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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

501–502

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Rivers, Julian

Titel/Untertitel:

The Law of Organized Religions. Between Es­tab­lishment and Secularism.

Verlag:

Oxford/New York: Oxford University Press 2010. LI, 368 S. 23,4 x 15,5 cm. Lw. £ 50,00. ISBN 978-0-19-922610-8.

Rezensent:

Hanns Engelhardt

Europa wächst zusammen. Auch die europäischen Kirchen arbeiten enger zusammen als je zuvor. Im Bereich der Europäischen Union bilden sie mittlerweile zwei große Gruppen. Die römisch-katholischen Bischofskonferenzen der EU-Länder haben zu ihrer gemeinsamen Vertretung den Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) gebildet, die meisten nichtrömischen Kirchen sich in der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK/CEC) zusammengeschlossen. Diese Kirchen leben unter verschiedenen staatskirchenrechtlichen Systemen; die europäische Zusammenarbeit verstärkt aber das Interesse an der Kenntnis des rechtlichen Umfelds anderer Kirchen und Religionsgemeinschaften.
Julian Rivers, Professor an der juristischen Fakultät der Universität Bristol, will in dem hier anzuzeigenden Buch »a systematic study of English law as it applies to organized religions« bieten. Schon der Titel lässt eine Grundrichtung erkennen. Bewusst spricht R. nicht von Staatskirchenrecht. Dieser Begriff erscheint ihm angesichts des Aufstiegs nichtchristlicher Religionen in Europa als anachronistisch. Er befindet sich dabei in Übereinstimmung mit dem führenden einschlägigen Werk zum österreichischen Recht, das ebenfalls bewusst den Titel »Religionsrecht« trägt. R. verzichtet auch auf einen allgemeinen Begriff von Religion für alle juristischen Zwecke. Vielmehr kommt es ihm darauf an, wie das Recht im jeweiligen Einzelfall Religion definiert und organisiert.
Das Buch beginnt mit einem historischen Überblick über die Entwicklung des Rechts der Beziehungen von Kirche und Staat, der Verständnis dafür wecken will, »how quickly the law can change«. Kapitel 2 zeigt, wie das internationale Recht zum Schutz der Menschenrechte in jüngster Zeit begonnen hat, religiöse Gemeinschaften als Rechtsträger zu behandeln. Kapitel 3–5 beschreiben die rechtliche Verfassung religiöser Körperschaften, die Rechtsstellung von Religionsdienern ( ministers of religion) und die Position der Religion in der Öffentlichkeit (Registrierung von Gottesdienststätten, Gemeinnützigkeit von Religion, Befreiung gewisser kirchlicher Gebäude von denkmalschutzrechtlichen Genehmigungen – Ecclesiastical Exemption). Kapitel 6–10 arbeiten, ausgehend von religiöser Aktivität, verschiedene Formen öffentlichen Engagements heraus: religiöse Institutionen mit öffentlicher Relevanz (Kirchenregister, Trauung, Bestattung); Speisevorschriften; un­kon­ven­tionelle Gottesverehrung (z. B. Glockengeläut und Gebetsrufe); Kategorialseelsorge (Militär, Gefängnisse, Krankenhäuser, Hochschulen, Berufsgruppen, Industrie); religiös bestimmte Schulen; religiös motivierte Wohltätigkeit; Zugang zur öffentlichen Diskussion (Vertretung im House of Lords, neue Konsultationsverfahren, religiöser Rundfunk).
Das abschließende Kapitel versucht, aus dem ausgebreiteten Material Schlüsse auf ein zugrundeliegendes Verfassungsprinzip zu ziehen. R. untersucht die Individualrechte, den Begriff des »Es­tablishment by law«, zwei Konzepte des »Legal Secularism«, Autonomie und Neutralität. Individualrechte auf religiöse Freiheit und Gleichheit hält er nicht für eine mögliche zureichende Grundlage des Rechts der organisierten Religionen: Aus ihnen lassen sich für wesentliche Fragen dieses Rechtsbereichs (z. B. Eigentum und Kontrolle religiösen Zwecken gewidmeten Vermögens, Rechtsprechung religiöser Gerichte, Ernennung von Geistlichen, Teilnahme an förmlichen Konsultationsprozessen mit Regierungsbehörden) keine Antworten herleiten; überdies verzerren sie die gesellschaftliche Wirklichkeit.
»Establishment by law« ist ein für das englische Recht herkömmlicher Begriff; R. weist auf die unterschiedlichen Gehalte hin, die er etwa in England und in Schottland hat. Die mit dem »estab­lishment« verbundene Sonderstellung einer Kirche kann auf zwei gegensätzlichen Wegen beseitigt oder gemildert werden: durch »levelling down« oder »levelling up«. In diesem Zusammenhang weist R. ausdrücklich auf die Lösung des deutschen Grundgesetzes hin.
Beim »Legal Secularism« stellt R. zwei gegensätzliche Ausprägungen fest: Entweder sind religiöse Akte rechtlich irrelevant oder ihr religiöser Charakter; die Rechtsfolgen können im Einzelfall durchaus gegensätzlich sein.
Bei der Erörterung der Begriffe »Autonomie« und »Neutralität« muss der deutsche Leser beachten, dass der Begriff »Autonomy« hier nicht den Aspekt der Abhängigkeit hat, den er im deutschen Recht besitzt, wo – herrührend aus dem Verwaltungsrecht – Autonomie übertragene, von höherer Stelle eingeräumte Selbstverwaltungsbefugnis ist. Höchste Autonomie und höchste staatliche Neutralität sind für R. identisch; beide findet er indes im eng­-lischen Recht nicht verwirklicht.
Sowohl hinsichtlich der Autonomie religiöser Gruppen als auch hinsichtlich der Neutralität des Staates ihnen gegenüber stellt R. fest, dass das englische Recht, teilweise gegenläufig zum europäischen Recht, der Autonomie engere Grenzen setzt und die Neutralität im Hinblick auf historische Gegebenheiten einschränkt.
Das Ergebnis möchte man als typisch englisch ansehen. Nach R. ist das englische Recht der organisierten Religion »between estab­lishment and secularism« angesiedelt. Die besondere Rechtsstellung der Kirche von England sichert »the ongoing public significance of religion in a context in which it increasingly appears ir­-relevant. This dynamic tension has been the substitute for any statement of constitutional principle.« Dieser bewusste Verzicht auf die Herausstellung eines einzigen Prinzips, aus dem das gesamte staatliche Religionsrecht hergeleitet werden könnte, erscheint – bei aller Verschiedenheit in den einzelnen Regelungen – auch auf die deutsche Rechtslage anwendbar. Auch aus diesem Grund verdient das Buch auch in Deutschland Aufmerksamkeit.