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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

489–491

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Steck, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Praktische Theologie. Horizonte der Religion – Konturen des neuzeitlichen Christentums – Strukturen der religiösen Lebenswelt. Bd. II.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 656 S. m. 1 Abb. 23,2 x 15,5 cm = Theologische Wissenschaft, 15/2. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-17-020059-3.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Elf Jahre nach dem ersten monumentalen Band seiner Praktischen Theologie im Umfang von 686 Seiten (vgl. dazu meine Besprechung in ThLZ 126 [2001], 680–682) hat Wolfgang Steck nun den zweiten und abschließenden Teil seines großen Werkes vorgelegt. Der Band enthält – nach der eigentümlichen Gliederung und Kapitelzählung S.s – zunächst die zweite Hälfte des zweiten Teils seiner Ausführungen über die »Konturen des neuzeitlichen Christentums« (15–501). Themen sind die Moderne in Religionspädagogik und Homiletik, die Rationalität der modernen Welt und der christlichen Liturgie und vor allem das »urbane Christentum« (in Kapitel »232«, 142–461). Den Abschluss des Bandes und des Gesamtwerkes bildet der dritte Teil über die »Strukturen der religiösen Lebenswelt« (501–592); hier geht es um Identität, Lebensgeschichte, Kirche, Amt, Gemeinde und Pastoraltheologie. Es folgen die Literaturangaben (593–631) sowie ein Stichwortregister (632–656).
Bildeten im 1. Band die Ausführungen zum »Privaten Chris­ten­tum« theoretisch wie vom Umfang her das Herzstück, so ist das Zentrum des 2. Bandes die äußerst umfangreiche Kasualtheorie (192–461), die sich in der Gliederung etwas versteckt unter der Überschrift »Urbanes Christentum« findet (genaue Überschrift: »232-3: Das Kasualienchristentum: die paradigmatische Grundgestalt ur­baner Religionskultur«, 192). Dieser Abschnitt, der etwa die Hälfte des gesamten Buches umfasst, ist seinerseits noch einmal in eine vierfache Hierarchie von Unterabschnitten gegliedert, so dass etwa die »Jubiläumskasualien« unter der Ordnungsnummer »232-3 – 3.1.2.3« verzeichnet sind. Die Absicht, Dietrich Rösslers These von der dreifachen Gestalt des neuzeitlichen Christentums durch die Betonung der Wichtigkeit des »urbanen Christentums« zu modi­-fizieren, erschließt sich dabei wohl nur dem eingehend mit der Diskussion Vertrauten. Zusätzlich wird die Rezeption der hier entfalteten Sichtweise durch die Tatsache erschwert, dass die Kasualien wiederum nicht schlicht nach Anlässen gegliedert vorgestellt werden, sondern nach den Reflexionsperspektiven, unter denen sie betrachtet werden sollen: »1. Die lebensweltliche Verankerung der Kasualienreligion« (196–304), »2. Das kulturelle Profil der Kasualienreligion« (304–414), »3. Die symbolischen Kommunikationsformen der Kasualienreligion« (414–461). Da in allen drei Teilen alle Kasualien immer wieder begegnen und da S. an der Darstellung der Transformationsprozesse der (christlichen) Religion durch die be­kannten Gegenwartsphänomene (Pluralisierung, Individualisierung, Urbanisierung, Mediatisierung) gelegen ist, kommt es zu zahlreichen Wiederholungen. So werden – entgegen der sich »phänomenologisch« verstehenden Methodologie – die Phänomene we­nigstens partiell von den sie rekonstruierenden Theoriemodellen überlagert.
Darüber hinaus gilt es sachlich zwei grundlegende kritische Fragen an S.s Sicht der Kasualien zu richten. Zum einen bleibt das Verhältnis zwischen »Kasualienreligion« und »Kasualienchristentum« aufgrund der gewählten beschreibenden Methode undeutlich. Sind beide Begriffe identisch, oder repräsentiert einer der beiden die normative Grundorientierung? Soll das »Kasualienchris­tentum« in Richtung auf eine offenere, urbane und plurale Ge­staltungsform von »Kasualienreligion« hin geöffnet werden, oder ist die umgekehrte Option (eine christliche Profilierung und Vertiefung der urbanen »Kasualienreligion«) leitend? Dem Duktus des Buches folgend und zwischen den Zeilen lesend vermute ich das Erste. Gesagt wird dies jedoch nicht. S. mag hier einwerfen, dass meine Alternative und Frage nicht im Horizont seiner topographischen Methode liege, weil sich die Vermessung gegenwärtiger Sinnbildungsprozesse solcher Wertungen gerade zu enthalten ha­be. Dies halte ich jedoch wegen meiner begrenzten Lese- und Lebenszeit und wegen der lebenspraktisch notwendigen Nötigung zu Entscheidungen für unbefriedigend. Das Verhältnis von »Kasualienreligion« und »Kasualienchristentum« muss nicht nur in der Praxis der Kirche, sondern auch in der Theorie der Praxis klar sein. Entsprechend definiert S. die Praktische Theologie selbst als »Theorie der christlichen Lebenspraxis« (501; dabei ist diese Definition allerdings noch nicht trennscharf gegenüber der Theologischen Ethik).
Zum Zweiten überzeugt mich die Charakterisierung der Kasualien als Gestalt des »urbanen Christentums« nicht. Wenn mit »urban« der in sich höchst ambivalente Modernisierungsprozess (mit seinen verschiedenen Formen von Wahlzwang und Sozialitätsveränderung) gemeint ist, dann trifft diese Begrifflichkeit zu. Denkt man allerdings bei dem Ausdruck »urban« speziell an die Verstädterung, dann ist diese bekanntlich kein Motor, sondern eine Bremse der Kasualpraxis – jedenfalls, was deren christliche und kirchliche Gestalt angeht. Damit zeigt sich erneut der kasualtheoretische Klärungsbedarf. Die Urbanisierung mag zwar das individuelle Inszenierungs- und Ritualbedürfnis befördern; doch die sinkende Nachfrage nach den Kasualien Konfirmation und Trauung in den letzten Jahrzehnten zeigt ein sich den Kasualien entfremdendes urbanes Christentum. Auffällig ist im Übrigen, dass in dem Buch die explizite Auseinandersetzung mit den Kasualtheorien der letzten Zeit (Christian Albrecht, Kristian Fechtner, Christian Grethlein, Ulrike Wagner-Rau) keine Rolle spielt.
Angefügt sei eine Bemerkung zum topographischen Grundansatz von S.s Praktischer Theologie. Ich selbst halte den kontrollierten Übergang von der Deskriptivität zur Normativität für den entscheidenden Schritt einer an der christlichen Praxis orientierten Theorie mit dem Namen »Praktische Theologie«. Dazu ist die grundlegende Reflexion darüber erforderlich, inwiefern eine religiöse Kulturhermeneutik der Gegenwart theologisch zu konturieren ist bzw. inwiefern sich ihre Arbeitsweise von anderen theologischen Disziplinen unterscheidet. Fundamentaltheologische Reflexionen, ja überhaupt Gespräche mit der exegetischen, historischen und systematischen Theologie finden sich aber im vorliegenden Band so gut wie überhaupt nicht. Für die praktisch- theologische Theoriebildung reichen die hier vorgelegten Beschreibungen im Geiste der verstehenden Soziologie qualitativ nicht aus, so sehr einen diese quantitativ an die Grenze der Lesefähigkeit bringen. Viele der in Wissenschaftssprache gefassten Beschreibungen von alltäglich Vertrautem (vgl. z.B. die Ausführungen über Heimtextilien und Zimmerpflanzen als Ausdruck der »privaten Alltagskultur« bzw. als »dominante Komponente der urbanen Kulturwelt«, 150) hätten sich zugunsten theoretisch kategorisierender Überlegungen deutlich straffen lassen. Die Offenlegung der eigenen Orientierungen erhöht jedenfalls das Vertrauen des Lesers in die Qualität der vorgetragenen Deskriptionen.
Einleuchtend und hilfreich ist der Text dieses umfangreichen Bandes immer dort, wo er historische, empirische, kirchen- und volkskundliche Informationen bietet und dabei nahe an den zu verstehenden Phänomenen bleibt. Das gilt z. B. für die Passagen über Kirchentag und Evangelische Akademien (77–89), über Konfirmandenunterrichtskonzeptionen (115–119), über die Geschichte der Ehe (209–213), die Hospizarbeit (376–384), über Trauerbräuche (384–395) sowie über die aktuelle Diskussion um kirchliche Scheidungsrituale (430–432).
Formal ist dasselbe zu sagen wie zum 1. Band: Das Buch ist or­thographisch sehr gut lektoriert; das Fehlen eines Namenregisters ist aufgrund der eigentümlichen Gliederungsform und Zitationsweise S.s erneut zu bedauern.