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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

496–498

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Kästner, Karl-Hermann

Titel/Untertitel:

Gesammelte Schriften. Hrsg. v. H. U. Anke, D. Couzinet u. Ch. Traulsen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XXIX, 894 S. 23,2 x 15,5 cm = Jus Ecclesiasticum, 94. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-150780-9.

Rezensent:

Hendrik Munsonius

Karl-Hermann Kästner vollendete im April 2011 sein 65. Lebensjahr. Zu diesem Anlass haben seine Schüler H. U. Anke, D. Couzinet und Ch. Traulsen diesen Band Gesammelte Schriften herausgebracht. K. war nach ersten Jahren an der Universität 1979–91 Richter am Verwaltungsgericht, habilitierte sich 1991, war nach Lehrstuhlvertretungen als Professor an der Universität Halle-Wittenberg und ist seit 1997 in Tübingen tätig. Neben seiner Uni­versitätslaufbahn hat er wiederholt als Richter im Nebenamt gewirkt. Bei den hier vorgelegten Texten handelt es sich um eine fast vollständige Erfassung der Abhandlungen und Artikel von K., die sich über den gesamten Zeitraum seiner wissenschaftlichen Tätigkeit erstrecken. Den Arbeitsschwerpunkten von K. entsprechend ist der Band in die Abschnitte I. Geschichte, II. Religions- und Gewissensfreiheit, III. Religionsunterricht, Schule, IV. Rechtsschutz in Kirchensachen, V. Kirchengut, VI. Sonstiges Staatskirchenrecht, VII. Sonn- und Feiertagsschutz sowie VIII. Verschiedenes gegliedert, die jeweils vier bis neun Beiträge umfassen. Dabei sind Beiträge zu Handbüchern ebenso vertreten wie didaktische Beiträge, Urteilsbesprechungen und Überblicksdarstellungen zur Rechtsprechung, Gutachten oder Stellungnahmen zu jeweils aktuellen Einzelfragen und Vorträge. Eine Affinität zu Fragen der Justizgewährung und der rechtsprechenden Tätigkeit ist unübersehbar. K. ist damit im­mer nah an den gesellschaftlichen Konflikten, die vor Gerichten ihren Austrag gefunden haben. Naturgemäß können im Folgenden nur einige Grundzüge des umfangreichen Bandes skizziert werden.
Ein Grundproblem, das sich durch zahlreiche Beiträge zieht, ist die Frage, wie der individuelle Freiheitsgebrauch mit einer nor­-mativen Ordnung zu koordinieren ist, die Freiheit zugleich er-möglicht und beschränkt. Dieses Problem wird in den Beiträgen des II. Abschnitts grundsätzlich bearbeitet. Dabei setzt sich K. von weitgehend vertretenen Ansichten und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in zweierlei Hinsicht ab: Zum einen spricht er sich dafür aus, die einzelnen Komponenten von Art. 4 des Grundgesetzes (GG) nicht zu einem einheitlichen Schutzbereich zusammenzufassen, sondern zwischen Glauben, Bekenntnis und Religionsausübung zu differenzieren. Auch könne nicht jedes religiös begründete Verhalten unter den Schutz der Religionsfreiheit gestellt werden. Zum anderen spricht sich K. dafür aus, die Schran ken des nach Art. 140 GG fortgeltenden Art. 136 der Weimarer Reichsverfassung auf Art. 4 GG anzuwenden, wonach die bür­-gerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt werden. Danach hätte der Gesetzgeber die Möglichkeit, die Religionsfreiheit durch die Statuierung von Rechten und Pflichten ein­zuschränken. Nach immer noch überwiegender Ansicht ist dies im Falle der Religionsfreiheit jedoch nur möglich, wenn es dabei um den Schutz eines Gutes geht, das seinerseits durch die Verfassung geschützt ist. K.s Ansatz wird insbesondere in den Beiträgen des III. Abschnitts am Beispiel der Schule konkretisiert. Dabei werden das Grundrecht des Schülers auf freie Meinungsäußerung, die Anbringung von Kreuzen in Schulräumen und religiös geprägte Kleidung von Lehrkräften behandelt. Die bekannten einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erfahren eine gründliche, mitunter auch kritische Würdigung.
Die Freiheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften wird u. a. anhand der Fragen der staatlichen und kirchlichen Gerichtsbarkeit (Abschnitt IV.) behandelt, der mehrere Abhandlungen gewidmet sind. Dabei vertritt K. mit der einhelligen Meinung im Schrifttum den Ansatz, dass die staatliche Gerichtsbarkeit auch in kirchlichen Angelegenheiten zur Rechtsprechung berufen ist; das kirchliche Selbstbestimmungsrecht schließt demnach nicht schon die Zuständigkeit staatlicher Gerichte aus, sondern ist erst im Rahmen der materiellen Entscheidung zu berücksichtigen. Demgegenüber wird bis in die höchstgerichtliche Rechtsprechung staatliche Judikatur in kirchlichen Angelegenheiten weitgehend ausgeschlossen. Neben der staatlichen findet kirchliche Gerichtsbarkeit statt. Deren Entscheidungsmaßstäbe bindet K. an das Kirchenrecht und grenzt sie nach zwei Seiten ab: Zum einen geht es um die Anwendung spezifisch kirchlichen Rechts, so dass staatliche Maßstäbe nicht ohne weiteres übernommen werden können. Zum anderen geht es um spezifisch rechtliche Maßstäbe, so dass sich kirchengerichtliche Entscheidungen als streitentscheidende Rechtsanwendung darstellen und nicht durch Ansätze der Schlichtung und der Seelsorge verfremdet werden dürfen.
Weitere Themen ergeben sich aus der Frage, wie eine Gesellschaft innerhalb einer säkularen Ordnung mit ihren religiösen Wurzeln um­geht. Gegenstände der Erörterung sind der Religionsunterricht (Abschnitt III.), der Bestand Theologischer Fakultäten sowie der Sonn- und Feiertagsschutz (Abschnitt VII.). K. zeigt auf, dass Religionsunterricht und Theologie verfassungsrechtlich gerade als kon­fessionell distinkt verstanden und als solche geschützt werden. Eine Selbstsäkularisierung dieser konfessionellen Institutionen der staatlichen Rahmenordnung liefe dem Sinn dieser Ordnung gerade zuwider. Im Unterschied zu anderen Freiheitsrechten und Institutionen, die grundsätzlich allen Religionsgemeinschaften offenstehen, hat sich mit dem Sonntagsschutz ein genuin christliches Erbe in der Verfassungsordnung niedergeschlagen. Der Bewahrung dieses Erbes trotz eines wachsenden ökonomischen Drucks sind weitere Beiträge gewidmet. An dieser Stelle darf auch an die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen das Berliner Ladenöffnungsgesetz erinnert werden, die von K. für die Evangelische Kirche betrieben worden ist (dokumentiert bei A. von Campenhausen, Tag der Ar­beitsruhe und der seelischen Erhebung, 2010, vgl. ThLZ 136 [2011], 1118).
Der Band ist ein nützliches Arbeitsmittel, weil hier auch an entlegener Stelle publizierte Beiträge zusammengeführt worden sind. Durch die nahezu vollständige Erfassung der Schriften von K. stellt sich allerdings – unvermeidlich – manche Redundanz ein. Dankenswerterweise sind allen Beiträgen die Paginierungen des Erst­abdrucks beigegeben, so dass ein zuverlässiges Auffinden und Belegen von Zitaten möglich ist. Zusammen mit den Monographien von K., insbesondere seiner Habilitationsschrift »Staatliche Justizhoheit und religiöse Freiheit« (1991) sowie den Kommentierungen zu Art. 4 GG im Grundrechte-Kommentar, hrsg. von K. Stern und F. Becker (2010) und Art. 140 GG im Bonner Kommentar zum Grundgesetz (2010) liegt ein beeindruckendes Gesamtwerk vor, in dem mit dogmatischer Gründlichkeit alle relevanten Fragen des Religions- und Staatskirchenrechts auf luzide Weise bearbeitet sind. Hier kommen eigenständiges wissenschaftliches Denken und die Prägnanz des erfahrenen Verwaltungsrichters zusammen.