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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

498–501

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Recknagel, Dominik

Titel/Untertitel:

Einheit des Denkens trotz konfessioneller Spaltung. Parallelen zwischen den Rechtslehren von Francisco Suárez und Hugo Grotius.

Verlag:

Frankfurt a. M./Berlin/ Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien: Lang 2010. XIII, 324 S. 21,0 x 14,8 cm = Treffpunkt Philosophie, 10. Geb. EUR 65,80. ISBN 978-3-631-60879-1.

Rezensent:

Matthias Heesch

Die sich zur Moderne hin entwickelnde Neuzeit ist das Zeitalter der konfessionellen und weltanschaulichen Differenzierung und da­mit das Zeitalter des Pluralismus. Das bringt Probleme mit sich, die frühere Epochen nicht gekannt haben, in denen es zwar auch schon Differenzen gab, die aber doch in das Ganze einer in sich vielfältigen, aber auch sehr integrationsfähigen Gesamtkultur eingebracht werden konnten. So konnten das altkirchliche und mittelalterliche Christentum und die von ihnen geprägte Kultur eine Fülle dif­-ferenter Theologien, Frömmigkeitsstile, aber auch Auffassungen über Staat, Recht und Gesellschaft integrieren, ohne dass die Einheit verloren gegangen wäre.
Im 16. Jh. kommt es zu einer Epochenwende: War vorher Pluralität das Problem und die sie umfangende Einheit dessen weitgehend selbstverständliche Lösung, werden nun Differenz und Pluralität zu selbstverständlichen Tatsachen des Lebens. Einheit, die zunehmend nur noch normativ verstanden werden kann, wird demgegenüber zum Problem für die wissenschaftliche Besinnung bzw. zur praktischen Aufgabe. Das gilt vor allem da, wo nach dem endgültigen Zerbrechen der Bekenntnis­einheit nach einem Konsens gesucht werden musste, der die vielen und höchst bedrohlichen Brüche des konfessionellen Zeitalters jedenfalls provisorisch würde überbrücken können. Eines der wesentlichen Mittel hierfür war das Recht. Auch das Recht war nicht unumstritten, es zeigt sich aber, dass die hier auftretenden Bruchlinien (etwa zwischen einer Orientierung am römischen Recht bzw. an nationalen Rechtstraditionen) mit dem konfessionellen Gegensatz nicht gleichbedeutend waren. So bestand Grund zu der Hoffnung, dass in der Sphäre des Rechts die Suche nach pragmatischer Einheit erfolgversprechender sein würde als auf dem Gebiet der von den einander ausschließenden Konfessionen ge­prägten Theologie.
Da­zu bedurfte es allerdings der angemessenen Perspektive. Diese bestand in zwei aufeinander verweisenden Aspekten: Zunächst ging man von der grundsätzlichen Überpositivität der Fundamente des Rechts aus, d. h. von der Rückbindung allen positiven Rechts an das Naturrecht. Hieraus ergab sich, dass auch unabhängig von binnenstaatlichem Recht ein Rechtsrahmen die Völker verbinden müsse und deren – nicht zuletzt durch konfessionelle Gegensätze geprägte – Konflikte zu moderieren hätte, das Völkerrecht. Das Rechtsverständnis im konfessionellen Zeitalter als Ergebnis und Mittel einer Suche nach Einheit jenseits der konfessionellen Ge­gensätze ist Thema der zu besprechenden Studie. Der angedeuteten Problemlage entsprechend wird dieses Rechtsverständnis am Natur- (21–99), Staats- (105–226) und Völkerrechtsverständnis (229–303) je eines katholischen und protestantischen Rechtstheoretikers der frühen Neuzeit erläutert.
Bei den dargestellten Autoren handelt es sich um den spanischen Jesuiten Francisco Suárez (1548–1617) und um den Niederländer Hugo Grotius (1583–1645). Vor allem Grotius als Zeitgenosse des Dreißigjährigen Krieges war, wie die Arbeit herausstellt, un­mittelbar an der friedenswahrenden Funktion des Rechts jenseits des Konfessionsgegensatzes interessiert (75–78), was aus seiner Sicht einer theonomen Begründung des Rechts nicht widerspricht, die sich freilich auf das Naturrecht als ermöglichenden Rahmen positiven Rechts bezieht und in gewisser Weise beschränkt (76 f.). Dabei hat das Naturrecht einerseits eine fundamentale unmittelbar-normative Wirkung, andererseits setzt es einen Rahmen für die Gestaltung verschiedener Rechtsmaterien, deren Regelungen sich sehr weit erstrecken können, auch auf die Frage der Freiheit des Menschen und damit auch auf die Begründung von Herrschaft (91 f.). Die fundamentalen (unmittelbar-normativen) Aspekte des Na­turrechts betreffen nach Grotius neben allgemeinen moralischen Grundsätzen (Gutes tun, Böses unterlassen) vor allem die Selbstbindungsfähigkeit des Menschen: Eingegangene Verpflichtungen muss er einhalten, sonst gäbe es kein Recht und kein geordnetes Zusammenleben (87 f.). Damit sind für Grotius die Theonomie und damit Überpositivität des Rechts sowie die Vorstellung, dass alle positiv-rechtlichen Normen, deren Gesamtrahmen der Staat ist, grundsätzlich durch Vertrag zustande gekommen sind, keine Wi­dersprüche, sondern das Vertragsrecht, auf dem der Staat und damit die Rechtsordnung beruht, ist Ausdruck der durch das Naturrecht beschriebenen und normierten Selbstbindungsfähigkeit des Menschen (163–177). Die reine »Weltlichkeit« des Rechts steht also nicht im Widerspruch zur grundsätzlichen Theonomie des Rechtes als eines überpositiven Rahmens, der dann nach Erwägungen menschlicher Vernunft positiv-rechtlich gestaltet werden muss.
Das eigentliche Problem für die Zeitgenossen der Konfessionskriege war jedoch das Völkerrecht. Wie lässt sich seine moderierende Funktion angesichts der eskalierenden Konflikte der ersten Hälfte des 17. Jh.s begründen (und möglichst durchsetzen)? Grotius nimmt den Gedanken des gerechten Krieges auf (268–273) und modifiziert ihn auf charakteristische Weise: Zunächst ist die Frage der Kriegsschuld gekoppelt an die des Wissens um diese Schuld (272), hieran anschließend gibt Grotius zu bedenken, dass in manchen Fällen die Frage von Recht und Unrecht nicht abschließend klärbar sein könne (273). Außerdem darf ein Krieg nur geführt werden, wenn die gerechten Kriegsgründe durch hohe Chancen auf einen Sieg unterstützt werden (273–278) und ausufernde Inhumanität vermieden werden kann (291–295). Wichtig ist für Grotius auch die Frage, wer Krieg führen darf, nämlich nur die rechtmäßige Obrigkeit eines Staates (284 f.) und nur aus gerechten Gründen.
Obwohl Grotius sieht, dass der Staat, der einen (dem Anspruch nach) gerechten Krieg erklärt, damit zugleich das Urteil in eigener Sache an sich zieht, bleibt er doch letztlich bei der Annahme der Möglichkeit eines gerechten Krieges (290), wenn bestimmte Parameter gegeben sind, insbesondere eine »ungerechte« Handlung der Gegenpartei (268–271, insbesondere 271), und dem Krieg eine formale Kriegserklärung vorangeht (282 f.). Die von Grotius klar gesehene Problematik des gerechten Krieges – Unklarheit der Gründe; die Möglichkeit, durch Handlungen (vor allem Humanitätsverletzungen) der eigenen Seite ins Unrecht zu geraten – führt ihn dann doch zum Gedanken einer überparteilichen Instanz zur Beilegung von Streitsachen (297–299). Freilich ist der Gedanke noch sehr stark ausgeprägt, dass in offensichtlichen Fällen die Gründe und formalen Vorgaben für den gerechten Krieg eine eindeutige Bewertung der Situation ermöglichen, dass also die Idee der Friedenskonferenzen auf die Einrichtung von Gremien für unklare Fälle beschränkt erscheint (298 f.).
In vieler Hinsicht vorweggenommen ist Grotius’ Deutung des Rechts durch den eine Generation vorher wirkenden Spanier Suárez. Dabei stellt die Arbeit auch Unterschiede heraus, die deutlich machen, dass die konfessionelle Einbindung eines rechtstheoretischen Entwurfs diesem eine Prägung auch bei ansonsten sehr ähnlichen Grundüberzeugungen verleiht.
Die Gültigkeit der zeitlichen Gesetze, insbesondere ihre Fähigkeit, Gerechtigkeit herzustellen (über Suárez’ Verständnis dieser Kategorie: 23 f. u. ö.), ist in ihrer Teilhabe am theonomen »ewigen Gesetz« begründet (38 u. ö.), das sich u. a. in der Wesensbeschaffenheit des Menschen und seiner Sozialität mani­-festiert und dann Naturrecht heißt (42–45). Das so verstandene Naturrecht bietet dem Menschen Gestaltungsmöglichkeiten und gibt nach Suárez’ An­sicht für deren Ausfüllung neben den moralischen Elementargrundsätzen vor allem die Einhaltung eingegangener Bindungen vor (60 u. ö.). Die wichtigste dieser Bindungen ist der Staatsvertrag, der wesentlich auch die Übertragung der Herrschaft normiert (122 f. u. ö.) und damit Souveränität ermöglicht, die für alle staatlichen Angelegenheiten gilt, nach Suárez’ in der Arbeit referierter Auffassung ausdrücklich auch gegenüber dem Papst (126). Freilich hat dieser, wie Suárez im Kontext umfangreicherer Erörterungen über die Absetzbarkeit von Fürsten darlegt, dann ein Absetzungsrecht gegen den Herrscher, wenn dieser vom rechten Glauben abfällt (160–162). Hier wird also im katholischen Sinne ein theologischer Vorbehalt gegen die Herrschaft nichtkatholischer politischer Autoritäten geltend gemacht.
Die Arbeit stellt die Rechtsauffassungen beider Autoren auch in einen Zusammenhang. Dieser Zusammenhang wird dadurch verschleiert, dass Grotius, der Suárez zwar gelegentlich lobend er­wähnt (1 f.), an einer offenen Rezeption der Werke des Jesuiten durch seinerzeitige Zensurbestimmungen gehindert war (2 f.). Es bleibt also nur der von der Arbeit eingeschlagene Weg über einen inhaltlichen Vergleich beider Autoren. Die materialreiche Arbeit weist überzeugend nach, dass Grotius zwar nicht von Suárez ab­hängig ist – dazu ist sein Denken zu sehr an eigenständigen und mit seiner Epoche zusammenhängenden Fragen orientiert –, sich aber hinsichtlich grundsätzlicher Fragen durchaus von Suárez anregen lässt. Der wichtigste Aspekt hierbei ist sicher der Gedanke, das Naturrecht so zu verstehen, dass es einen theonomen Rahmen für menschliche – und als menschliche auch verstandene – Rechtssetzung ergibt. Deren Grundkategorie ist der Vertrag, der politische Strukturen erst ermöglicht, weil in ihm die Selbstbindungsfähigkeit des Menschen zum Ausdruck kommt. Oberhalb dieser Ebene sieht der Katholik Suárez Eingriffsmöglichkeiten des Papstes, der Protestant Grotius tut sich schwerer: Unversöhnliche Gegensätze, die sich nicht einfach dem Schema von Rechtsverletzung und gerechtem Krieg fügen, könnten, so wird erwogen, vor überparteilichen Schiedskommissionen geklärt werden. Bei diesen Fragen kann es sich nach Grotius aber nicht um Fragen nach der geoffenbarten religiösen Wahrheit handeln.
Die Arbeit weist überzeugend nach, wie Katholizismus und Protestantismus in der Auseinandersetzung mit der fragmentierten Lebenswelt einer Zeit, in der sich erste Konturen der Moderne abzuzeichnen begannen, jeweils eigene Wege gingen, um die aufgebrochene Pluralität beherrschbar zu machen und vor allem ihre zerstörerischen Konsequenzen aufzufangen. Diese Wege sind trotz konfessioneller Differenzen, die vor allem in der theologisch begründeten politischen Aufsichtskompetenz des Papstes über die weltlichen Herrscher im Urteil von Suárez bestehen, in vieler Hinsicht vergleichbar, jedenfalls konfessionsübergreifend anregend. Die alles in allem vorzügliche Arbeit erzählt also von einem frühen Beispiel einer Ökumene des Nachdenkens über eine Welt, deren Deutbarkeit von den Prämissen des (konfessionell nun nicht mehr einheitlichen) Christentums her immer schwieriger wird.