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Ausgabe:

Mai/2012

Spalte:

523–525

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Im Auftrag d. Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hrsg. v. D. Diner.

Titel/Untertitel:

Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 1: A – Cl.

Verlag:

Stuttgart/Weimar: Metzler 2011. XXXIII, 517 S. m. Abb. u. Ktn. 26,5 x 18,4 cm. Lw. EUR 229,95. ISBN 978-3-476-02501-2.

Rezensent:

Michael Tilly

Eine umfassende Erschließung der neueren Geschichte des Judentums als integraler Bestandteil der allgemeinen Geschichte ist die Zielsetzung der im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften im Rahmen des Leipziger Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur erarbeiteten und von seinem gegenwärtigen Direktor herausgegebenen Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Das auf sechs umfangreiche Teilbände und einen Registerband angelegte Gesamtwerk soll in insgesamt ca. 800 Artikeln aus der Hand von ca. 450 internationalen jüdischen und nichtjüdischen Autoren den gegenwärtig erreichten Stand der Jüdischen Studien abbilden und diesen auch eine neue Entwick-lungsrichtung vorschlagen. Es versteht sich dabei als ein originäres Nachschlagewerk sowohl dahingehend, dass es nicht auf faktographische Vollständigkeit nach den Vorgaben eines traditionellen jüdischen Wissenskanons abzielt, als auch dahingehend, dass es als ein »kanonisches Vorhaben postkanonischen Charakters« (VII) durchweg einen zwischen Tradition und nachtraditioneller Verfremdung vermittelnden innovativen Zugang wählt.
In seiner Einführung erläutert der Herausgeber die Aufgabenstellung und den Plan des lexikographischen Unternehmens. So sollen sämtliche Lemmata (eingeteilt in Schlüsselartikel, Dachartikel und Einzelartikel) aus drei ineinander verschränkten Perspektiven Betrachtung erfahren, nämlich 1. aus der Innensicht der jüdischen Selbstverständigung, 2. aus der Außensicht mittels der wissenschaftlichen Disziplinen und 3. im Hinblick auf den uni­versellen Bedeutungsaspekt des jüdischen Lebens. D. merkt zunächst an, dass dem – das neuzeitliche Judentum in seiner Vielgestaltigkeit durchweg bestimmenden – »Prozess der Verwandlung, Verschiebung, Verflüssigung und Auflösung von traditionellen Merkmalen der Zugehörigkeit« besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden müsse (VIII). Die Konzentration dieser Betrachtung auf die Zeitperiode zwischen 1750 und 1950 entspreche der Bedeutung dieser begrenzten Epoche »zwischen der beginnenden Emanzipation und den Ausläufern der Katastrophe« (IX). Innerhalb dieser Periodisierung jüdischer Zeiten und Lebenswelten ist eine deutliche Fokussierung auf das 19. Jh. als politischer, wissens- und religionsgeschichtlicher Bezugspunkt zu erkennen. Unterbrochen werden die gewählten Periodisierungsgrenzen überall dort, wo eminent Außerhistorisches, wie z. B. das jüdische Religionsgesetz, zu berück-sichtigen ist (X).
In der allgemeinen Systematik der übergreifenden thematischen Aspekte (Judentum, Judenheiten in ihrer regionalen, ethnischen und nationalen Ausdifferenzierung, jüdische Personen und Persönlichkeiten, Phänomene der Judenfeindschaft, Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkung des Holocaust) folgen die Artikel dem Bild konzentrischer Kreise abnehmender Heiligkeit (XII). In der Enzyklopädie enthalten sind zunächst Einträge, die im binnenjüdischen Diskurs, insbesondere hinsichtlich der innerjüdischen Aufklärungskultur, hohen Sinn- und Deutungswert aufweisen. Dagegen wird auf die explizite Behandlung sämtlicher »-ismen« verzichtet. Als Mittel der Darstellung dienen sowohl faktographische Einträge als auch ikonische Denkfiguren wie das Konzept des Erinnerungsortes im Sinne einer »topographischen Symbolisierung von für Juden und das Judentum ikonischen Texten« (XIII). Letzteres Konzept diene auch der Konstruktion einer jüdischen Topographie der Erkenntnis und der Erinnerung. Hinsichtlich ihrer Bedeutung unterscheidet die Enzyklopädie jüdischer Ge­schichte und Kultur zwischen Erinnerungsorten erster Ordnung (Orte, die im jüdischen Gedächtnis selbstverständlich geläufig sind), zweiter Ordnung (Orte, die für verschiedene Ereigniszuweisungen stehen) und dritter Ordnung (Orte, die als im Werden begriffene Ereignisikonen zu betrachten sind). Eine besondere Be­deutung kommt den Memorialzentren des Holocaust zu (z. B. »Auschwitz«, »Breendonk«).
Während der Artikel »Alexandria« beispielsweise vor allem die Werke des Aristobulos, des Aristeas und Philons behandelt, konzentriert sich der Artikel »Antwerpen« auf das wirtschaftliche und politische Geschehen im 19. Jh. Inhaltliche Spezifikationen verbergen sich auch unter den Einträgen »Amerika« (jüdische Literaturgeschichte in den USA), »Babi Jar« (Wahrnehmung des Holocaust in der Sowjetunion), »Bagdad« (Jüdische Musikgeschichte in der islamischen Welt), »Basel« (1. Zionistenkongress), »Bombay« (Bene Israel und die Juden von Cochin), »Breslau« (Jüdisch-Theologisches Seminar) sowie »Buchenwald« (Erinnerungskultur in der DDR).
Die einzelnen Lexikonartikel folgen durchweg dem Schema »Exposition – Darstellung – Bibliographie« (Letztere gegliedert in Quellen und Sekundärliteratur). Den Artikeln beigegeben sind Abbildungen und Karten (schwarz-weiß). Die verwendeten Tran-skriptionen folgen dem Regelwerk der Library of Congress. Eigentümlich ist die Form der Artikel, die Einzelpersonen und ihr Werk thematisieren. Die Darlegungen folgen hier durchweg keinem expliziten Personeneintrag, sondern einem (durch punktuellen Bezug, Assoziation und Resonanz geprägten) lemmatischen Eintrag, dessen Emblematik seinerseits die Gestaltung, den Zuschnitt, die Reichweite und die Beschränkung der Darlegung in vermittelnder Weise vorgibt (XIV).
So behandelt der Artikel »Alexanderplatz« Leben und Werk Alfred Döblins. Unter dem Eintrag »Alterität« geht es um Emmanuel Levinas. Weitere Beispiele für dieses verfremdende Gestaltungsprinzip sind die Artikel »Altneuland« (Theodor Herzl), »Anerkennung« (Alexandre Kojève), »Angelus Novus« (Walter Benjamin), »Anthropologie« (Franz Boas), »Atempause« (Primo Levi), »Auferstehung« (Gustav Mahler), »Bezalel« (Boris Schatz), »Bibliographie« (Moritz Steinschneider), »Bi’ur« (Moses Mendelssohn) oder »Biedermeier« (Moritz Daniel Oppenheim).
Die in dem enzyklopädischen Werk enthaltenen Wissensbereiche und Themenfelder untergliedern sich in drei Sektionen. Der Bereich »Text und Textkultur« subsumiert Einträge zu verschiedenen jüdischen Textkorpora, zur jüdischen Gelehrsamkeit, zu religiösen Strömungen, (religiösen und nichtreligiösen) literarischen Werken und Autoren sowie zu traditionellen und aktuellen medialen Ausdrucksformen (z. B. »Bibelkritik«, »Bibliotheca Bodleiana«, »Buchdruck«, »Buchmalerei«). Der Bereich »Institution, Recht und Politik« umfasst Einträge zur jüdischen Gemeindeautonomie und ihren Institutionen, zur äußerlichen Rechtssetzung und zur jü­-dischen Politik und Diplomatie sowie zu jüdischen kulturgeographischen Bereichen (z. B. »Autonomie«, »Aschkenas«, »Balfour-De­klaration«, »Bann«, »Bet din«, »Beta Israel«, »B’nai B’rith«, »Bund«, »Central-Verein«, »Claims Conference«). Themenfelder des dritten Bereichs »Phänomene jüdischer Lebenswelten« sind jüdische Alltagskulturen, Ritus, Sakralität und Frömmigkeit, Körperlichkeit und Geschlechterrelation sowie Berufe und Professionen (z. B. »Ar­chitektur«; »Badkhn«, »Balegule«, »Baseball«, »Blackface«, »Boxen«, »Broadway«, »Bürgertum«, »Chemie«).
Die Einträge bewegen sich durchweg auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau und sind dabei zumeist gut lesbar. Natürlich lassen sich auch kleinere Unschärfen und Mängel attestieren. Im Verhältnis zu der beachtlichen Textmenge sind diese jedoch sehr gering. So ist z. B. die Bedeutung der Textfunde von Qumran als Quelle für die Anfänge und Entwicklung des frühen Christentums m. E. eher gering (144). Und bei der Behandlung jüdischer deutscher Bibelübersetzungen fehlt die Nennung der Namen Simon Bernfelds, Jakob Auerbachs und Salomon Herxheimers (317). Das generelle Problem, dass der eigentliche Gegenstand eines Artikels allein durch seine Überschrift in vielen Fällen nicht zu identifizieren ist, dürfte erst mit dem Erscheinen des Registerbandes vollständig gelöst sein. Wer das Werk vor allem als bloßes Hilfsmittel zum eigenen wissenschaftlichen Arbeiten benutzen will, wird sich wohl an seinem »nachmodernen« Aufbau stören. Wer sich jedoch auf den (schlüssig und nachvollziehbar begründeten) Ansatz des Herausgebers einlässt, der wird bei der Lektüre der Artikel immer wieder mit einer Fülle von Informationen, Einsichten und Anregungen belohnt. Bereits der erste Band der Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur stellt in eindrucksvoller Weise unter Beweis, dass der gewählte »postkanonische« Zugang zur jüdischen Geschichte und Kultur einen immensen Er­kenntnisgewinn bedeuten kann.