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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

491–493

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Steinmeier, Anne M.

Titel/Untertitel:

Kunst der Seelsorge. Religion, Kunst und Psychoanalyse im Diskurs.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 319 S. m. 28 Abb. 23,2 x 15,5 cm. Geb. EUR 89,95. ISBN 978-3-525-57005-0.

Rezensent:

Albrecht Grözinger

Anne Steinmeier, Professorin für Praktische Theologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hat ein Buch vorgelegt, das den Anspruch erheben kann, eine Grundlegung der Theorie der Seelsorge zu sein. Bereits der Untertitel markiert den theoretischen Zugang: Es heißt nicht Religion, Kunst und Psychoanalyse im Dialog, sondern Religion, Kunst und Psychoanalyse im Diskurs. Damit ist bereits Grundlegendes gesagt: Es geht S. um Strukturen, um explizite und implizite Perspektiven, die das Verständnis von Seelsorge bestimmen. Auch dort, wo nicht ein expliziter Dialog vorliegt, verschränken sich – so die implizite Arbeitshypothese des Buches – ästhetische, theologische und philosophische Perspektiven im Verständnis der Seelsorge. In drei großen Kapitels schreitet S. dieses komplexe Theorie-Feld ab.
Kapitel 1 widmet sich unter der Überschrift »Sprachgewinne« der »Kunst des Gesprächs« (15–79). Mit dieser Entscheidung wird das größere Umfeld erkennbar, in dem sich das Buch im Rahmen der neueren Theoriegeschichte der Seelsorge ansiedelt, nämlich das gesprächsorientierte pastoralpsychologische Paradigma, wie es vor allem von Joachim Scharfenberg entwickelt wurde. Identität ist für S. – im Anschluss an Paul Ricœur – narrativ verfasste Identität, Leben ist versprachlichtes, genauerhin erzähltes Leben. Damit wird die Sprache zum privilegierten, wenn auch nicht ausschließlichen Medium der Seelsorge. Und deshalb wird die Struktur der Sprache zum bevorzugten Reflexionsgegenstand einer Theorie der Seel­-sorge. Dies wird insbesondere dort deutlich, wo S. den Ansatz von Scharfenberg vehement gegen den Vorwurf mangelnder Theologizität verteidigt. Diese Theologizität verortet S. eben nicht in einem bestimmten Inhalt oder Traditionsbezug, sondern im Verständnis der Struktur der Sprache selbst: »Was wirklich ist, ist nicht festgestellt. Wo es wird, wird es aus Gott. Das ist das theologische Proprium, das die ›Seelsorge des Gesprächs‹ trägt. Wirklichkeit, Wirkliches wird im schöpferischen Sprachgeschehen als einem Geschehen, das aus jenem Geist und jener Kraft der Sprache ist, die in Gott selbst ihren Grund, ihr Lebensblut haben.« (27) Deshalb aber ist S. auch genötigt, das Sprach- und Wirklichkeitsverständnis von Scharfenberg, der ja im Kontext der traditionellen geistesgeschichtlichen Linie von Humboldt über Dilthey zu Gadamer zu stehen kommt, zu öffnen und zu weiten. Dies geschieht unter Bezugnahme auf klassische Differenz-Theoretiker wie etwa Jacques Lacan für die Psychoanalyse. Das Denken von »Differenz« und die Figur des »Anderen« werden zur Mitte der Theorie der Seelsorge. Damit aber werden die ästhetische Theorie und die exponierten ästhetischen Kunst-Objekte zu notwendigen Elementen seelsorgerlicher Theoriebildung, da ja in ihnen die Dialektik von Präsenz und Entzug, also bleibende Differenz in aller Gegenwärtigkeit theoretisch reflektiert und sinnlich anschaulich wird.
Dieses Grundverständnis der Seelsorge wird dann im Kapitel 2 unter der Überschrift »Verwundbare Freiheit« auf den Handlungsvollzug der Seelsorge hin bedacht (81–118). Ausgangspunkt bilden die Überlegungen des Philosophen Peter Bieri alias Pascal Mercier zur Lebenskunst als »Handwerk der Freiheit«, wobei dieses Handwerk der Freiheit für S. untrennbar mit den »Spielräumen der Sprache« (81) verbunden ist. Dieses sehr philosophisch und kulturwissenschaftlich orientierte Kapitel konzipiert Seelsorge als ästhe­-tische Praxis der »Findung des eigenen Lebens« (87) unter den Bedingungen radikaler Kontingenz.
Werden Ästhetik und Kunst für die Praxis der Seelsorge so stark gemacht, wie S. dies tut, dann ist eine materiale Auseinandersetzung mit den Objekten der Kunst unumgänglich. Dies geschieht in dem umfangreichen Kapitel 3 mit der bezeichnenden Überschrift »Kunst als Sorge für die Seele« (119–281). Diese Kapitel stellt zweifellos das Herzstück des gesamten Buches dar. Der Inhalt und die Gedanken dieses Kapitels können nicht für eine Rezension zusam­mengefasst werden. André Malraux hat, um einen Begriff der mo­dernen Kunst zu finden, den Begriff des »imaginären Museums« geprägt. Das imaginäre Museum ist ein eigenständiges Reich ge­genseitiger Verweisungen und Präsentationen, die nicht einfach die Wirklichkeit abbilden – und gleichwohl auf sie bezogen sind. In diesem Sinne kann man dieses Kapitel 3 als ein »imaginäres Mu­seum« ästhetischer Seelsorgetheorie beschreiben, das alle Bereiche der Kunst mit einbezieht. Der Leser, die Leserin werden dieses imaginäre Museum belehrt und perspektivenreicher verlassen – also reich beschenkt. Und deshalb steht für S. am Ende eine Theorie der »Seelsorge in der Zeit der Gaben«: »Die Kunst der Seelsorge setzt ein mit der Gabe der Sprache als der Gabe des Sprechens und Hörens, des schöpferischen Verstehens. Eine Gabe im Mut zum Sinn … als Spurensuche von Gottes Anwesenheit im je Kontingenten, lebendigen Leben von Menschen« (283). Kunst der Seelsorge gründet »in der Hoffnung auf die Gabe verwandelnder Spurenlese im Unendlichen, der schöpferischen Lesung und Erhörung der Lebenserzählungen in der Unendlichkeit des auferweckenden Gedächtnisses Gottes« (292).
Die weitere Entwicklung der Theorie der Seelsorge wird sicher an diesem Buch nicht vorbeigehen können. Der konsequent ästhetisch-theologische Ansatz sowie dessen materiale Durchführung geben dem Buch ein so eigenständiges wie anregendes Profil, das allerdings auch Anlass zu einigen kritischen Bemerkungen gibt.
Material setzt sich S. beinahe ausschließlich mit Werken und Theorien der klassischen ästhetischen Moderne auseinander – von Kafka über Giacometti bis hin zu Benjamin und Adorno. Neuere Kommunikationsmedien wie CD und iPod stehen eher unter Banalisierungsverdacht. Dies alles gibt dem Buch eine gewisse »Schwere«, die dann doch wesentliche Aspekte des Ästhetischen ausblendet: Ironie und Witz, Spiel um des Spielens willen, Kabarett und Revue kommen – wenn überhaupt – nur am Rande vor. Gehörte aber nicht auch dies alles zur theologischen Spurensuche an den Lebensgeschichten? In dieser Hinsicht ist die Seelsorgetheorie, die S. vorlegt, ganz und gar nicht post-modern und will dies auch nicht sein.
Das imaginäre Museum, das dieses Buch eröffnet, hält sich sehr zurück, was Praxiskonkretionen angeht. Dies muss jedoch kein Manko sein. Praktische Theologie verschreibt keine einfachen Re­zepte. Das Buch fordert aber aktive Leserinnen und Leser, die im­mer wieder den Bezug zur eigenen Praxis selbst herstellen müssen.
An einer Stelle hat das Buch für mich einen überraschenden blinden Fleck. Angesichts der Tatsache, dass das Buch die Aspekte von »Differenz« und »Anderem« aus guten Gründen so stark macht, fällt auf, dass die große Theologie der Differenz und Andersheit zu Beginn des vergangenen Jh.s, nämlich die frühe Dialektische Theologie, wenn überhaupt nur als negative Folie ins Blickfeld gerät. In dieser Hinsicht sind auch in der Theorie der Seelsorge ganz offensichtlich alte Berührungsängste nicht überwunden. Das Buch teilt in seiner Sprache unverkennbar das Pathos der frühen Dialektischen Theologie, an ihren konkreten Inhalten scheint es weniger interessiert zu sein.