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Ausgabe:

Januar/1996

Spalte:

73–78

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Overbeck, Franz

Titel/Untertitel:

Werke und Nachlaß. Bd. 1: Schriften bis 1873. In Zusammenarb. mit M. Stauffacher-Schaub hrsg. von E. W. Stegemann u. N. Peter. Bd. 2: Schriften bis 1880. In Zusammenarb. mit M. Stauffacher-Schaub hrsg. von E. W. Stegemann u. R. Brändle. Bd. 4: Kirchenlexikon, Texte, Auswahl, Artikel A-J. In Zusammenarb. mit M. Stauffer-Schau,b hrsg. von B. v. Reibnitz.

Verlag:

Bd. 1: X, 337 S. Lw. DM 98,­. ISBN 3-476-00962-9. Bd. 2: IX, 576 S. Lw. DM 128,­. ISBN 3-476-00963-7. Bd. 4: XLIV, 692 S. m. 4 Abb. Lw. DM 148,­. ISBN 3-476-00965-3. Stuttgart: Metzler 1994/95. 8°.

Rezensent:

Hans-Jürgen Gabriel

Nach der bereits 1962 veröffentlichten Übersicht über den Nachlaß von Franz Overbeck (1837-1905) konnte man erwarten, daß dieser durch entsprechende Publikation der Öffentlichkeit bekannt gemacht würde. Diesem jahrzehntelang bestehenden Desiderat verspricht die nunmehr im Erscheinen begriffene kritische Ausgabe von Werken und Nachlaß Overbecks Erfüllung zuteil werden zu lassen.

In den ersten beiden Bänden werden mit einer Ausnahme ­ sorgfältig ediert ­ Arbeiten geboten, die Overbeck bereits selbst publiziert hat, wobei einige frühe Schriften, darunter seine Licentiaten-Dissertation und seine Bearbeitung von De Wettes Kommentar zur Apostelgeschichte, nicht aufgenommen wurden. Nur der 1867 gehaltene Vortrag "Über die Anfänge des Mönchthums" ist aus dem Nachlaß einbezogen worden. Insofern besteht das entscheidende Verdienst dieser Bände darin, Arbeiten Overbecks, die aufgrund ihrer weit zurückliegenden Erstveröffentlichung schwer zugänglich waren, nunmehr einer breiten Benutzung zu erschließen. Dies geschieht, indem jeder der hier gebotenen Schriften eine Einleitung vorangestellt wird, die über Entstehung, Inhalt, forschungsgeschichtliche Einordnung und editorische Fragen wichtige Informationen vermittelt. Ergänzt werden diese durch sorgfältig vorgenommene Detailhinweise zu den abgedruckten Arbeiten, die deren Bezug zum jeweiligen Forschungsgegenstand sowie Overbecks Anspielungen und Auseinandersetzungen erkennbar werden lassen.

Overbeck wurde 1870 zum ao. Professor für Neues Testament und Alte Kirchengeschichte an die Universität Basel berufen; Anfang 1872 erhielt er ein Ordinariat für Neutestamentliche Exegese und Ältere Kirchengeschichte. Dementsprechend bewegen sich mit Ausnahme der Schrift "Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie" die hier edierten Arbeiten in dem dadurch bezeichneten Rahmen, wobei sich Overbecks besonderes Interesse an der Analyse des Übergangs vom Urchristentum zur alten Kirche zeigt. Hervorzuheben sind hier folgende Arbeiten: "Über das Verhältnis Justins des Märtyrers zur Apostelgeschichte", "Studien zur Geschichte der alten Kirche" (darunter der gewichtige Beitrag "Über das Verhältnis der alten Kirche zur Sclaverei im römischen Reiche"), "Über die Auffassung des Streits des Paulus mit Petrus in Antiochien (Gal 2,11 ff.) bei den Kirchenvätern" sowie die zwei Abhandlungen "Zur Geschichte des Kanons".

Im Gegenüber zu diesen Detailstudien weist Overbecks Baseler Antrittsvorlesung "Über Entstehung und Recht einer rein historischen Betrachtung der Neutestamentlichen Schriften in der Theologie" programmatischen Charakter auf. Als Vertreter der Tübinger Schule verficht Overbeck hier die Auffassung, daß "die Aufgabe einer historischen Untersuchung der ältesten Urkunden des Christenthums... erst neuerdings sich in klarer Schärfe erfassen ließ". Damit ergebe sich die Möglichkeit und Notwendigkeit, mit der Tradition des von den Kirchenlehrern des 2./3. Jh.s geprägten Bildes vom Urchristentum zu brechen, ein Schritt, den auch die Reformation nicht voll zu gehen vermochte. Die Beantwortung der "rein historische(n) Frage" nach dem Urchristentum "mit den reinen Mitteln historischer Wissenschaft" müsse dem Rechnung tragen, "daß in keinem einzigen historischen Buch des Neuen Testaments sich die historischen Thatsachen der evangelischen und apostolischen Geschichte in nackter Unmittelbarkeit abdrücken", sondern sich die Autoren von bestimmtn Gesichtspunkten leiten lassen. Das schließe es freilich nicht aus, "daß die biblischen Bücher jedenfalls zunächst aus dem Leben der Geschichte erklärt werden müssen". Obwohl Overbeck durchblicken läßt, daß noch nicht abzusehen sei, zu welchen Resultaten und Schlußfolgerungen die von ihm vertretene rein historische Forschungsrichtung führen werden, weist er hier der Theologie die Aufgabe zu, "die innere Harmonie zwischen unserem Glauben und unserem wissenschaftlichen Bewußtsein herzustellen". (I, 84, 97, 100 ff., 105)

Seinen Zweifel an deren Lösbarkeit bekundet er in seiner "Streit- und Friedensschrift" von 1873 "Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie". Ihre Neuedition hat den Vorzug, der Wiedergabe des Textes von 1873 die Ergänzungen der 2. Auflage von 1903 nachzustellen, so daß dem Leser somit die Möglichkeit geboten wird, die ältere Fassung unabhängig von Overbecks Selbstinterpretation von 1903 zur Kenntnis zu nehmen. Ausgehend von der Feststellung, daß die konstitutiven Elemente des Urchristentums ­ d.h. des Glaubens an Christus (I, 208) ­ die Weltverneinung, die Erwartung der baldigen Wiederkehr Christi und damit des Weltendes sind, erörtert Overbeck die Funktion, die die Theologie dem Christentum gegenüber spielen könnte. Ist "Weltverneinung die innerste Seele des Christenthums" (I, 220), so stehe jegliche Theologie zu ihm in einem fundamentalen Mißverhältnis; denn als Reflexion über das Christentum muß sie dieses logischerweise in ein Verhältnis zur Welt und ihrer Kultur setzen. Da aber "der Antagonismus des Glaubens und des Wissens... ein beständiger und durchaus unversöhnlicher" ist (I, 170), bezeichnet das Aufkommen einer christlichen Theologie das Ende des ursprünglichen Christentums. Overbeck sieht im Aufkommen einer Reflexion über Glauben und Wissen ein Indiz für eine Schwächung des Glaubens und bezeichnet das "Thun jeder Theologie, sofern sie den Glauben mit dem Wissen in Berührung bringt", als ein "irreligiöses". (I, 172) Von diesen Voraussetzungen her beleuchtet Overbeck die apologetische und die liberale Theologie seiner Zeit als zwangsläufige Folge einer Entwicklung, die mit dem Aufkommen von Theologie in der alten Kirche angelegt war. Ihre Differenzen sind gegenüber den von Overbeck beigebrachten Kriterien unerheblich: Während die apologetische Theologie vom Christentum "nur noch die Schale ohne den Kern" hat, hat die liberale "mit dem Kern auch die Schalen des Christenthums von sich geworfen". (I, 206) Stellt die apologetische Theologie gelassen die Nichtrealisierbarkeit des christlichen Ideals in der von der Sünde bestimmten Welt fest und überläßt seine Verwirklichung einer anderen Welt, so meint die liberale Theologie, "ein Christenthum entdeckt zu haben, dessen Versöhnung mit der Weltbildung kaum noch ein Problem ist", und führt dementsprechend das Christentum als die Religion vor, "mit welcher man machen kann, was man will". (I, 204 f., 212) Da das Christentum nach Overbecks Sicht "in der Wurzel unpolitisch" ist, so ist denn auch sein Mißbrauch für politische Propaganda im Zeichen deutscher "Überhebung" abzulehnen. (I, 197 f.) Als Alternative zeichnet Overbeck in wenigen Strichen eine "kritische" Theologie, die sich zwar nicht "mit der christlichen Lebensbetrachtung" identifiziert, sondern auf das "Excessive" der christlichen Weltverneinung aufmerksam ist, jedoch mit dem Christentum "tief genug empfinden" kann, um sich dem "Versuch, es uns ganz aus dem Sinn zu tilgen", zu widersetzen. Eine solche "kritische" Theologie hätte das Christentum gegen alle Versuche, es der Welt zu "accomodiren", zu verteidigen. (I, 231 f.) Diesem Anliegen hat Overbeck im Vorwort zu den "Studien zur Geschichte der alten Kirche" 1874 folgenden Ausdruck gegeben: "Das Christenthum ist eine viel zu erhabene Sache, als daß es in einer im Ganzen ihm entfremdeten Welt dem Einzelnen so leicht gestattet sein sollte, sich ohne Weiteres damit zu identificieren." (II, 20) Zugleich stellt sich Overbeck auch Bestrebungen von D. F. Strauß und Paul de Lagarde entgegen, ansatzweise eine neue Religion zu kreieren.

Hatte sich Overbeck 1873 über sein eigenes Verhältnis zu Christentum und Theologie in genere in vorbehaltvoller Weise geäußert, so daß dieses für die Zeitgenossen nicht voll erkennbar wurde, so wird diese Zurückhaltung im Nachwort zur 2. Auflage 1903 aufgegeben. Gelüftet wird das Geheimnis um die "kritische" Theologie, indem Overbeck verlauten läßt, daß auch sie nicht im Dienste der Lebendigerhaltung des Christentums steht. (I, 282) Bedenkenswert ist seine Äußerung, er habe bereits vor 1873 seinen Zuhörern vom Christentum nicht das vorgetragen, was er selbst davon annahm, sondern was er "unter Voraussetzung ihres Glaubens daran zur Schonung desselben für zweckmäßig" hielt. (I, 289) Daß Overbeck seine Kritik an der zeitgenössischen Theologie nunmehr auf die Ritschlianer ausweitet und sie in eine bissige Kritik an Harnacks "Wesen des Christentums" einmünden läßt (I, 308-318), kann nicht überraschen. Hingewiesen sei jedoch auf eine Äußerung aus dem Kreise der von Overbeck kritisierten Theologen, die die Berechtigung seiner Vorbehalte deutlich werden läßt. In einem Brief von E. Troeltsch an Harnack vom 23.3.1900 ist zu lesen: "Das Christentum ist... in der modernen Welt eine neue Religion geworden, weil es ganz neue Inhalte und Weltansichten in sich hineingezogen hat. Es ist nicht bloß eine neue Theologie, was wir vertreten und lehren, sondern überhaupt eine neue Phase des Christentums selbst."

Als Kritiker der Theologie seiner Zeit kann Overbeck zweifellos das Verdienst beanspruchen, die streng eschatologische Ausrichtung des Urchristentums geltend gemacht zu haben, diese jedoch als "Weltverneinung" zu interpretieren, stellt eine Vereinseitigung dar. Es ist zu hoffen, daß die Frage, ob und wieweit hier der Einfluß Schopenhauers Overbecks Sicht des Urchristentums bestimmt, durch die im Rahmen der hier angezeigten Ausgabe beabsichtigten Veröffentlichungen aus Overbecks Nachlaß geklärt werden kann.

Im Gegensatz zu den eben vorgestellten ersten beiden Bänden, die fast ausschließlich vom Autor selbst publizierte Arbeiten enthalten, ist der 1995 erschienene 4. Band Overbecks Nachlaß gewidmet. Er bietet den ersten Teil einer Auswahl von Aufzeichnungen zu Namen und Stichworten, die Overbeck für den eigenen Gebrauch seit der Vorbereitung auf die Habilitation (1861-1863) anlegte. Wie die Hgn. feststellt, handelt es sich bei dem so im Laufe von 4 Jahrzenten entstandenen "Kirchenlexicon" Overbecks neben seinen noch der Veröffentlichung harrenden Vorlesungsmanuskripten um "den quantitativ und qualitativ wichtigsten eigenständigen Teil des wissenschaftlichen Nachlasses". (VIII) Mit der Entscheidung für eine Auswahlausgabe in 2 Bänden werden jedoch nur etwa 5 % des "Kirchenlexicons" publiziert. Die vorliegende Ausgabe strebt an, gegenüber der von C. A. Bernoulli nach Overbecks Tod der Öffentlichkeit gebotenen auf Kompilation beruhenden Auswahl aus Overbecks Nachlaß, die 1919 unter dem Titel "Christentum und Kultur" erschien und mit der sich bereits ein bedeutendes Stück von Wirkungsgeschichte verbindet, den echten Overbeck vorzustellen. Deshalb werden im vorliegenden Band wie in seiner zur Veröffentlichung vorgesehenen Fortführung die von Bernoulli exzerpierten Artikel "integral und ohne Kürzungen veröffentlicht". (XIX) Andererseits wurde weitgehend davon abgesehen, den eigentlichen Kern des "Kirchenlexicons", nämlich Overbecks kirchenhistorische Aufzeichnungen, aus denen er eine profane Kirchengeschichte zu erarbeiten gedachte, in die Auswahl aufzunehmen. Vielmehr geht es darum, Overbecks Kritik an der zu seiner Zeit modernen Theologie und Kultur möglichst vielfältig zu dokumentieren.

Für die inhaltliche Erschließung des somit Gebotenen legen sich Overbecks Auslassungen zum Stichwort "Christenthum" als Ausgangspunkt nahe. Für ihn ist "Weltflucht... die Signatur des ursprünglichen Christenthums", die von der Kirche, indem sie sich seit der Mitte des 2. Jh.s "als eine Macht in der Welt" fühlte, rasch aufgegeben wurde. Overbeck kritisiert die Auffassung, das Urchristentum "sei nicht blos Weltentsagung, weise freilich aus der Welt heraus auf etwas Besseres, aber mit dem Vorbehalt, zur Welt zurückzukehren", als auf einer optischen Täuschung beruhend. (164) Vielmehr handele es sich bei ihm um "eine Denkweise, die in der Welt nur durch Verfolgung ’siegen’ konnte und eben darum asketisch werden mußte". (166) Abhängigkeit von Schopenhauer ist bei dieser Interpretation zumindest für den späten Overbeck auszuschließen, wenn er schreibt,: "Was Schopenhauer vom asketischen Grundcharakter des Christenthums fabelt, hängt in der That nur an seinem Grundirrthum über die Stammverwandtschaft von Christen-thum und Buddhismus...". Overbeck deutet jedoch an, daß er dieses 1873 bei der Abfassung seiner Schrift "Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie" noch nicht durchschaut habe. (165) Das Urchristentum, das eine Geschichte gar nicht haben wollte, sei mit dem Auftreten der altkatholischen Kirche um die Mitte des 2. Jh.s verschwunden, und damit habe die Zeit des sich dem Urchristentum in zunehmendem Maße entfremdenden historischen Christentums begonnen.

Wirkte in der alten Kirchengeschichte der innere Protest des Urchristentums gegen die Kultur noch nach, so habe es sich im Laufe der Jahrhunderte verbraucht. Als Resultat ergibt sich für Overbeck, "daß was heute Christenthum heißt, nur noch der Schatten eines alten Namens ist". (174 ff.) Der Glaube, "daß die Welt dauern wird und das Christenthum sich auf diese Dauer einzurichten hat", sei mit dem Urchristentum nicht in Übereinstimmung zu bringen. (188 f.) "Modernes Christenthum ist eine contradictio in adiecto..." (229) "In der menschlichen Gesellschaft ist das Christenthum augenscheinlich zu seinem Ende gelangt... Das Christenthum historisch betrachten heißt sich sein Ende unübersehlich machen." (182) "Unser Leben wird vom Christenthum augenscheinlich nicht beherrscht." (190) "Was das Christenthum noch im Stillen Kämmerlein sein kann, mögen untersuchen, die es angeht, als öffentliche Angelegenheit sollte es in seinem eigenen Interesse, im Interesse dessen, was ihm noch an Fortleben beschieden sein mag, preisgegeben werden." (192) Man solle es "sanft verlöschen" lassen. (202) In diesem Zusammenhang ist denn auch Overbecks Charakterisierung seiner selbst zu sehen: "Im Christenthum bin ich nie ansässig gewesen." Jedoch habe ihm seine Tätigkeit in der Theologie die Friedlichkeit seines Verhältnisses zum Christentum erhalten, "das ich zu respectiren nie aufgehört habe...", andererseits jedoch ihn gelehrt, "alle Theologie von Herzen nicht zu mögen". (222)

Von seinen Voraussetzungen her lehnt Overbeck jegliche Verbindung des Christentums mit anderweitigen Bestrebungen, dem Nationalismus und dem Sozialismus, ab. Die Hinfälligkeit des Christentums zeige sich daran, daß es nicht fähig sei, "Europa die Landplage des Nationalismus zu ersparen". Die Vorstellung von einem "besonderen Beruf der Deutschen, das Christenthum zu retten", bezeichnet Overbeck als "eine der crassesten Verirrungen". (180) Überhaupt habe sich das Christentum im Laufe seiner Geschichte "keiner Ausartung noch Verirrung zu entziehen vermocht..., die in irdischer Entwicklung nur vorkommen mögen". (149) Das Urchristentum entwickele zwar unbekümmert um weltliche Bestrebungen die Keime bzw. die Möglichkeit späterer christlich-sozialistischer Bestrebungen. Da letztere aber unlöslich in das Getriebe der Weltgeschichte gezogen seien, stellten sie gegenüber dem Urchristentum "etwas ganz heterogenes" dar. (260 f.)

Im Rahmen von Overbecks kirchen- und theologiekritischer Haltung können seine Ausführungen zu mehreren Stichworten (allegorische Interpretation, Apologetik, Beichte, Chateaubriand, Cultur, Evangelien, Exegese, Germanen) besondere Beachtung beanspruchen. Overbeck bestreitet der Theologie den Charakter einer Wissenschaft, vielmehr sei sie in diesem Rahmen, besonders im Verhältnis zur Geschichte "ein blosser Parasit". Der "Gedanke, das Christenthum rein auf Historie zu stellen", sei und bleibe "eine blanke Absurdität". (391 f.) Dieser Vorwurf richtet sich insbesondere gegen A. v. Harnack, dem als Zielpunkt von Overbecks kritischen Bemerkungen fast ein Viertel des vorliegenden Bandes (436-585) gewidmet ist. "Niemand hat das wahre Verhältnis des Christenthums zur Geschichte gröber verkannt als Harnack, indem er in seinem ’We-sen des Christenthums’ dieses Christenthum in ’rein historischer’ Weise zu neuem Leben wiederaufrufen zu können gemeint hat." (517) "Für mich gibt es kein eindringlicheres An-zeichen des von mir selbst erlebten Verfalls der Wissenschaft als daß auf demselben Gebiete, auf welchem vor einigen 30 Jahren Baur als Meister galt, heutzutage Harnack in diesem Ansehen steht." (444)

Die Begründungen für diese uns heute ungerechtfertigt hart erscheinenden Urteile muß man freilich in Overbecks Erörterungen der exegetischen und kirchenhistorischen Details suchen, und d.h. im vorliegenden Band findet sich davon nur ein Bruchteil. Zu beachten bleibt freilich auch, daß Harnack von Overbeck als Protagonist und Exponent des gesamten liberalen Protestantismus bzw. der damals modernen Theologie überhaupt attackiert wird, was nicht ausschließt, daß auch weitere Vertreter dieser Richtung (z.B. W. Herrmann, M. Rade und die von ihmherausgegebene "Christliche Welt", E. Troeltsch und P. Wernle) mit kritischen Seitenhieben bedacht werden.

Besondere Verantwortung für das Aufblühen der modernen Theologie weist Overbeck Bismarck zu, als dessen "theologische Creaturen" er Ritschl und Harnack bezeichnet. (101) Zwar versagt Overbeck dem Staatsmann Bismarck trotz mannigfacher Vorbehalte nicht seinen Respekt (68 f.), äußert sich aber recht kritisch zu den damals in Mode gekommenen Erörterungen über Bismarcks Christentum. "Bismarck ist dem Christenthum so entfremdet, daß er im Stande ist, es vollkommen frei als Mittel im Betrieb seines staatsmännischen Berufs zu gebrauchen." (80) Bismarck sei "für seine Zeit der wirksamste Prediger der Entbehrlichkeit der Religion für alle irdische Wirksamkeit gewesen". (95) Allerdings habe "das schiefe Verhältnis Bismarcks zur Welt der Religion" ihm seine schwerste politische Niederlage, nämlich die im Kulturkampf, bereitet. (98) Bismarck hätte den Kulturkampf mit Erfolg führen können, wenn er sich nur außerkirchlicher Mittel bedient hätte. "Siegen konnte er in ihm, nur wenn er die katholische Kirche an ihren Wurzeln ergriff, d.h. ihn als religiösen gegen die Religion führte. Das war von ihm nicht zu erwarten..." (307 f.)

Wenn nunmehr 90 Jahre nach Overbecks Tod sein Nachlaß in möglichst authentischer Form bekannt zu werden beginnt, so bleibt zu wünschen, daß sich auch an diese Veröffentlichungen in Aufnahme und Widerspruch eine gehaltvolle Wirkungsgeschichte anschließen möge.