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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

387–406

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Johannes Fischer

Titel/Untertitel:

Die religiöse Dimension der Moral als Thema der Ethik1

Natürlich macht man sich seine Gedanken, worüber man aus An­lass einer Abschiedsvorlesung sprechen soll. Ich habe mich dafür entschieden, die Beziehung zwischen Moral und Religion zum Thema dieser Vorlesung zu machen. Diese Beziehung hat mich seit meiner Dissertation beschäftigt. Ausgelöst wurde dies durch die Wahrnehmung einer tiefen Diskrepanz zwischen derjenigen Auffassung des menschlichen Lebens und Zusammenlebens, die in der biblischen und christlichen Überlieferung begegnet, und der Mo­ralauffassung, die das ethische Denken der Moderne kennzeichnet und in der für die christliche Sicht des menschlichen Lebensvollzugs kein Platz ist. Dies führte mich zuerst in meiner Dissertation zur Auseinandersetzung mit der Handlungstheorie und später zur Beschäftigung mit den Grundlagen der Moral, insbesondere was die Bedeutung von Emotionen für die Moral betrifft. Im Fokus meines Interesses stand dabei die folgende Frage: Ist die Religion der Moral äußerlich in dem Sinne, dass diese zwar mit einem religiösen Überbau versehen oder als autonome Moral in einen christlichen Kontext gestellt werden kann, aber selbst keinerlei Affinität zur Religion aufweist? Oder gibt es eine innere Beziehung zwischen der Moral und jener Dimension, mit der es das religiöse Fragen und Denken zu tun hat, und lässt sich die in der christlichen Überlieferung begegnende Auffassung des menschlichen Lebensvollzugs von dieser Beziehung her als etwas einsichtig machen, das auch der heutigen Ethik zu denken geben sollte, und zwar nicht nur der theologischen, sondern auch der philosophischen Ethik? Diese Frage ist Gegenstand dieser Vorlesung.

Es sind im Wesentlichen zwei Thesen, die ich vertreten werde. Erstens: Es gibt eine innere Beziehung zwischen der Moral und jener Dimension, mit der es die Religion zu tun hat, und diese Beziehung ist in der moralischen Erfahrung angelegt und hat mit der emotionalen Fundiertheit der Moral zu tun. Wichtig ist mir bei dieser These die Unterscheidung zwischen der Dimension, mit der es die Religion zu tun hat, und einem religiösen Glauben wie dem christlichen, der in einer inhaltlich bestimmten, durch eine religiöse Überlieferung geprägten Wahrnehmung und reflektierenden Deutung dieser Dimension besteht. Ich behaupte also ausdrück­lich nicht, dass man, um moralisch sein zu können, einem religiösen Glauben anhängen muss.

Dass die Moral eine Affinität zur Religion hat oder haben soll, stößt heute bei vielen Ethikerinnen und Ethikern auf Unverständnis und Widerspruch. Das wirft die Frage auf, woher dieses Unverständnis kommt. Hierauf bezieht sich meine zweite These: Die Be­ziehung zwischen Moral und Religion wird durch eine Moralauffassung in die Latenz abgedrängt, die die Moral auf das menschliche Handeln reduziert, wie dies in der heutigen Ethik Standardauffassung ist, auch in der theologischen Ethik. In dieser Reduktion auf das Handeln liegt eine Verkürzung des Phänomens der Moral, die auf einem Irrtum bezüglich des Gegenstandes evaluativer mora­-lischer Wertungen, also bezüglich des moralisch Gu­ten beruht. Das moralische Gute zeigt sich nicht in Handlungen und auch nicht in Handlungsmotiven, Handlungsdispositionen oder Charakterzügen von Personen, sondern in einer bestimmten Art von Verhalten wie freundlichem, liebevollem oder fürsorglichem Verhalten, bei dem Emotionen eine spezifische Bedeutung zukommt. Die Beziehung zwischen der Moral und jener Dimension, auf die sich das re­-ligiöse Fragen und Denken bezieht, ist in solchem Verhalten angelegt. Im letzten Teil der Vorlesung werde ich auf die Konsequenzen eingehen, die sich aus diesen Überlegungen für die Ethik und insbesondere für die theologische Ethik ergeben.

Ich beginne mit der Kritik der handlungszentrierten Standard­auffassung der Moral. Exemplarisch für diese Auffassung ist das folgende Zitat aus Dieter Birnbachers Buch »Analytische Einführung in die Ethik«:

»Im Mittelpunkt der Moral stehen Urteile, durch die ein menschliches Handeln positiv oder negativ bewertet, gebilligt oder missbilligt wird. Neben Urteilen über Handlungen gehören zur Moral auch Urteile über moralische Verpflichtungen, moralische Urteile über Personen, Motive, Absichten und Verhaltensdispositionen, moralische Emotionen, moralische Ideale und Utopien und bestimmte normative Menschenbilder. Aber alle diese weiteren Stücke aus dem moralischen Repertoire stehen in einem unverkennbaren Bezug zum menschlichen Handeln als ihrem letztlichen Zielpunkt und beinhalten Urteile über dieses Handeln. Personen, Motive, Absichten und Handlungsdispositionen werden als moralisch löblich oder verwerflich beurteilt in dem Maße, in dem sie in der Regel zu moralisch zu billigendem oder zu missbilligendem Handeln führen …« 2

Der erste Satz dieses Zitats besteht genau genommen aus zwei Be­hauptungen: 1. Im Mittelpunkt der Moral stehen moralische Urteile. 2. In der Moral dreht sich letztlich alles um das menschliche Handeln.

In Bezug auf beide Behauptungen besteht in der heutigen Ethik ein breiter Konsens. Ich halte sie beide für falsch. Auf die erste Behauptung kann ich hier nicht ausführlich eingehen, aber ich will doch wenigstens auf ihre Problematik verweisen.3 Sie hat eine Auffassung von Ethik zur Folge, wonach deren Aufgabe in der Begründung moralischer Urteile besteht. Philosophische und theologische Ethik scheinen sich dann in der Art der Begründung solcher Urteile zu unterscheiden. Während die philosophische Ethik dazu auf Gründe der Vernunft rekurriert, rekurriert die theologische Ethik auf Prämissen des christlichen Glaubens wie z. B. die Gott­ebenbildlichkeit des Menschen. Das ist eine verbreitete Auffassung gerade innerhalb der evangelischen Ethik, und manche meinen, hieran geradezu das Proprium einer evangelischen Ethik erkennen zu können. Nun macht freilich diese erste Behauptung nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass wir uns, wenn wir uns moralisch orientieren, an moralischen Urteilen orientieren. Doch ist das alles andere als plausibel. Denken wir uns den Fall, dass wir an einem Teich vorbeikommen, in dem ein kleines Kind zu ertrinken droht. Zweifellos handelt es sich hier um einen moralisch relevanten Sachverhalt. Was gibt uns Grund, ins Wasser zu springen und das Kind zu retten? Ist dies das Urteil, dass es in einem solchen Fall moralisch geboten ist, das Kind zu retten? Stellen wir uns vor, jemand würde auf die Frage, warum er ein Kind vor dem Ertrin-ken gerettet hat, zur Antwort geben: »Es ist moralisch geboten, ein Kind aus einer solchen Gefahr zu retten.« Wo im wirklichen Leben be­gründen Menschen ihr Handeln in dieser Weise? Müssten wir nicht aus dieser Antwort schließen, dass es dem Betreffenden eigentlich gar nicht um das Leben des Kindes ging, sondern vielmehr darum, das moralisch Richtige zu tun? Erachten wir nicht einen solchen Menschen als moralisch rigide, wenn nicht gar als psychisch gestört, weil ihm offensichtlich der Sinn dafür abgeht, worauf es in einer solchen Situation ankommt, und er somit das Wesentliche mit dem Unwesentlichen verwechselt? Dies zeigt, wie irreführend eine Auffassung der Moral ist, die das moralische Urteil ins Zentrum stellt. Sie beruht auf einer Verwechslung von moralischen Urteilen mit Handlungsgründen. Und sie führt zu einer Umstellung der ethischen Reflexion von Klugheit auf Scharfsinn. Klugheit ist der Sinn für die relevanten Gründe, auf die es bei einer Entscheidung oder Handlung ankommt. Wird demgegenüber das moralische Urteil ins Zentrum der Moral gerückt, dann tritt an die Stelle der klugen Erwägung der Gründe für moralisches Handeln die scharfsinnige Konstruktion von Argumenten für mo­ralische Urteile. Dass es sich hierbei um zwei verschiedene Arten von Gründen handelt, nämlich einerseits um praktische, d. h. solche, die Grund geben für ein bestimmtes Handeln, und andererseits um theoretische, d. h. solche, mit denen die Wahrheit von Urteilen begründet wird, gerät dabei aufgrund der Gleichsetzung von moralischen Urteilen mit Handlungsgründen ganz aus dem Blick­feld. So kommt es zu der eigenartigen Meinung, man könne praktische Gründe für Handlungen aus ethischen Theorien wie dem Utilitarismus ableiten, deren Sinn und Zweck einzig und allein darin liegt, moralische Urteile argumentativ zu begründen. Diese Meinung liegt dem heute dominanten regelethischen Denken zugrunde. Nicht zuletzt haben gewisse Kommunikationsprobleme zwischen der professionellen Ethik und den Praktikern in den verschiedenen beruflichen Bereichen hier ihre Ursache. Denn für die Entscheidung der Fragen, mit denen die Praktiker wie z. B. Ärztinnen und Ärzte konfrontiert sind, braucht es Klugheit, die nur durch Erfahrung erworben werden kann, und nicht Scharfsinn in Bezug auf die argumentative Begründung moralischer Urteile.

Doch zurück zu jenem Birnbacher-Zitat. Im Folgenden soll es um die zentrale Behauptung dieses Zitats gehen, nämlich dass sich in der Moral letztlich alles um das Handeln dreht. Wie sich am Ende dieses Zitats andeutet, korrespondiert der Überzeugung von der Zentralstellung des Handelns in der Moral eine bestimmte Auffassung bezüglich deontischer und evaluativer moralischer Wertungen, die man quer durch die ethischen Lehrbücher von William Frankena bis zu Dieter Birnbacher antrifft. Deontische Wertunge n– richtig, falsch, geboten, verboten, erlaubt usw. – beziehen sich auf Handlungen. Evaluative Wertungen – gut, schlecht, löblich, verwerflich usw. – beziehen sich demgegenüber auf Handlungsmotive, Dispositionen oder Charakterzüge von Personen.4 Diese Zuordnung evaluativer Wertungen ist die Konsequenz der Meinung, dass sich in der Moral letztlich alles um das Handeln dreht. Als Gegenstand evaluativer moralischer Wertungen bleibt dann nämlich nur dasjenige übrig, was zu Handlungen motiviert oder disponiert. Folgerichtig ergibt sich aus dieser Auffassung die These eines epistemischen Primats des Richtigen gegenüber dem Guten. Wir müssen zuerst wissen, welche Handlungsweisen in welchen Typen von Situationen richtig sind, bevor wir wissen können, welche Motive bzw. Dispositionen gut sind, denn sie sind nur dann gut, wenn sie zum richtigen Handeln motivieren bzw. disponieren.

Zur Verdeutlichung der Problematik dieser Auffassung muss man sich vergegenwärtigen, was eine Handlung ist, und ich muss daher einen kleinen Ausflug in die Handlungstheorie unternehmen. Will man verstehen, was eine Handlung ist, dann ist die grundlegendste Frage, die hier zu stellen ist, die Frage, wie uns Handlungen gegeben sind. Hierzu muss man sich Folgendes vergegenwärtigen: Ob ein Verhalten, das wir an einem anderen Menschen beobachten, eine Handlung oder zum Beispiel nur eine un­willkürliche Körperbewegung ist, das lässt sich mit letzter Bestimmtheit nur klären, indem wir den Betreffenden fragen. Das bedeutet, dass uns Handlungen in der Verständigung über sie ge­geben sind. Hierin liegt die entscheidende Differenz zwischen Handlungen und bloßen Ereignissen wie etwa Naturereignissen, bei denen es eine solche intersubjektive Verständigungsmöglichkeit nicht gibt.

Die konstitutive Bedeutung der Verständigung für das Phänomen des Handelns manifestiert sich vor allem in einem Sachverhalt, der für die Ethik von entscheidender Bedeutung ist, nämlich dass es für Handlungen Gründe und Motive gibt. Gründe und Motive sind nichts anderes als Antworten auf Warum-Fragen. Wir können den Grund einer Handlung nicht anders in Erfahrung bringen als dadurch, dass wir den Betreffenden fragen, und der Grund ist dasjenige, was uns seine Antwort zu verstehen gibt. In der Tatsache, dass Handlungen Gründe und Motive haben, spiegelt sich die Frage-Antwort-Struktur unseres Verstehens am Leitfaden der Warum-Frage wider.

Aus alledem wird deutlich, dass es sich bei dem, was wir als Handlungen thematisieren, um Verständigungskonstrukte handelt. Das meint: Handlungen sind nicht einfach empirische Tatsachen in der Welt, die unabhängig von unserer Verständigung über sie gegeben sind. Sie sind vielmehr etwas, das erst in der Verständigung über sie konstituiert wird. In der Verständigung über Handlungen und deren Gründe und Motive wird eine Struktur über unser Verhalten gelegt, die dieses im Augenblick seines Vollzugs nicht hat. Augenfällig ist dies an spontanem Verhalten. Wer auf der Straße einem Bekannten spontan zuwinkt, der tut dies nicht intentional ›aus einem Grund‹ im Sinne einer Antwort auf eine vorausgehende Warum-Frage. Denn in diesem Fall wäre das Winken nicht spontan. Aber er kann, wenn man ihn fragt, einen Grund dafür nennen: »Das ist ein guter Bekannter von mir.«

Nicht zuletzt ist die Handlungsfreiheit an die Perspektive der Verständigung über Handlungen geknüpft. Kant zufolge besteht Freiheit in dem Vermögen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anfangen zu können. Frei handelt mithin, wer der Urheber seines Handelns und seiner Folgen ist. Als Urheber seines Handelns aber betrachten wir den, der sein Handeln hinreichend aus Gründen verständlich machen kann, so dass nicht – wie bei unverständlichem Verhalten z. B. aufgrund psychischer Störungen – hinter ihn zurück nach verhaltensbestimmenden Ursachen gefragt werden muss. Handlungsfreiheit manifestiert sich somit in den plausiblen Gründen von Handlungen. In aller Verständigung mit einem anderen über die Gründe seines Handelns ist solche Freiheit unterstellt, und zwar allein dadurch, dass wir uns mit ihm verständigen und ihn nach Gründen fragen, statt uns – wie bei psychischen Störungen – über ihn zu verständigen und sein Verhalten aus Ursachen zu erklären.

Die Reduktion der Moral auf das menschliche Handeln führt zu einem Bild des menschlichen Zusammenlebens, das man als moralischen Atomismus bezeichnen kann. Es ist das Bild einer Assoziation von Individuen, deren jedes der selbstbestimmte Urheber seiner Handlungen ist. Dies ist das Bild, das in der heutigen Ethik vorherrscht. So viel zunächst zum Verständnis des Handelns.

Entscheidend für alles Weitere ist die Einsicht, dass es sich bei Handlungen um Verständigungskonstrukte handelt. Sie wirft die Frage auf, wie dasjenige, was wir in der Verständigung als ein Handeln aus einem Grund oder einem Motiv thematisieren, jenseits der Verständigungsperspektive in Erscheinung tritt. Dies führt zu dem, was ich im Folgenden als Verhalten bezeichne und von einer Handlung unterscheide. Um das mit diesem Ausdruck Gemeinte in den Blick zu bekommen, möchte ich noch einmal auf die Standardauffassung zurückkommen, wonach deontische Wertungen sich auf Handlungen und evaluative Wertungen sich auf Motive, Dispositionen oder Charakterzüge beziehen. Ich möchte demge­genüber deutlich machen, dass diese Auffassung aus einer unklaren Vorstellung davon resultiert, was ein Motiv oder eine Disposition ist, und dass dasjenige, was wir evaluativ bewerten, in Wahrheit ein Verhalten ist. Was ich als religiöse Dimension der Moral bezeichne, hat es mit dieser Verhaltensdimension zu tun.

Vordergründig hat die Standardauffassung hinsichtlich des Gegenstandes evaluativer Wertungen eine große Plausibilität. Wenn zwei Personen in zwei gleichen Situationen genau gleich handeln, aber aus unterschiedlichen Motiven, die eine z. B. aus Mitgefühl, die andere aus Berechnung und Habgier, dann treffen wir in Bezug auf ihre Handlungen unterschiedliche evaluative Wertungen, und zwar, wie es scheint, weil wir ihre Motive unterschiedlich bewerten. Also scheint sich die evaluative moralische Bewertung ursprünglich auf Handlungsmotive und von dorther abgeleitet auf die daraus resultierenden Handlungen zu beziehen.

Bei genauem Zusehen jedoch stellt sich der Sachverhalt anders dar. Wenn wir etwas, z. B. Mitleid, als ein Motiv thematisieren, dann thematisieren wir es mit Bezug auf eine Handlung, für die es Motiv ist. Abgesehen davon ist Mitleid ein Gefühlszustand, aber kein Motiv. Daher lässt sich ein Motiv nicht separat von der Handlung evaluativ bewerten, für die es Motiv ist. Angenommen, je­mand wird gefragt, warum er einem anderen geholfen hat, und er antwortet: »Ich hatte Mitleid mit ihm.« Diese Äußerung nennt uns das Motiv, dies allerdings nur, wenn sie als Antwort auf die Frage nach dem Warum seines Handelns begriffen wird. Abgesehen da­von handelt es sich um die Schilderung eines Gefühlszustands. Wenn wir daher das, was uns diese Antwort zu verstehen gibt, evaluativ als gut bewerten, dann ist dasjenige, was wir bewerten, nicht, dass er Mitleid mit ihm hatte, sondern dasjenige, was diese Äußerung als Antwort auf die gestellte Frage beinhaltet, nämlich dass er dem anderen aus Mitleid geholfen hat. Wir bewerten also nicht zuerst separat von der Handlung ein Motiv und von daher abgeleitet die Handlung, sondern wir bewerten sein Handeln aus diesem Motiv, d. h. sein Verhalten. Was wir beispielsweise in der Samaritererzählung (Lk 10,30 ff.) als moralisch gut bewerten, ist nicht das Mitgefühl des Samariters (jemand könnte Mitgefühl empfinden, ohne zu helfen) und nicht sein Handeln (es könnte aus Berechnung und Spekulieren auf Belohnung erfolgen), sondern sein Handeln aus Mitgefühl, d. h. sein barmherziges Verhalten. Während die Rede von Handlungen eine Trennung macht zwischen der Handlung und ihrem Motiv, und zwar eine Trennung, die aus der Frage-Antwort-Struktur der Verständigung über Handlungen resultiert, ist bei der Rede von barmherzigem Verhalten die Barmherzigkeit essentieller Bestandteil des Verhaltens.

Das also ist das Ergebnis meines Arguments: Um dasjenige zu be­zeichnen, worin die Moral sich äußert, reicht der Begriff des Handelns nicht aus. Wir benötigen vielmehr zwei Begriffe, den des Handelns und den des Verhaltens, und zwar Letzteren, um den Gegenstand evaluativer moralischer Wertungen zu bezeichnen. Die Unterscheidung zwischen Handeln und Verhalten ist nicht in dem Sinne misszuverstehen, dass wir einerseits handeln und andererseits uns auch noch verhalten können. Allem, was wir in der Verständigung als Handeln thematisieren, liegt vielmehr ein Verhalten zugrunde, das freilich in solcher Verständigung außerhalb des Blickfelds und unthematisch bleibt, insofern die Aufmerksamkeit hier ganz auf das Handeln, d. h. auf den Bereich des Deontischen, gerichtet ist.

Der Unterscheidung zwischen Handeln und Verhalten korrespondiert eine entsprechende Unterscheidung zwischen Motiven und Dispositionen. Die Rede von Motiven bezieht sich auf Handlungen. Wenn jemand auf die Frage, warum er etwas Bestimmtes getan hat, zur Antwort gibt, dass er eifersüchtig war, dann nennt er damit sein Motiv. Sein Handeln aus diesem Motiv lässt sich als ›eifersüchtiges Verhalten‹ beschreiben. Die Erklärung für dieses Verhalten besteht nun nicht wiederum in einem Motiv, sondern in seiner Eifersucht als einer Verhaltensdisposition. Die Unterscheidung zwischen Motiven und Dis­positionen ist insbesondere im Blick auf die Rede von Tugenden von Bedeutung. Tugenden wie Großzügigkeit oder Tapferkeit sind nicht Motive für Handlungen, sondern Dispositionen oder Einstellungen in Bezug auf ein entsprechendes Verhalten. Auch hieran zeigt sich die Notwendigkeit, den Begriff des Verhaltens als einen zweiten, eigenständigen Grundbegriff der Moral ne­ben dem des Handelns zu begreifen.

Der Unterscheidung zwischen Handlungen und emotional be­stimmtem Verhalten kommt deshalb eminente Bedeutung zu, weil solches Verhalten Wirkungen hat, die über die Folgen der Handlungen, mit denen es verbunden ist, hinausgehen. In ihm teilt sich atmosphärisch dasjenige anderen mit, was es als Verhalten charakterisiert: Mitgefühl, Wohlwollen, Güte usw. Unser Leben wäre arm, wenn es diese Dimension nicht gäbe und wenn wir es nur mit Handlungen und ihren Folgen zu tun hätten. Wir können etwas freundlich oder unfreundlich, liebevoll oder lieblos, fürsorglich oder gleichgültig tun, und dies hat Auswirkungen auf die Person, der gegenüber wir es tun.

Damit komme ich auf die Bedeutung zu sprechen, die Emotionen für die Moral zukommt. Anders als bei der Thematisierung von Emotionen als Motive für Handlungen, bei der sie als etwas vorgestellt werden, das im Inneren des Handelnden als des Ursprungs der Handlung lokalisiert ist und von dort her sein Handeln bestimmt, treten in emotional bestimmtem Verhalten Emotionen wie Mitgefühl oder Liebe nach außen in Erscheinung und wirken sich solchermaßen atmosphärisch auf andere aus. Wir können Liebe in einer Geste der Zärtlichkeit sehen, Zorn kann als Brüllen, Schleudern von Gegenständen einen Raum füllen usw. Ich verweise hier auf die Emotionstheorie von Hermann Schmitz, die Gefühle als »Atmosphären«5 begreift und dabei solche Phänomene im Blick hat. Während bei der Rede von Handlungen die Emotion als etwas erscheint, das von der Handlung getrennt gewissermaßen hinter der Handlung als deren Motiv lokalisiert ist, gibt es hier keine Trennung zwischen der Emotion und dem Verhalten, sondern die Emotion manifestiert sich in dem Verhalten. Illustrativ hierfür ist wiederum die Samaritererzählung, die ein Verhalten schildert, in dem sich vor Augen stellt, was ›Liebe zum Nächsten‹ heißt. Liebe ist hier dieses Verhalten, und sie ist nicht etwas davon Getrenntes. Begriffe wie Liebe oder Barmherzigkeit bezeichnen emotional bestimmte Verhaltensgestalten, und das damit Gemeinte kommt in einem Verhalten zur Anschauung.

Aufgrund dieser Manifestation nach außen kann emotional bestimmtes Verhalten für den Betrachter eine erschließende Bedeutung für moralische Phänomene haben. Der australische Philosoph Raimond Gaita verdeutlicht diesen Sachverhalt an folgendem Beispiel.6 Als junger Mensch arbeitete er in einer psychiatrischen Klinik, in der schwer psychotische Patienten behandelt wurden. Wie er schreibt, bewunderte er jene Psychiater, die die Überzeugung vertraten, dass auch diese Patienten Menschenwürde haben und darin uns gleich sind. Eines Tages kam eine Nonne in die Klinik, und Gaita beobachtete, wie sie diesen Patienten begegnete. Die Art, wie sie mit ihnen sprach, ihre Mimik und Gestik, ihr ganzes Verhalten drückte aus und machte sichtbar, was es heißt, dass diese Menschen uns gleich sind. Im Vergleich dazu schien das Bekenntnis jener Psychiater zur Menschenwürde dieser Patienten einen Zug von Herablassung zu haben. Für Gaita macht dieses Beispiel deutlich, wie Liebe als etwas, das sich im Verhalten eines Menschen manifestiert, die Würde von Menschen sichtbar machen und erschließen kann.

Oben wurde bei der Erörterung des Handlungsbegriffs gefragt, wie uns Handlungen gegeben sind, und die Antwort war, dass sie uns in der Verständigung über sie gegeben sind. Dieselbe Frage lässt sich im Blick auf das Verhalten stellen, und hier ist die Antwort, dass uns Verhalten als der Gegenstand evaluativer moralischer Wertungen in der Anschauung und Vorstellung gegeben ist. Dies wird durch Gaitas Nonnenbeispiel ebenso illustriert wie durch die Samaritererzählung. Verhalten ist uns somit ursprünglicher gegeben als das Handeln. In jeder Kommunikation zwischen Menschen spielt die Verhaltensdimension eine entscheidende Rolle, in der Mimik, Gestik, der Körperhaltung usw. Über die atmosphärische Ausstrahlung dieser Dimension baut sich das Vertrauen auf, auf das Menschen im Umgang miteinander elementar angewiesen sind. Der Unterschied zwischen Handeln und Verhalten schlägt sich nicht zuletzt in einem charakteristischen Unterschied zwischen deontischen und evaluativen Wertungen nieder. Wie gesagt, wird in der Verständigung über Handlungen gemäß der Frage-Antwort-Struktur des Verstehens eine Trennung vollzogen zwischen der Handlung und ihrem Grund, als welcher die betreffende Situation thematisch wird. Dies hat für die deontische Wertung zur Folge, dass diese Handlungen relativ zu Situationen bewertet: So zu handeln ist in einer solchen Situation richtig (und in einer anderen falsch). Beim Verhalten gibt es diese Trennung nicht. Vielmehr haben wir hier immer schon ein Verhalten in einer gegebenen Situation vor Augen, und dieses ist es, was wir evaluativ bewerten: Sich so in einer solchen Situation zu verhalten ist gut. Das mo­ralisch Gute kommt als ein »emotional bestimmtes Verhalten in einer gegebenen Situation« in dem Gesamtzusammenhang zur Anschauung, der in der Verständigung über Handlungen zertrennt wird in die Handlung, ihren Grund in Gestalt der betreffenden Situation sowie ihr Motiv in Gestalt der beteiligten Emotion.

Aus der Einsicht in die Bedeutung der Verhaltensdimension für die Moral ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen. Die erste be­trifft die Frage des epistemischen Primats. Hier kehren sich die Dinge insofern um, als die deontische Beurteilung von Handlungen sich als ein emotional bestimmtes Verhalten begreifen lässt, bei dem Emotionen wie Wohlwollen, Vergeltungsdrang, Missgunst usw. eine Rolle spielen können. Daher müssen wir uns in moralischer Hinsicht zuerst unserer emotionalen Verhaltenseinstellungen vergewissern, von denen wir uns in unserem Urteilen, Entscheiden und Handeln bestimmen lassen, da hiervon abhängt, wie wir urteilen, entscheiden und handeln. Damit ergibt sich ein epistemischer Primat des Guten gegenüber dem Richtigen. Man denke etwa an die immer wieder aufflammenden öffentlichen Debatten über die Frage, ob man bei besonders brutalen Gewalttaten Jugendlicher die Haftstrafen verschärfen soll. Wir mögen uns hier dabei ertappen, dass wir uns bei der Beurteilung dieser Frage von Vergeltungsinstinkten angesichts entsprechender Zeitungsberichte haben leiten lassen, und wir mögen dann unser Urteilen aus dem Motiv solcher Instinkte heraus, also unser Urteils-Verhalten, evaluativ als fragwürdig beurteilen und uns solchermaßen von unserem Urteil distanzieren. Dieser epistemische Primat der Verhaltenseinstellungen, von denen wir uns in unserem Urteilen, Entscheiden und Handeln leiten lassen, ist gerade für die christliche Ethik von entscheidender Bedeutung (vgl. z. B. 1Kor 16,14).

Die zweite Konsequenz betrifft das Problem von Freiheit und Abhängigkeit. Handlungsfreiheit, so habe ich ausgeführt, ist an die Perspektive der Verständigung mit einem Handelnden gebunden. Sie zeigt sich in den Gründen, die jemand auf die Frage nach dem Warum seines Handelns nennt. Mit ihnen präsentiert er sich als der Urheber seines Handelns. Demgegenüber bezieht sich der Be­griff des emotional bestimmten Verhaltens auf etwas, das der Perspektive der Verständigung über Handlungen vorausliegt und bei dem ungetrennt ist, was innerhalb dieser Perspektive in Handlungen einerseits und deren Gründe und Motive andererseits zertrennt wird. Das bedeutet, dass es für derartiges Verhalten keine Gründe gibt und somit auch keine Urheberschaft des Sich-Verhaltenden. Denn all das gibt es nur innerhalb der Verständigung über Handlungen. Wir können in der Samaritererzählung zwar das Handeln des Samariters dessen Urheberschaft zuschreiben – und das beruht, wie die Rede von Handlungen überhaupt, auf der fiktiven Unterstellung der Verständigungsperspektive –, nicht aber sein barmherziges Verhalten. Wir können dies schon deshalb nicht, weil dieses Verhalten ein Widerfahrnismoment enthält in Gestalt des Affiziertwerdens durch die Situation dessen, den der Samariter auf seinem Weg fand. Das ist nichts, was er in freier Selbstbestimmung tut. Hierin zeigt sich die entscheidende Differenz zwischen Handeln und Verhalten: Während eine Handlung von ihrem emotionalen Beweggrund bzw. Motiv unterschieden und getrennt ist, ist bei emotional bestimmtem Verhalten die betreffende Emotion dessen konstitutiver Bestandteil. Daher können zwar Handlungen der Urheberschaft des Handelnden zugeschrieben werden, jedoch nicht derartiges Verhalten, da wir über unsere Emotionen nicht selbstbestimmt verfügen. Das bedeutet, dass wir in Bezug auf die eigentlich fundamentale Ebene der Moral nicht selbstbestimmt, sondern abhängig und angewiesen sind. Innerhalb der theologischen Tradition ist diese Abhängigkeit als Unfreiheit des menschlichen Willens thematisiert worden. Gemeint ist damit, dass Menschen aus sich selbst heraus unfähig sind zu den emotionalen Verhaltenseinstellungen, die sie einander schulden und in denen das menschliche Zusammenleben seine Grundlage hat. 7

Dies führt mich nun zu dem, was ich die religiöse Dimension der Moral nenne. Ich sagte, dass in emotional bestimmtem Verhalten die betreffende Emotion nach außen in Erscheinung tritt, dass wir z. B. Liebe in einer Geste der Zärtlichkeit sehen können oder dass Zorn als Brüllen, Schleudern von Gegenständen usw. einen Raum füllen kann. In mythischen und religiösen Überlieferungen hat das Atmosphärische, das in solchen Erfahrungen gegenwärtig ist, seine sprachliche Artikulation in dem Wort ›Geist‹ ( pneuma) als Bezeichnung einer numinosen Wirklichkeit, und das Denken in diesen Überlieferungen ist darauf gerichtet zu verstehen, mit welcher Wirklichkeit der Mensch es hier zu tun hat. Sie wird, wie gesagt, aufgrund ihres atmosphärischen Charakters in der Weise ihrer Präsenz erfahren, und das findet darin seinen Niederschlag, dass sie mit Namen verbunden wird, die das jeweils Präsente be­nennen. Um Kurt Hübner aus seinem Buch »Die Wahrheit des Mythos« zu zitieren: »Die Liebe ist Anwesenheit der Aphrodite, der Krieg Anwesenheit des Ares usf.« 8 Die Narrationen dieser Überlieferungen sind Symbolisierungen dieser Wirklichkeit, die Orientierung im Umgang mit ihr ermöglichen, und sie beziehen ihre Plausibilität daraus, dass das, was sie erzählen, in derartigen Präsenzerfahrungen von Phänomenen wie Liebe, Krieg, Grausamkeit usw. wiedererkannt und erlebt wird. Liebe wird dann als Gegenwart der Aphrodite, Krieg als Gegenwart des Ares erlebt. Hübner vertritt bekanntlich die These, dass das Weltbild des Mythos auf seine Weise genauso rational ist wie unser wissenschaftliches Weltbild. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass der Mythos derartige Präsenzerfahrungen zu verarbeiten sucht.

Nun könnte nach dem Gesagten der Eindruck entstehen, dass die Dimension, mit der die Religion es zu tun hat, allein in der Moral angelegt ist. Das ist eine eher moderne Auffassung, wie man sie etwa bei Kant findet, bei dem die Religionsphilosophie ein An­hang der Moralphilosophie ist. Demgegenüber gilt es zu sehen, dass die Unterscheidung zwischen der Wirklichkeit, wie sie der Anschauung und Vorstellung im Modus ihrer Präsenz gegeben ist, und der Wirklichkeit, wie sie in der Verständigung über sie aus der Perspektive der Kopräsenz der daran Beteiligten gegenständlich ist, nicht nur für den Bereich der Moral, sondern für den gesamten Be­reich der menschlichen Erfahrung grundlegend ist. Wir be­wegen uns ständig in verschiedenen Präsenzräumen, einerseits im Raum der unmittelbaren Präsenz eines Ereignisses, andererseits im Raum der Kopräsenz mit anderen, mit denen wir uns über dieses Ereignis verständigen, das dann nicht mehr im Modus seiner Präsenz da ist, sondern im Modus der Gegenständlichkeit, nämlich als Gegenstand solcher Verständigung. Man kann sich dies am ersten Kapitel von Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« verdeutlichen, wo ein Verkehrsunfall geschildert wird und die Art und Weise, wie darauf reagiert wird. Einerseits ist da die Präsenz dieses Ereignisses in seinem ganzen Schrecken. Andererseits be­steht die Reaktion darauf darin, dass man Ursachenforschung betreibt und sich über die Länge der Bremsspur des Un­glückswagens und andere Details dieser Art austauscht. Damit wird das Ereignis in die Perspektive der Verständigung über es vom Standpunkt der Kopräsenz der daran Beteiligten aus gezogen, und das schafft eine Distanz zur Präsenz dieses Ereignisses. Das ist ja eine häufig zu beobachtende Reaktion auf derartige Vorkommnisse: Man sucht nach Erklärungen, die das Geschehene irgendwie fassbar machen. Doch wird damit dasjenige erklärt, was das Ereignis in seiner Präsenz, seinem Schrecken ausmacht? Oder um ein anderes Beispiel zu nehmen: Die historische Wissenschaft kann heute sehr genau nachzeichnen und erklären, wie es zur Machtergreifung der Nationalsozialisten und in der Folge zum Holocaust kam. Doch ist damit die Frage beantwortet, wie dieses Entsetzliche geschehen konnte, eine Frage, die auf die Präsenz dieses Geschehens reagiert, wie sie in den Bildern aus den befreiten Konzentrationslagern vor Augen ist mit zu Skeletten abgemagerten Menschen, mit Bergen von Schuhen und Brillen, die an jene erinnern, die das nicht überlebt haben? Zu den Missverständnissen, denen die Religion ausgesetzt ist, gehört die Meinung, dass sie Antwort auf derartige »metaphysische« Warum-Fragen gibt und solche Entsetzlichkeiten mit einem höheren Sinn versieht. Tut sie das? Wenn man sich die biblischen Psalmen anschaut, dann erfahren die Klagen, die dort an Gott adressiert werden, kaum je eine Antwort. Worin liegt dann der Trost der Psalmen? Vielleicht kann hier eine Parallele zum Mythos erhellend sein. Der von den Erinnyen gehetzte Oedipus findet Zuflucht in einem heiligen Hain, der dem Gott Apoll geweiht ist. Da können die Rachegöttinnen nicht hinein, und zwar weil dieser Hain von der Präsenz des Apoll erfüllt ist. So wird hier die eine Präsenz, nämlich die des Apoll, zur Zuflucht vor einer anderen Präsenz, nämlich derjenigen der Erinnyen. Könnte man nicht sagen, dass es sich in der christlich-religiösen Erfahrung ganz ähnlich verhält, nur dass es hier nicht um heilige Orte geht, sondern um Texte und rituelle Vollzüge, die in den Präsenzraum des Rettenden in Gestalt der Gegenwart des Heiligen vermitteln in Anbetracht der Präsenz der das Leben bedrohenden Chaosmächte? Dann wäre es dies, was den Trost der Psalmen ausmacht. Diese Präsenz, wie sie der religiösen Erfahrung gegeben ist, wird in die Latenz abgedrängt, wenn die Wirklichkeit, auf die sich der religiöse Glaube bezieht, in die Vergegenständlichungs-Perspektive der Verständigung über sie vom Standpunkt der Kopräsenz der daran Beteiligten gezogen wird, wie dies z. B. mit der Frage geschieht, ob Gott existiert. Wir leben seit der Aufklärung in einer Kultur, in der die Perspektive der Verständigung allen Wirklichkeitsbezug usurpiert hat. Wirklich ist das, was uns in dieser Perspektive gegenständlich ist. Das reicht bis in die Auffassung der Sprache, deren Telos dann die Verständigung zu sein scheint. Es ist genau dies, was in der Moraltheorie dazu führt, dass die Moral auf das Handeln reduziert wird, das uns in der Verständigung über es gegenständlich ist. Die atmosphärische Präsenz emotional bestimmten Verhaltens und ihre Bedeutung für das menschliche Zusammenleben geraten solchermaßen ganz aus dem Blickfeld.

Es ist die prekäre Situation des Menschen, dass er einerseits in seinem Lebensvollzug elementar auf diese Dimension angewiesen, andererseits aber ihrer nicht mächtig ist und dass diese Dimension sein Leben sowohl zum Guten lenken als auch in Abgründe reißen kann. Die beglückendsten Erfahrungen, die Menschen machen können, haben mit dieser Dimension zu tun, und das gilt nicht nur für den privaten, sondern auch für den politischen und öffentlichen Bereich. So mag man an die Begeisterung denken, die die Menschen beim Fall der Berliner Mauer erfasst hat – das war ein Moment höchsten Glücks. Dasselbe gilt jedoch auch für die ab­gründigsten Erfahrungen, etwa wenn Menschen sich voller Begeisterung in kollektivem Wahn in ihr Unglück stürzen. Es sind Er­fahrungen wie diese, die dem modernen Bestreben, die Moral an die rationale Rechtfertigung unserer Handlungen zu binden, deren freie und selbstbestimmte Urheber wir zu sein scheinen, seine große Plausibilität verleihen. Die Erfahrungen des 20. Jh.s jedoch machen die Frage unabweisbar, ob damit das Unheil nicht eher heraufbeschworen wird, das man solchermaßen zu bannen sucht. Um noch einmal auf Musil zurückzukommen: Ziemlich gegen Ende von »Der Mann ohne Eigenschaften« lässt er dessen Hauptfigur Ulrich Reflexionen über die Brüchigkeit einer Moral anstellen, die einseitig an den Verstand gebunden wird mit der Folge, dass man es vernachlässigt, die Gefühle zu entwickeln, obwohl die Moral von ihnen abhängig ist, und dies führt ihn zu Überlegungen zur Bedeutung der ›Geist‹-Dimension:

»Er war im Begriff gewesen, von dem zu wenig beachteten Unterschied zu sprechen, dass die verschiedenen Zeitläufte den Verstand in ihrer Weise entwickelt, die moralische Phantasie aber in ihrer Weise fixiert und verschlossen haben. Er war im Begriff gewesen, davon zu sprechen, weil die Folge ist: eine trotz aller Zweifel mehr oder weniger geradlinig durch alle Wandlungen der Geschichte aufsteigende Linie des Verstandes und seiner Gebilde, dagegen ein Scherbenberg der Gefühle, der Ideen, der Lebensmöglichkeiten, wo sie in Schichten so liegen, wie sie als ewige Nebensachen entstanden und wieder verlassen worden sind. … Weil alles in allem die Folge ist, dass die Affektivität in der Menschheit hin und her schwankt wie Wasser in einem Bottich, der keinen festen Stand hat.« 9

Musil verdeutlicht dies – kurz vor Beginn des Dritten Reiches – am Phänomen der Begeisterung:

»Ein Wesen ist der Mensch, das nicht ohne Begeisterung auskommen kann. Und Begeisterung ist der Zustand, worin alle seine Gefühle und Gedanken den gleichen Geist haben. Du meinst, beinahe im Gegenteil, sie sei der Zustand, wenn ein Gefühl übermächtig stark sei, ein einziges, das – Hingerissensein! – die anderen zu sich hinreißt? Nein, du hast darüber gar nichts sagen wollen? Immerhin, es ist so. Es ist auch so. Aber die Stärke einer solchen Begeisterung ist ohne Halt. Dauer gewinnen die Gefühle und Gedanken nur aneinander, in ihrem Ganzen, sie müssen irgendwie gleichgerichtet sein und sich gegenseitig mitreißen. Und mit allen Mitteln, mit Rauschmitteln, Einbildungen, Suggestion, Glauben, Überzeugung, oft auch nur mit Hilfe der vereinfachenden Wirkung der Dummheit, trachtet ja der Mensch, einen Zustand zu schaffen, der dem ähnlich ist. Er glaubt an Ideen, nicht weil sie manchmal wahr sind, sondern weil er glauben muss. Weil er seine Affekte in Ordnung halten muss. Weil er durch eine Täuschung das Loch zwischen seinen Lebenswänden verstopfen muss, durch das seine Gefühle sonst in alle vier Winde gingen. Das richtige wäre wohl, statt sich vergänglichen Scheinzuständen hinzugeben, die Bedingungen der echten Begeisterung wenigstens zu suchen. Aber obwohl alles in allem die Zahl der Entscheidungen, die vom Gefühl abhängen, unendlich viel größer ist als die jener, die sich mit der blanken Vernunft treffen lassen, … erweisen sich nur die Verstandesfragen als überpersönlich geordnet, und für das andere ist nichts geschehen, was den Namen einer gemeinsamen Anstrengung verdiente oder auch nur die Einsicht in ihre verzweifelte Notwendigkeit andeutete …« 10

Darin liegt die Gefahr der Katastrophe, des »Massenunglücks«:

»Melde eben …, das sei der Tausendjährige Glaubenskrieg. Und noch nie seien die Menschen so schlecht gegen ihn gerüstet gewesen wie in dieser Zeit, da der Schutt ›des vergeblich Gefühlten‹, den ein Zeitalter über dem anderen hinterläßt, Bergeshöhe erreicht hat, ohne dass etwas dagegen geschähe. Das Kriegsministerium darf also beruhigt dem nächsten Massenunglück entgegensehen.«11

Folgt man dieser Diagnose, dann ist es gerade das Bestreben, die Moral der rationalen Kontrolle durch den Verstand zu unterwerfen und sie dazu vom Gefühl abzukoppeln, das dadurch zur »ewigen Nebensache« wird, welches dem Irrationalismus in Gestalt eines orientierungslos gewordenen Gefühls den Boden bereitet, das »Halt« und »Dauer« sucht, indem es sich an »Ideen« und Irrglauben festmacht. Wenn man darüber nachdenkt, worin das Unheil be­gründet war, das Musil in diesen Sätzen hellsichtig vorwegnimmt: Ist dies die Tatsache, dass die Menschen damals nicht rational genug gedacht haben? Oder ist es nicht vielmehr die Tatsache, dass vielen von ihnen die elementaren Gefühle der Menschlichkeit abhanden gekommen sind, ohne die es keinen Sinn für Recht und Unrecht gibt? Was ist Menschlichkeit? Kann uns dazu eine Ethik etwas sagen, die ihre Aufgabe in der rationalen Begründung von moralischen Richtigkeitsurteilen sieht und die die Moral dabei von der Anschauung und vom Gefühl so unabhängig wie möglich zu ma­chen sucht?

In mythischer und religiöser Hinsicht führt diese tiefe Abgründigkeit des Menschlichen zu der Frage, welche Mächte oder Kräfte es sind, die solchermaßen das menschliche Leben bestimmen, und woran der Mensch sich dementsprechend ausrichten soll. Diesbezüglich schreibt die christliche Überlieferung das Gelingen menschlichen Lebens und Zusammenlebens der Präsenz von Gottes Geist zu: »Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit …« (Gal 5,22). Die Rede ist hier nicht von subjektiven Empfindungen oder Gefühlszuständen, auch nicht von Tugenden, wie dies Meinung innerhalb der katholischen Mo­raltheologie ist, 12 sondern von Gestalten emotional bestimmten Verhaltens, die für den zwischenmenschlichen Umgang von fundamentaler Bedeutung sind. Während Gefühlszustände und Tu­genden etwas sind, das von Personen prädikativ ausgesagt wird, ist bei der Rede von ›liebevollem Verhalten‹ die Liebe eine adverbiale Be­stimmung, die etwas darüber aussagt, wie ein Verhalten ist, nämlich liebevoll. Das Wirken von Gottes Geist manifestiert sich auf eine Weise, die ihre sprachliche Artikulation in adverbialen Bestimmungen des menschlichen Lebensvollzugs hat. Dies unterscheidet den ›Geist der Liebe‹ (2Tim 1,7) von einem Gefühl der Verliebtheit, das von einer Person prädiziert wird.13 Was hier »Geist« heißt, das ist auch einer profanen Perspektive nicht schlechterdings fremd. So können wir auch umgangssprachlich von dem »Geist« einer Begegnung sprechen oder von dem »Geist«, der in einer Gruppe von Menschen herrscht, und wir meinen damit etwas, über das wir nicht wie über unsere Handlungen selbstbestimmt verfügen, sondern das sich im zwischenmenschlichen Verhalten wechselseitig atmosphärisch überträgt.

Dies ist das Gegenbild zum moralischen Atomismus: das Bild eines Zusammenlebens von Menschen, die aufgrund der atmosphärischen Präsenz emotional bestimmten Verhaltens in einer ursprünglichen Verbundenheit stehen. Ich bin mir bewusst, dass dieses Bild bei vielen Ethikerinnen und Ethikern auf Ablehnung stößt, denen die Selbstbestimmung bzw. Autonomie als die conditio sine qua non für die Ethik gilt. Daher sei betont, dass dieses Gegenbild hier nicht als die bessere Alternative gegenüber dem moralischen Atomismus propagiert werden soll.14 Der moralische Atomismus ist dasjenige Bild des menschlichen Zusammenlebens, auf das wir festgelegt sind, wenn wir uns als Handelnde begreifen und über unser Handeln verständigen. Wie ich ausgeführt habe, geht es in Moral und Ethik natürlich sehr wesentlich auch um Handlungen. Wogegen ich argumentiert habe, ist die Reduktion der Moral und Ethik auf das Handeln, die eine eigentümliche Blindheit zur Folge hat für die Bedeutung der Verhaltensdimension, auf die sich evaluative moralische Wertungen beziehen, und für die Rolle, die Emotionen in dieser Dimension für das menschliche Zusammenleben spielen.

Ich wende mich nun den Konsequenzen zu, die sich aus dem Gesagten für die Ethik und insbesondere für die theologische Ethik ergeben. Um dies vorweg ganz klarzustellen: Es liegt mir völlig fern zu behaupten, dass man die Moral religiös deuten muss oder dass Ethik nur als religiöse oder theologische Ethik möglich ist. Ich halte nichts von derartigen theologischen Überbietungsansprüchen. Mir ging es in meinen Ausführungen lediglich darum zu zeigen, dass es eine innere Beziehung gibt zwischen der Moral und jener Dimension, auf die sich das religiöse Fragen und Denken bezieht. Aber man muss sich auf diese Art des Fragens und Denkens nicht einlassen, wenn man religiös unmusikalisch zu sein glaubt.

Was die Konsequenzen für die Ethik betrifft, so ist hier das Erste und Wichtigste, dass in Bezug auf genuin moralische15 Fragen zwischen zwei Ebenen der ethischen Reflexion unterschieden werden muss. Die erste betrifft das moralisch Richtige bzw. Gebotene, d. h. das menschliche Handeln, die zweite das moralisch Gute, d. h. das Verhalten und die Verhaltenseinstellungen, die für das menschliche Zusammenleben grundlegend sind.

Was zunächst das Handeln und dessen Gründe betrifft, so ha­ben hier religiöse oder weltanschauliche »Gründe« nichts zu suchen. Denn nach dem Gesagten ist eine Handlung moralisch richtig oder falsch relativ zu der gegebenen Situation, und daher muss ihre Richtigkeit mit Bezug auf diese Situation begründet werden unter der Fragestellung, ob diese Grund gibt so zu handeln. Die in der evangelischen Theologie anzutreffende Ableitung moralischer Ur­teile über richtig und falsch aus Prämissen des christlichen Glaubens wirft demgegenüber ein fundamentaltheologisches Problem auf. Religiöse Glaubensaussagen beziehen sich nach dem Gesagten auf die Wirklichkeit, wie sie im Modus ihrer Präsenz erfahren wird, so die Schöpfung als die Präsenz des Schöpfers in den Dingen, wie man sich etwa an Ps 104 oder an Paul Gerhardts Lied »Geh aus, mein Herz« verdeutlichen kann. Urteile hingegen beziehen sich auf die Wirklichkeit, wie sie in der Verständigung über sie gegenständlich ist. Hier geht es um Wissen, nicht um Glauben. Daher können moralische Urteile nicht aus Glaubensaussagen ab­geleitet werden. Wo man es z. B. unternimmt, das Gebot des Um­weltschutzes mit der Schöpfung zu »begründen«, da zieht man etwas in die Verständigungsperspektive des ethischen Diskurses, das darin gar nicht gegenständlich und in Wissen überführt werden kann, und man macht solchermaßen Gott zu einem nahezu beliebig benutzbaren Argument. 16 Vielleicht drängt sich hier der Einwand auf, dass doch die Beurteilung der Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung von dem Verständnis der Wirklichkeit abhängt, das ein Mensch hat, und dass daher die Gründe für sein Urteilen, Entscheiden und Handeln letztlich aus diesem Verständnis abgeleitet sind, das religiös geprägt sein kann. Doch muss man sich hier Folgendes vergegenwärtigen: Gewiss kann die Religion die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen eine Situation in ihrem moralischen An­spruch an ihr Handeln wahrnehmen, und gerade das christliche Liebesethos ist hierfür ein Beispiel. Doch das, was Grund gibt, in einer bestimmten Weise zu handeln, ist die solchermaßen wahrgenommene Situation und nicht die Wahrnehmung als Bewusstseinsphänomen, wie es dem Handelnden als dessen Verständnis der Situation zugeschrieben werden kann. Hier liegt das Irrige der Meinung, dass wir uns, wenn wir uns im Handeln orientieren, an einem Wirklichkeitsverständnis orientieren und von dorther die Gründe für unser Handeln beziehen. Bei dieser Sicht scheint dann in der Tat der theologischen Ethik die Aufgabe zuzufallen, das christliche Handeln aus einem christlichen Wirklichkeitsverständnis zu »begründen«, sei dieses christologisch, schöpfungstheologisch oder von anderer Art, und die theologische Dogmatik als diejenige Disziplin, die für dieses Wirklichkeitsverständnis zuständig ist, wird solchermaßen zur fundierenden Disziplin für die theologische Ethik.

Ich will das Problem an der verbreiteten Rede vom »christlichen Menschenbild« verdeutlichen. Man denke sich ein Land, in dem Katzen als heilige Tiere gelten. Einem Fremden, der dies nicht weiß und der es an dem gebotenen Respekt in Bezug auf Katzen fehlen lässt, wird zu verstehen gegeben: »Das sind heilige Tiere!« Er sagt sich: »Diese Menschen verstehen Katzen als heilige Tiere.« Das ist eine Aussage über das »Katzenverständnis« oder »Katzenbild« dieser Menschen. Während das Prädikat der Heiligkeit von den Katzen ausgesagt wird, ist dieses Katzenbild etwas, das von den Menschen ausgesagt wird, die es haben. Diese freilich orientieren sich in ihrem Umgang mit Katzen nicht an diesem Katzenbild, sondern daran, dass Katzen heilige Tiere sind. Sie sagen sich nicht: »Weil unser Katzenbild dies vorschreibt, müssen Katzen respektvoll behandelt werden«, sondern sie sagen sich: »Weil Katzen heilige Tiere sind, müssen Katzen respektvoll behandelt werden.« Man mag sich an diesem Beispiel die Gefahr verdeutlichen, die in der Rede vom »christlichen Menschenbild« liegen kann. Sie kann dazu verführen, dass an die Stelle der Wirklichkeit in Gestalt der Situationen und Lebenslagen, in denen Menschen sich befinden und von denen ein Anspruch an unsere Einstellung und unser Verhalten ausgeht, ein theologisches Konstrukt in Gestalt eines »Verständnisses« oder »Bildes« dieser Wirklichkeit tritt, das dann zur höchsten ethischen Instanz auf­-rückt. Man schaut dann nicht mehr hin auf die Menschen, um die es geht, sondern man schaut auf sein christliches Menschenbild, das solchermaßen zum Allerwichtigsten wird, weil darin das unverwechselbar Christliche zu liegen scheint, gewissermaßen als eine Art Markenartikel, mit dem man auch öffentlich hausieren gehen kann. 17 Doch verliert sich die theologische Ethik solchermaßen in die Abstraktion.

Ich komme damit zur zweiten Ebene der ethischen Reflexion, auf der es um das Gute, d. h. um das Verhalten und die Verhaltenseinstellungen geht, die für das menschliche Zusammenleben grundlegend sind. Wie ich ausgeführt habe, kommt dieser Ebene ein epis­temischer Primat gegenüber der ersten Ebene zu. Wir müssen uns zuerst der moralischen Qualität unserer emotionalen Verhaltens­einstellungen vergewissern, von denen wir uns in unserem Urteilen, Entscheiden und Handeln bestimmen lassen, da hiervon ab­hängt, wie wir urteilen, entscheiden und handeln. Was nun freilich diese Qualität betrifft, so zeigte sich, dass sich solche Verhaltens­einstellungen nicht begründen lassen, mithin auch nicht moralisch begründen lassen. Gründe gibt es nur innerhalb der Verständigung über Handlungen am Leitfaden der Warum-Frage. Verhalten liegt jedoch dieser Verständigungsperspektive voraus. Das Gutsein des Guten lässt sich daher nicht begründen, und dasselbe gilt für das Schlechtsein des Schlechten. Wir können einander zwar auf bestimmte Aspekte eines Verhaltens oder seiner Folgen aufmerksam machen, die uns sein Gutsein oder Schlechtsein sehen lassen, und in dieser Weise können wir uns darüber verständigen. Aber das ist etwas anderes als eine ›Begründung‹ im Sinne der Ableitung von Urteilen aus anderen Urteilen. Das moralisch Gute ist etwas, das in seiner atmosphärischen Präsenz der Anschauung oder Vorstellung gegeben ist, und es übt dabei eine anziehende Wirkung auf den Betrachter aus und macht ihn sich selbst zugeneigt, wie man sich an Gaitas Nonnenbeispiel oder der Samaritererzählung verdeutlichen mag. Spuren dieser eigentümlichen Erfahrung des Guten finden sich noch im philosophischen Nachdenken über die »Idee« des Guten und ihre anziehende Kraft. Dasselbe gilt mit umgekehrten Vorzeichen für das moralisch Schlechte und für das Böse, das eine abstoßende Wirkung auf uns ausübt. Dies verleiht der denkenden Befassung mit dem Guten ihren spezifischen Charakter: Während es auf der ersten Ebene der ethischen Reflexion um die Selbstbestimmung im Handeln durch Gründe geht, geht es auf dieser zweiten Ebene darum, sich durch die anziehende Wirkung dessen, was hier Gegenstand der Reflexion ist, bestimmen zu lassen. Darin liegt der Sinn des Nachdenkens über Phänomene wie Menschlichkeit, Liebe, Vergebung usw. Und darin liegt ebenso der Sinn des Nachdenkens über Phänomene, die eine entgegengesetzte Wirkung auf uns ausüben, wie Entmenschlichung, Erniedrigung usw.18 Solche Phänomene lassen sich nicht von einem neutralen und unbeteiligten Standpunkt aus analysieren. Vielmehr sind sie nur über die Anschauung oder Vorstellung erschlossen, und da sind wir emotional involviert. Was Erniedrigung heißt und inwiefern sie ein moralisches Übel ist, das verstehen wir nur, indem wir uns vor Augen führen, was es für einen Menschen bedeutet, erniedrigt zu werden. So mag einem jene Szene in der sog. Reichskristallnacht in den Sinn kommen, als Juden gezwungen wurden, mit Zahnbürsten das Straßenpflaster zu schrubben. In solchen Szenarien stellt sich mit kategorischer Eindringlichkeit vor Augen, dass Menschen nicht erniedrigt werden dürfen. Solche Phänomene denkend in den Blick zu fassen bedeutet, dass man sich der Wirkung aussetzt, die sie auf den Betrachter ausüben. Das Nachdenken über sie lässt den Denkenden nicht unverändert. Es hat etwas von einer Katharsis in Bezug auf die eigene moralische Einstellung. In dieser Katharsis liegt der Sinn dieser zweiten Ebene der ethischen Reflexion hinsichtlich des Guten, des Schlechten und des Bösen.

In der denkenden Vergegenwärtigung solcher Phänomene, von denen wir zugleich emotional bestimmt und ergriffen sind, formt sich jene innere Einstellung, bei der, um noch einmal mit Musil zu sprechen, »Gefühle und Gedanken den gleichen Geist haben« – im Unterschied zu jener Spaltung zwischen Verstand und Gefühl, die im modernen, desengagierten, regelethischen Denken begegnet und die jenen Zustand zur Folge hat, den Musil vor Augen hatte, bei dem einseitig die Gründe des Verstandes dominieren und das Ge­fühl als »ewige Nebensache« orientierungslos wird und »in der Menschheit hin und her schwankt wie Wasser in einem Bottich, der keinen festen Stand hat«. Klassisch hat David Hume diese Spaltung in seiner Untersuchung der Grundlagen der Moral formuliert in Gestalt der Frage, ob die Moral aus dem Verstand abgeleitet ist oder aus dem Gefühl, wobei er für Letzteres plädierte. 19 Im antiken ethischen Denken, etwa bei Aristoteles, gab es eine solche Alternative nicht.

Ich bin mir bewusst, dass die vorgetragene Auffassung von ethischer Reflexion all diejenigen enttäuschen muss, die von der Ethik objektive, d. h. subjektunabhängige Urteile bezüglich des moralisch Richtigen und Guten erwarten. Diese Erwartung wird heute durch viele ethische Lehrbücher genährt, die suggerieren, man könne moralische Urteile mit geradezu wissenschaftlicher Ob­jektivität fällen.20 Doch nach dem Gesagten gibt es in moralischen Fragen einen solchen objektiven Standpunkt nicht, und zwar aufgrund der emotionalen Fundiertheit der Moral.21 Wo man einen solchen Standpunkt meint einnehmen zu können, da urteilt man nicht moralisch, sondern ersetzt die moralische Einsicht in das Gute und Richtige durch gedankliche Konstruktionen. Der Anspruch der Ethik kann in moralischen Fragen nur ein äußerst bescheidener sein. Der Ethiker kann andere lediglich dazu einladen, an seinem Nachdenken über moralische Phänomene und Probleme teilzunehmen, in der Hoffnung, dass dieses Nachdenken bei ihnen resonant wird und zu Klärungen führt. Aber er darf nicht den Eindruck erwecken, von einem objektiven Standpunkt aus zu sprechen, so als wären moralische Problemen von derselben Art wie mathematische oder logische Probleme, bei denen man sich mit seiner eigenen Person ganz heraushalten kann. Vielmehr geht die Moral durch die Person eines jeden von uns hindurch, und daher ist das Erste und Wichtigste in ethischen Fragen, auf die eigenen Gefühle und Gedanken zu achten im Sinne dessen, was ich »Katharsis« in Bezug auf die eigene moralische Einstellung genannt habe.

Das, was auf der zweiten Ebene Gegenstand der ethischen Reflexion ist, steht im Fokus der religiösen Überlieferung. Hier berührt sich die Moral mit jener Dimension, mit der es die Religion zu tun hat. Die atmosphärische Präsenz des Guten und die anziehende, zum Guten bewegende Kraft, die hiervon ausgeht, wird als eine numinose Wirklichkeit, nämlich als Gegenwart des göttlichen Geistes erfahren. Die Katharsis, die sich in der denkenden Vergegenwär­tigung des Guten vollzieht, wird als eine spirituelle Erfahrung dessen Wirken zugeschrieben. Für die christliche Überlieferung kommt dabei das Gute in einem Geschehen zur Anschauung, das religiös als Offenbarung Gottes in der Geschichte und Verkündigung Jesu Christi gedeutet wird. Allerdings darf dies nicht dahingehend missverstanden werden, dass das Gute unter religiösen Vorzeichen zu einer Angelegenheit des Glaubens statt des Wissens wird, nämlich als Inhalt einer Offenbarung, die der Gemeinschaft der Glaubenden durch eine transzendente Wirklichkeit mitgeteilt worden ist und an deren Wahrheit und Verbindlichkeit sie nun glaubt. Das Gute ist vielmehr auch unter religiösen Vorzeichen Gegenstand der Erkenntnis und des Wissens. Der Pharisäer in Lk 10 weiß am Ende der Samaritererzählung, wer der Nächste dessen gewesen ist, der unter die Räuber fiel, d. h. in wessen Verhalten, dem des Priesters, des Levits oder des Samariters, sich das Gute vor Augen stellt. Demgegenüber bezieht sich der religiöse Glaube auf dasjenige, was in diesem Offenbarwerden als eine den Erkennenden erleuchtende und verwandelnde Kraft erfahren wird. Das Gute ist bei seinem Offenbarwerden nicht nur Gegenstand der Erkenntnis, sondern zugleich etwas, wovon die Person des Erkennenden im Akt des Erkennens bestimmt und durchdrungen wird. Diese Erfahrung ist es, die religiös als Geistesgegenwart gedeutet wird. Der Ort im Menschen, wo sich dies ereignet, ist die »Seele« oder das »Herz«.

Die tiefe Abgründigkeit, die der Religion gerade unter den Bedingungen der Moderne anhaftet, hat demgegenüber eine entscheidende Ursache darin, dass diese Bindung an die Erkenntnis des Guten und an das Wissen um das Gute aufgelöst und alles zu einer Frage des Glaubens gemacht wird, der dem Glaubenden als ein Akt des Gehorsams abverlangt wird und der solchermaßen in Konkurrenz zum Wissen tritt. Was das Gute und Richtige ist, wird so zu einer Frage der Rechtgläubigkeit. Dies ist das Charakteristikum des religiösen Fundamentalismus in allen seinen Spielarten, nicht nur des islamistischen, sondern ebenso des christlichen und des jüdisch-orthodoxen im heutigen Israel. So aufgefasst kann das Gute zu einer Quelle des Bösen werden, von Zwietracht, Unrecht und Gewalt. Daher hängt Entscheidendes davon ab, dass zwischen Glaubenserkenntnis und moralischer Erkenntnis unterschieden und dass beides in das rechte Verhältnis gesetzt wird. Oben war davon die Rede, dass der religiöse Glaube die Wahrnehmung der Wirklichkeit prägt, wofür gerade das christliche Liebesethos ein Beispiel ist (vgl. z. B. Mt 25,35 ff.). Er lässt sich dabei selbst als eine bestimmte Form der Erkenntnis der Wirklichkeit verstehen, die freilich kein Wissen ist. 22 Aber für diejenigen, die an dieser Wahrnehmung teilhaben, resultiert aus ihr ein Wissen um das moralisch Gute und Richtige. Falsch wird es, wie gesagt, dann, wenn das Gute und Richtige unmittelbar aus Prämissen des Glaubens als einer religiösen Überzeugung abgeleitet und »begründet« wird, statt dass es an der wahrgenommenen, vor Augen liegenden Wirklichkeit erkannt wird, und wenn es solchermaßen selbst zu einer Angelegenheit des Glaubens statt der moralischen Erkenntnis und des Wissens wird. Denn damit werden aus Glaube und Vernunft – als dem Organ der moralischen Erkenntnis – Alternativen, und dies führt dann innerhalb der theologischen Ethik zu der unfruchtbaren Debatte, ob diese als Glaubensethik konzipiert oder aber auf die Vernunft gegründet werden soll. Der entscheidende Punkt liegt hier in Folgendem: Wenn moralische Erkenntnis in der Anschauung und Vorstellung fundiert ist, dann gibt es keine moralische Vernunft, die nicht immer schon in einer bestimmten Erschlossenheit der Wirklichkeit für die Wahrnehmung gründet. Hierauf muss dann auch gegenüber der philosophischen Ethik insistiert werden, und hier liegt in theologischer Perspektive der Zusam­menhang von Glaube und moralischer Vernunft begründet.

Der religiöse Fundamentalismus ist eine spezifisch moderne Er­scheinung. Er ist die Reaktion auf eine Welt, aus der die Vernunft­erkenntnis Gott und alles Religiöse verbannt hat. Damit scheint sich der religiöse Glaube nur noch über die polemische Bestreitung der Ansprüche der Vernunft behaupten zu können. Auch für das moralisch Richtige und Gute muss dann reklamiert werden, dass es eine Frage nicht der moralischen Erkenntnis, sondern des Glaubens ist. Nur so scheint die Religion verteidigt werden zu können als etwas, das für alle Bereiche des menschlichen Lebens unter Einschluss der Moral maßgebend ist. Die Folge ist jener Irrationalis­mus, der die Welt der Gegenwart an den Abgrund zu bringen droht. Muss es nicht der protestantischen Theologie zu denken geben, dass sich im christlichen Bereich solcher Fundamentalismus gerade im protestantischen Milieu findet, wie insbesondere ein Blick auf die US-amerikanische religiöse Landschaft zeigt? Es sind solche Abgründigkeiten, die die Notwendigkeit einschärfen, sowohl in theologischer als auch in religionsphilosophischer Perspektive den inneren Zusammenhang zu verstehen, der in der religiösen Wahrnehmung des Guten zwischen Erkennen und Glauben besteht, statt die Religion einseitig dem Gebiet des Glaubens zuzuschlagen. Denn damit setzt man sie mit dem Zerrbild gleich, das der relig­iöse Fundamentalismus bietet. Nicht zuletzt im Blick auf die eminente Bedeutung, die der Religion heute im globalen Horizont zu­kommt, sollte man daher der sich als Folge der Aufklärung nahelegenden Versuchung widerstehen, einen prinzipiellen Gegensatz zwischen Vernunft und religiösem Glauben aufzumachen, wie dies sowohl die Kritiker der Religion als auch nicht wenige ihrer Apologeten 23 tun, sondern die Religion als etwas begreifen, das der vernünftigen Reflexion nicht nur zugänglich ist, sondern das dieser aufgrund seiner tiefen Ambivalenz auch bedarf. Genau dazu braucht es die Theologie.

Eine letzte Bemerkung. Als ich 1998 an die theologische Fakultät in Zürich berufen wurde, da hat man den Lehrstuhl, der vorher ein Lehrstuhl für Sozialethik war, in einen Lehrstuhl für theologische Ethik umbenannt. Damit wollte man das theologische Profil dieses Lehrstuhls unterstreichen und mich davon abhalten, auf diesem Lehrstuhl Allotria zu treiben. Daher nun zu

m Schluss die Frage: War das eigentlich eine theologische Vorlesung, die ich gehalten habe? War das nicht vielmehr eine moralphilosophische und religionsphilosophische Vorlesung? In der Tat, das war es. Aber war es deshalb eine nichttheologische Vorlesung? Gehören solche Überlegungen, wie ich sie vorgetragen habe, nicht zur Grundlagenreflexion einer jeden theologischen Ethik, so wie sie – jedenfalls würde ich dies behaupten – zur Grundlagenreflexion auch der philosophischen Ethik gehören oder doch gehören sollten? Diesbezüglich besteht zwischen philosophischer und theologischer Ethik nicht der geringste Unterschied. In beiden Disziplinen geht es entscheidend darum, den Verhexungen des Verstandes auf die Spur zu kommen, indem gerade das Etablierte und scheinbar so Selbstverständliche auf den Prüfstand gestellt wird mit Fragen wie eben jenen: Stimmt es denn, dass im Mittelpunkt der Moral moralische Ur­teile stehen? Oder dass sich in der Moral alles um das menschliche Handeln dreht? Ich will dies zum Schluss für die theologische Ethik an folgendem Problem verdeutlichen. M.

E. besteht aller Grund zu der Frage, ob nicht gerade der Protestantismus entscheidend zu jener Reduktion der Moral auf das Handeln beigetragen hat, die die mo­derne poietische, auf das Machen und Herstellen gerichtete Zivilisation kennzeichnet. Das hängt mit seinen historischen Ur­sprüngen zusammen. Die Reformation reagiert auf die spätmit­telalter­liche Bußpraxis, der die Vorstellung zugrunde liegt, der Mensch könne durch »Werke«, d. h. durch Handlungen wie Wall­fahrten, Geldspenden usw. Gott gnädig stimmen. Damit rückt das Verhältnis von Glaube und Werken ins Zentrum der reformatorischen Theologie. Entscheidend für die Werke ist, dass sie im Glauben geschehen, also im Vertrauen auf Gottes Gnade, wodurch sie von soteriologischen Nebenabsichten im Sinne der Gunstbewerbung bei Gott frei werden. So können sie sich ganz und ungeteilt am »Nutzen« des Nächsten orientieren, wie Luther es gerne formulierte. Trutz Rendtorff hat diesbezüglich von einem »christlichen Utilitarismus«24 gesprochen. Die christliche Liebe manifestiert sich nach dieser Sicht in einem den Nutzen des Nächsten mehrenden Handeln und nicht in einem Verhalten. Denn das Verhalten der Liebe lässt sich nicht an Nutzengesichtspunkten orientieren. Würden zum Beispiel Eltern ihr liebevolles Verhalten zu ihrem Kind damit begründen, dass dies dem Kind nützt oder dass das Kind Liebe braucht, dann würde dies die Frage aufwerfen, ob sie ihr Kind wirklich lieben oder ob ihr Verhalten gegenüber ihrem Kind lediglich mit der Abzweckung erfolgt, diesem das Gefühl zu vermitteln geliebt zu werden und auf diese Weise sein Bedürfnis nach Liebe zu stillen. Was als ein emotional bestimmtes Verhalten er­scheint, das setzt sich mit dieser Begründung dem Verdacht aus, ein instrumentell auf die Stillung dieses Bedürfnisses gerichtetes Handeln zu sein, das sich lediglich als ein solches Verhalten gibt. Denn für das Verhalten der Liebe gibt es, wie gesagt, keine Gründe, und schon gar keine instrumentellen. Dies also sei am Ende als Frage notiert, ob nicht der Protestantismus mit seiner Fokussierung auf das Tun der Liebe entscheidend dazu beigetragen hat, dass die spirituelle Dimension des Verhaltens der Liebe verdunkelt worden ist. M. E. erweist sich dies heute als eine Hypothek in einer Situation, in der »Spiritualität« allenthalben zu einem Thema geworden ist: in der Palliativmedizin, in der Pflege kranker Menschen oder einfach in der spirituellen Suche vieler Menschen. Können solche moral- und religionsphilosophischen Überlegungen, wie ich sie vorgetragen habe, nicht gerade in theologischer Hinsicht erhellend sein, insofern sie den Blick dafür schärfen, dass in der einseitigen Fokussierung auf das Tun der Liebe ein theologisches Problem liegen könnte?

Ich habe in diesem Text die innere Beziehung von Moral und Religion anhand der Rolle zu verdeutlichen versucht, die Emotionen für die Moral spielen. Seit dem 18. Jh. ist in der evangelischen Theologie intensiv über den Zusammenhang zwischen Religion und Gefühl nachgedacht worden. Dies geschah freilich im Rahmen des Subjektivitätsparadigmas. Gefühle waren dementsprechend als etwas im Blick, das einem Subjekt in seinem Selbstverhältnis gegeben ist, aber nicht als etwas, das im zwischenmenschlichen Verhal ten atmosphärisch in Erscheinung tritt. Dementsprechend suchte man das Religiöse an bestimmten, eben religiösen Gefühlen fest­-zumachen, die Menschen subjektiv empfinden, wie Ehrfurcht, Dankbarkeit, Andacht oder, wie bei Schleiermacher, am Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, statt es als etwas zu begreifen, das, insoweit es den Bereich des Zwischenmenschlichen betrifft, in der Präsenzerfahrung emotional bestimmten Verhaltens enthalten ist, bei der ganz unterschiedliche Emotionen eine Rolle spielen können, wie sie in Gal 5,22 aufgeführt werden, denen nicht zuletzt eine Be­deutung für die Moral zukommt. Das setzt ein Fragezeichen hinter jene Art der Grenzziehung zwischen Religion und Moral, wie sie Schlei­ermacher auf dem Hintergrund der Kantischen Religionsphilosophie vornimmt. Die Moral hat selbst eine religiöse Dimension.

Summary


This article is concerned with the relationship between morality and religion. Is this an external relation in the sense that morality does not have any affinity with religion, meaning religion could only play the role of a kind of superstructure over morality? Alternatively, the autonomy of morality could be given a theological foundation. Both options are dissatisfying. The author argues for a different view. There is, according to his account, an internal relation between morality and the dimension of human experience with which religious practice and thinking are concerned. The Christian perspective on human life has to be articulated with regard to such an internal relation between morality and religion. This tie between morality and religion is rendered obscure by the tendency, widespread in modern ethical theories, to reduce morality to moral actions. Countering this tendency, the author argues for the claim that the religious dimension of morality is not to be found in actions, but in certain kinds of behaviour – e. g. love, kindness, friendliness – having a spiritual dimension (Gal 5,22). This has important implications for the conception and the scope of theological ethics.

Fussnoten:

1) Abschiedsvorlesung anlässlich der Emeritierung des Verfassers, gehalten am 22.12.2011 an der Universität Zürich.
2) Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/New York 2003, 12 f.
3) Vgl. hierzu Johannes Fischer, Verstehen statt Begründen. Warum es in der Moral um mehr als nur um Handlungen geht, Stuttgart 2012, darin die Einleitung »Über den Unterschied zwischen Klugheit und Scharfsinn« sowie das Kapitel »Ethik als rationale Begründung der Moral?«.
4) Birnbacher, a. a. O., 281 f.
5) Hermann Schmitz, Gefühle als Atmosphären und das affektive Betroffensein von ihnen, in: Hinrich Fink-Eitel/Georg Lohmann (Hrsg.), Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt a. M. 1993, 33–56.
6) Raimond Gaita, A Common Humanity. Thinking about Love and Truth and Justice, London/New York 22000, 17–19. Zur Debatte im angelsächsischen Raum über die Bedeutung von Emotionen für Moral und Ethik vgl. Christoph Ammann, Emotionen – Seismographen der Bedeutung. Ihre Relevanz für eine christliche Ethik, Stuttgart 2007.
7) Dieser Gedanke steht im Zentrum des ethischen Denkens von Knud E. Løgstrup, der ihn mit dem Begriff der »souveränen Daseinsäußerungen« zu präzisieren versucht hat (vgl. ders., Norm und Spontaneität. Ethik und Politik zwischen Technik und Dillettantokratie, Tübingen 1989, 6–36). Dieser Begriff entspricht in etwa dem, was hier als ›emotional bestimmtes Verhalten‹ bezeichnet und von ›Handeln‹ unterschieden wird.
8) Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 128.
9) Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek 1978, 1028 f.
10) A. a. O., 1037.
11) A. a. O., 1038.
12) Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg/Basel/Wien 2007, 137. Schockenhoff teilt mit großen Teilen der Tugendethik die Auffassung, dass das Gute ursprünglich in der Tugend angeschaut wird, und er spricht demgemäß von »Tugenden als Anschauungsformen des Guten« (53). Hiernach beruht die Erkenntnis des Gutseins großzügigen Verhaltens darauf, dass in ihm die Tugend der Großzügigkeit erkannt wird. Bei dieser Auffassung ist es folgerichtig, die Aufzählung Gal 5,22, insofern darin vom Guten die Rede ist, im Sinne von Tugenden zu interpretieren. Doch ist diese Auffassung wenig plausibel. Wie soll die Tugend der Großzügigkeit einer Person erkannt werden können, wenn nicht an ihrem großzügigen Verhalten? Und wenn wir jemandem erklären wollen, was Großzügigkeit ist: Können wir dies anders als dadurch, dass wir ihm Beispiele für großzügiges Verhalten vor Augen führen? Das bedeutet, dass das Verhalten epistemisch und logisch primär ist gegenüber der Tugend und dass das Gute sich ursprünglich in einem Verhalten und nicht in der Tugend vor Augen stellt.
13) Dieser adverbiale Charakter der christlichen Liebe zeigt sich insbesondere in der im Neuen Testament häufig begegnenden Wendung, dass etwas ›in der Liebe‹ geschieht oder geschehen soll. Vgl. zu dieser Eigenart der christlichen Liebe Johannes Fischer u. a., Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik, Stuttgart 2007, 321–331.
14) Insbesondere innerhalb der Theologie kann man auf die Meinung treffen, dass es hier um eine Alternative geht: Entweder ist es die menschliche Person, die handelnd wirkt, was sie tut, oder es ist der Heilige Geist, der dies wirkt. Im letzteren Fall, so die Meinung, wird die Person als verantwortlicher Ur­sprung ihrer Handlungen »ausgelöscht« (Schockenhoff, a. a. O., 252). Also muss in Abgrenzung zum Wirken des Geistes an der Selbstwirksamkeit der Person festgehalten werden. Um aber dies denken zu können, müssen Glaube, Hoffnung und Liebe als Tugenden begriffen werden, die zu solcher Selbstwirksamkeit befähigen. Das Problem dieser Übertragung des Tugendbegriffs auf Glaube, Hoffnung und Liebe liegt in Folgendem: Tugenden im aristotelischen Sinne sind negativ gegen bestimmte Affekte gerichtet, so die Tapferkeit gegen die Angst, und zwar damit diese Affekte keine kausale Macht über den Menschen gewinnen. Hier geht es in der Tat darum, durch die Aneignung von Tugenden die Selbstwirksamkeit des Menschen in seinem Handeln zu festigen. Bei der Liebe hingegen handelt es sich um eine Emotion, die positiv das Verhalten eines Menschen bestimmt. Aufgrund ihres Widerfahrnischarakters lässt sie sich schwerlich als Selbstwirksamkeit eines Menschen begreifen (vgl. hierzu Johannes Fischer, Geist oder Tugend? Zu Eberhard Schockenhoffs theologischer Tugendlehre, in: Ders., Sittlichkeit und Rationalität. Zur Kritik der desengagierten Vernunft, Stuttgart 2010, 223–232). Problematisch wird es, wenn hier eine Alternative aufgemacht wird, statt dass man sieht, dass wir immer schon beides sind: sowohl handelnde Personen, die sich in der Verständigung über ihr Handeln als dessen selbstbestimmte und verantwortliche Urheber präsentieren, als auch solche, die durch die Spontaneität emotional bestimmten Verhaltens geleitet sind, welche nicht unserer Selbstwirksamkeit zugeschrieben werden kann.
15) Diese Eingrenzung ist notwendig, weil Ethik nicht nur und ausschließlich die Moral zum Gegenstand ihres Nachdenkens hat, sondern – als Sozialethik– auch soziale Regeln des menschlichen Zusammenlebens, wie sie insbesondere im Recht institutionalisiert werden. Konzepte wie die Menschenwürde oder die Gerechtigkeit sind in solchen sozialen Regeln verankert, die von moralischen Normen unterschieden werden müssen. Vgl. dazu Johannes Fischer, Verstehen statt Begründen, a. a. O., insbesondere das Kapitel »Menschenwürde, Menschenrechte, Gerechtigkeit: Begründen oder Verstehen?«.
16) Vgl. dazu die Kritik von Knud E. Løgstrup, Die ethische Forderung, Tübingen 21968, 120 ff.
17) Vgl. hierzu Johannes Fischer, Christliches Menschenbild als Götze, zeitzeichen 6/2011, 41–43.
18) Vgl. dazu Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin 1997.
19) David Hume, Eine Untersuchung der Grundlagen der Moral, hrsg. von Karl Hepfer, Göttingen 2002, 4.
20) Zur Kritik vgl. Christoph Ammann, Wider die ethische Expertokratie. Eine Polemik in ernsthafter Absicht, in: Ders./Barbara Bleisch/Anna Goppel, Müssen Ethiker moralisch sein? Essays über Philosophie und Lebensführung, Frankfurt am Main/New York 2011, 177–194.
21) Diese wird heute breit durch die empirische Moralforschung in Psychologie und Neurobiologie bestätigt. Vgl. Johannes Fischer/Stefan Gruden, Die Struktur der moralischen Orientierung. Interdisziplinäre Perspektiven, Berlin 2010.
22) Johannes Fischer, Glaube als Erkenntnis. Zum Wahrnehmungscharakter des christlichen Glaubens, München 1989.
23) Vgl. z. B. Wilfried Härle, Ethik, Berlin/New York 2011, 121 ff.127 ff.
24) Trutz Rendtorff, Ethik VII, TRE Bd. X, 481–517, 485.