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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

526–528

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Rowland, Christopher, and Christopher R. A. Morray-Jones

Titel/Untertitel:

The Mystery of God. Early Jewish Mysticism and the New Testament. Ed. by P. W. van der Horst and P. J. Tomson.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2009. XXVII, 685 S. 24,6 x 16,8 cm = Compendia Rerum Iudaicarum ad Novum Testamentum, 12. Geb. EUR 199,00. ISBN 978-90-04-17532-7.

Rezensent:

Beate Ego

Mit der wissenschaftlichen Edition und Übersetzung der Hekhalottexte, wie sie in den 80er und 90er Jahren des 20. Jh.s durch Peter Schäfer und sein Team geleistet wurde, konnte die Erforschung der frühen jüdischen Mystik auf eine neue Grundlage gestellt werden, die nicht nur für die Religionsgeschichte des antiken Judentums, sondern auch für die neutestamentliche Wissenschaft neue Impulse brachte. Diese Fragestellung nach der Beziehung zwischen den mystischen Traditionen des antiken Judentums und den neutestamentlichen Überlieferungen erfährt hier eine Annäherung von zwei Richtungen aus:
In einem Abschnitt des Buches, überschrieben mit »Things into which Angels Long to Look: Approaching Mysticism from the Perspective of the New Testament and the Jewish Apocalypses«, führt Christopher Rowland ganz generell in die Thematik ein. Der Begriff »Mystik« bzw. »mystische Traditionen« wird dabei zunächst auf die apokalyptischen Überlieferungen aus der Zeit des Zweiten Tempels bezogen, da diese – wie auch die mystischen Traditionen im engeren Sinne – darauf abzielen, durch göttliche Offenbarung Einsicht in die göttlichen Wahrheiten und das Universum zu erlangen bzw. Gemeinschaft mit der himmlischen Welt zu erfahren. Der zeitliche Aspekt, d. h. die Frage nach dem Ende der Welt, ist dabei nur ein Bereich, der dem Phänomen insgesamt nicht gerecht zu werden vermag. Dieser erste Teil des vorliegenden Werkes hat Überblicks-charakter. Nach einer allgemeinen Einführung in die Thematik »Mystik und Neues Testament« und grundlegenden Ausführungen zur apokalyptischen Vorstellungswelt unternimmt Rowland eine Art Bestandsaufnahme antik-jüdischer Motive, die er als »mystisch« qualifiziert, und verweist des Weiteren auch auf das Vorkommen dieser Motive in der neutestamentlichen Überlieferung. Zu den hier verhandelten Themen gehören »Enoch in Jewish and Christian Tradition«, »Revelation and the Apocalyptic Visions of God«, mystische Elemente in den Evangelien und den Acta (darunter die Engel in den lukanischen Kindheitsgeschichten, Taufe und Verwandlung, der Menschensohn in Mt 25,31–45 u. a.) sowie das Motiv der Himmelsreise und der Transformation (zu 2Kor 12, 2–4 und 2Kor 3), zum verborgenen und offenbarten Christus (zu Hebr, Eph und 1Joh) sowie zur Tradition vom Aufstieg Jesajas und zu 1Petr, wobei auch die Frage der Beziehung zwischen Apokalyptik und Gnosis reflektiert wird. In einem zusammenfassenden Kapitel unterstreicht Rowland die Bedeutung apokalyptischer Traditionen für das frühe Christentum, wobei er insbesondere auf die Verbindung von Paränese und Paraklese sowie den identitätsbildenden Faktor dieser Traditionen aufmerksam macht. Apokalyptische Traditionen, so postuliert er hier ganz generell, haben mit ihren Ideen die Entwicklung sozialer Bewegungen vorangetrieben (3–215).
Die beiden anderen großen Kapitel des umfangreichen Werkes, verfasst von Christopher R. A. Morray-Jones, setzen bei den Hekhalot-Traditionen ein, um von hier aus auf die neutestamentliche Überlieferung zu blicken. In Teil II des Werkes, überschrieben mit »Divine Names, Celestial Sanctuaries, and Visionary Ascents: Ap­proaching the New Testament from the Perspective of Merkava Traditions«, vermittelt Morray-Jones zunächst einen ganz generellen Überblick zu den Überlieferungen der Merkaba-Mystik in der rabbinischen Literatur und den Hekhalottexten in inhaltlicher und formaler Hinsicht. Im Mittelpunkt seiner manchmal etwas langatmigen Ausführungen steht hier die Überlieferung von den »Vieren, die den Pardes betraten«. Gegen Peter Schäfer oder David Halperin postuliert er eine deutliche Priorität der Überlieferung in Hekhalot Zutarti gegenüber den rabbinischen Quellen mHag 2,1 und bHag 15a/b. Damit gelingt ihm natürlich der entscheidende »Streich«, da auf diese Weise implizit der Beweis für das relativ hohe Alter der Hekhalottraditionen erbracht wird, deren textliche Überlieferung ja spätantik, wenn nicht frühmittelalterlich ist.
»The data suggest that heavenly ascent practices associated with the vision of God’s kavod, as described in Ezek 1 and other biblical throne-theophanies were inherited from apocalyptic circles and enthusiastic­ally developed by some early rabbis but were opposed by others, partly because these traditions were also being developed by groups whom they regarded as heretical, namely Christians and (loosely speaking) Gnostics. While it cannot be assumed that everything in the hekhalot literature goes back to the first two centuries, the writers’ claim to have inherited traditions from that time and milieu deserves to be taken very seriously« (264).
Vor diesem Hintergrund wird nun die Himmelsreise des Paulus in 2Kor 2,1–12 be­trachtet, wobei Morray-Jones verschiedene Parallelen aufzeigen kann wie den enigmatischen Charakter der Überlieferung und die Motivik des Aufstiegs und des himmlischen Heiligtums im höchs­ten Himmel. Diese Ähnlichkeiten lassen sich – so Morray-Jones – nur durch eine beiden Überlieferungen gemeinsame Tradition erklären, die bereits in der Mitte des 1. Jh.s vorlag (219–500).
Von Christopher R. A. Morray-Jones stammt auch der dritte große Teil dieses Werkes: »The Body of the Glory: Approaching the New Testament from the Perspective of Shiur Koma Traditions« (501–610). Dieser letzte Teil führt in die sog. Shiur-Qoma-Über­lie­fe­rungen ein, also in verschiedene antik-jüdische Traditionen, die in einer phantasievollen Auslegung der Gestalt des Geliebten im Ho­henlied die überdimensionalen Ausmaße der göttlichen Gestalt schildern. Ein weiteres wichtiges Kennzeichen dieser Überlieferungen ist es, so Morray-Jones, dass diese die Ansicht vertreten, dass es Israels Gottesdienst ist, der den Leib der Herrlichkeit manifestiert. Vorstellungen dieser Art möchte Morray-Jones in die vorrabbi­nische Zeit zurückverfolgen und verweist in diesem Zusammenhang auf Überlieferungen der Sekte der Magharier, denen er ein so hohes Alter zugesteht. Im Hinblick auf die Exegese der neutestamentlichen Überlieferungen könnten diese Traditionen vor allem für Eph 1,17–23 oder Eph 3,18–19 interessant sein, jedoch lassen sich diese Einflüsse nicht mit Sicherheit belegen. Der voluminöse Band schließt mit einer ausführlichen Bibliographie (611–646) sowie mit einem Quellenverzeichnis (647–677) und einem Sach- und Namenregister (678–685).
Der Grundtenor dieses Werkes liegt eindeutig darin, das insgesamt hohe Alter der jüdischen Hekhalot-Traditionen zu postulieren und von den Texten auf konkrete mystische Erfahrungen zu schließen. Dieser Ansatz ist in den Forschungen zur jüdischen Mystik schon oft diskutiert worden und auch nicht unhinterfragt geblieben. Während Überlegungen zur Relation von Literatur und Erfahrung hier in dieser Publikation keine Rolle zu spielen scheinen (s. hierzu aber vorbildlich Bernd Heininger, Paulus als Visionär. Eine religionsgeschichtliche Studie [HBS 9], Freiburg u. a. 1996, 36–39), ist es den Verfassern zugute zu halten, dass sie mit methodischer Redlichkeit und Aufrichtigkeit an die ihnen aufgegebenen Sachverhalte herangehen und sich ernsthaft um den Aufweis des hohen Alters der Hekhalot-Traditionen bemühen. Eine eigenständige, weiterführende Beschäftigung mit der Thematik wird nicht umhinkommen, weitere Arbeiten zur Hekhalotliteratur zu konsultieren, die ja häufig ein viel späteres Datum dieser Überlieferungen annehmen möchten (s. z. B. die Arbeiten von P. Schäfer). Wie man sich letztlich auch zur hier vorgenommenen Frühdatierung der Motivik stellen mag, so ist insgesamt doch darauf hinzuweisen, wie hilfreich diese jüdischen Texte sind, um sich einen Vorstellungsraum aufzubauen, innerhalb dessen sich der moderne Leser den schwierigen neutestamentlichen Texten und ihrem Weltbild im weitesten Sinne anzunähern vermag.
Durch die zahlreichen Informationen, die Referate und Dis­-kussionen zur älteren Forschungsliteratur und die ausführliche Bib­liographie (die allerdings schon in den frühen Jahren unseres Jahrzehnts abbricht), stellt dieses Werk – wenn auch vor allem im zweiten Teil an manchen Stellen etwas langatmig und redundant und überhaupt nicht das, was man von eine Kompendium erwartet – ein gutes Hilfsmittel dar, das einen fundierten Einstieg in die Beschäftigung mit den Traditionen der frühen jüdischen Mystik ermöglicht.