Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

529–530

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Voß, Rebekka

Titel/Untertitel:

Umstrittene Erlöser. Politik, Ideologie und jü­disch-christlicher Messianismus in Deutschland, 1500–1600.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 257 S. m. 14 Abb. 23,2 x 15,5 cm = Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, 11. Geb. EUR 62,95. ISBN 978-3-525-56900-9.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Die Arbeit geht auf eine durch S. Rohrbacher (Düsseldorf) betreute Dissertation zurück, die Vfn. wirkt inzwischen als Juniorprofessorin in Frankfurt. Die überzeugend ausgefallene integrative Ana­lyse von jüdischem Messianismus und christlicher Apokalyptik macht deutlich, wie dynamisch die religiös-kulturelle Interaktion zwischen Juden und Christen im 16. Jh. war und wie diese in einem faktisch asymmetrischen, aber von vergleichbaren Absolutheits­ansprüchen und apokalyptischen Endzeiterwartungen geprägten Verhältnis Gestalt gewann.
Ein erstes Kapitel thematisiert die »christliche Wahrnehmung jüdischer Messiashoffnung« unter den Hauptaspekten des messianischen Betrugs und den Schreckenserwartungen eines jüdischen »Messias der Vergeltung«. Unterstrichen wird, dass diese Erwartungen vielfach in Ritus und Brauchtum des Judentums der Zeit wiederzufinden sind, ausgehend von den biblischen Prophezeiungen über den Fall Edoms. Entsprechend ist die einschlägige Polemik von Konvertiten wie J. Pfefferkorn und A. Margaritha in der Sache ernst zu nehmen, zugleich aber muss dem Phänomen der jüdischen Selbstzensur angesichts einer feindlichen Umwelt Rechnung getragen werden.
Kapitel 2 analysiert erstmals in diesem Umfang die messia­nische Bußbewegung des Ascher Lemlein als Beispiel für die intensive jü­disch-christliche Interaktion um 1500. Sie gehört zur Vorgeschichte der messianischen Erregung, wie sie nach 1523 mit dem Auftreten von David Re’uveni und Salomo Molcho um sich griff.
Das folgende Kapitel zeigt anhand von fünf Fallbeispielen, wie eng jüdische Messiashoffnung und christliche Apokalyptik in den 1520er und 1530er Jahren miteinander verwoben waren. Zunächst geht die Vfn. auf die christliche und jüdische Vorstellung von den sog. verlorenen zehn Stämmen Israels ein. Dabei legt sie plausibel dar, wie die christliche Bezeichnung »rote Juden« in den jiddischen Sprachgebrauch übernommen wurde, ein schönes Beispiel einer counter-history (A. Funkenstein): Was Christen als Gegenentwurf zur jüdischen Erwartung der Rückkehr der zehn verlorenen Stämme konstruierten – die »roten Juden« als Weggefährten des Antichrists –, wurde in der altjiddischen Literatur zur Gegengeschichte von den »roten Juden« als Wegbereitern des Messias. Ein weiterer, mit der vorigen Thematik verbundener Abschnitt behandelt die »Restitution Israels als chiliastische Legitimation des Weltgeschehens«.
Die Nachrichten vom angeblichen Vordringen der »roten Ju­den« in Richtung Jerusalem, wie sie 1523 in deutschen Flugschriften verbreitet wurden, sind wichtige Zeugnisse des frühen Wirkens von David Re’uveni und einer veränderten Vorstellung von den »roten Juden«, die nun als Befreier Jerusalems von islamischer Herrschaft auftraten. Hierfür suchte Re’uveni christliche Unterstützung in Europa – freilich verbunden mit der Hoffnung, dass am Ende Christentum und Islam zusammen untergehen würden. Christlicherseits begünstigte die nun offenbar als möglich eingeschätzte Rückkehr der Juden ins Heilige Land die auffällige (Neu-) Ausbildung der chiliastischen Sonderlehre von der Restitution Israels bei M. Cellarius (Borrhaus) und W. Capito. Die Vorstellung von den »roten Juden« beflügelte demnach bei Juden und Christen die Auseinandersetzung mit den realpolitischen Implikationen apokalyptischer Geschichtsdeutung. Ein weiteres Beispiel jüdisch-christlicher Interaktion wird im Abschnitt »Augustin Bader: Der jüdische Messias, ein schwäbischer Täufer?« geboten, der auf A. Schuberts wichtige Arbeit zu Bader zurückgreifen kann. Besonders wichtig erscheint der folgende Abschnitt, der auf die von der christlichen Endkaiserprophetie geprägten, bislang vernachlässigten jü­dischen Endkaiserweissagungen eingeht, die Karl V. als »letztem Kaiser Edoms« eine wichtige Rolle im apokalyptischen Drama zu­schrieben. U. a. zeigt sich hier, wie die apokalyptischen Endzeiterwartungen auch einen »Realpolitiker« wie Josel von Rosheim prägten. Ein letztes Fallbeispiel bietet »David Re’uvenis und Salomo Molchos Ende in Regensburg«. Hierbei findet auch der über an­derthalb Jahrhunderte andauernde messianische Märtyrerkult um Molcho in Prag Erwähnung, der in manchem an den christlichen Heiligenkult erinnert. Das Schlusskapitel zieht auf übersichtliche Weise Bilanz.
Insgesamt bietet die Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Messianismusforschung im Bereich des aschkenasischen Judentums, bereichert aber vor allem die Einsichten in die Wechselwirkung jüdischer und christlicher Endzeiterwartungen im Kontext real­-politischer Herausforderungen. Mit »Konflikt«, »Ablehnung« und »Be­fruchtung« (194) dürften die wichtigsten Kategorien literarischer wie praktischer Interaktion zwischen Juden und Christen im behandelten Themenbereich (und darüber hinaus) richtig benannt sein. Ein Exkurs zur Numismatik (zur sog. »Lemlein-Medaille«) schließt den inhaltlichen Teil ab. Literaturverzeichnis, Sach-, Personen- und Ortsregister sowie 14 Abbildungen folgen. Kurzum: Uns liegt eine ausgesprochen lesenswerte Arbeit vor, die sich durch Perspektivenreichtum, sorgfältige Verarbeitung der Literatur und ausgewogene Argumentation auszeichnet. Wie eng dabei der beabsichtigte Anschluss an das ambitionierte, praktisch in vielerlei Hin­sicht aber offene und bislang eher idealtypisch strukturierte Forschungskonzept der Histoire croisée (19) ausfiel, sei dahingestellt.
Kleinere Unstimmigkeiten (wie »Flugblätter« statt »Flugschriften«, 125, oder die großzügige Zuordnung der Wende vom 15. zum 16. Jh. zur »Zeit der protestantischen Reformation«) fallen weiter nicht ins Gewicht. Eine Fortsetzung der Arbeit für das 17. und 18. Jh. wäre sehr zu wünschen.