. Deutliche Berührungen wie diejenige zwischen 28,13b und 8,15 (114) werden in traditioneller Weise als angleichende Nachträge in 28–31 interpretiert, eine eingehende Prüfung einer möglichen grundständigen Vertrautheit der Texte in 28–31 mit denjenigen in Jes 1–11 wird nicht erkennbar.
Schließlich wirft der angestellte Vergleich bzw. die Erhebung von »Wechselwirkungen zwischen protojesajanischer und Jerusalemer Kulttradition« (519) Fragen auf. Hier scheint eine schon in der Fragestellung angelegte Kategorienvermischung vorzuliegen. Die »protojesajanische Tradition« ist nicht in gleicher Weise eine »Tradition« wie die »Jerusalemer Kulttradition« (519), deshalb spricht das von K. in diesem Zusammenhang angeführte Zitat von Peter Welten auch von »Überlieferung des Jesajabuches« (519, Anm. 39). Entsprechend wirkt es irreführend, die berechtigte Frage nach dem Einfluss der wachsenden Jesajaüberlieferung auf die Jerusalemer Kulttradition als »Wechselwirkung« zwischen zwei Traditionen zu behandeln. Überzeugend ist etwa der Hinweis darauf, dass das Völkersturmmotiv wohl in der Tat im Jesajabuch entwickelt worden ist und von daher auf die Jerusalemer Kulttradition eingewirkt haben könnte (519 f.). Aber ein solcher Vorgang macht die Jesajaüberlieferung noch nicht zu einer eigenständigen Tradition – jedenfalls nicht, wenn man sich an die von Odil Hannes Steck vorgeschlagene Terminologie und Methodologie zur traditionsgeschichtlichen Fragestellung halten will.
Insgesamt hat K. eine beeindruckende Arbeit vorgelegt, die die binnentextliche Organisation und die historischen Hintergründe von Jes 28–31 sorgfältig erhebt und analysiert. Die weitere Forschung zu diesem Textbereich wird an ihr nicht vorbeigehen können.