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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

484–486

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Thomas, Günter, u. Isolde Karle [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 618 S. m. Abb. u. 1 Tab. 23,2 x 15,5 cm. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-17-020721-9.

Rezensent:

Kerstin Lammer

Günter Thomas (Schreiner, Theologe und Soziologe, Professor für Systematische Theologie, Ethik und Fundamentaltheologie an der Evangelischen Fakultät der Ruhruniversität Bochum) und Isolde Karle (Professorin für Praktische Theologie an derselben Fakultät) haben einen über 600 Seiten starken Sammelband zum theologischen Verständnis von Krankheit, Heilung und Heil herausgegeben. Das Thema ist aufgrund seines zeitlos existentiellen Charakters und aufgrund der hohen Aufmerksamkeit, das es in der deutschen Gesellschaft seit Jahrzehnten genießt, von hoher Relevanz, wurde von deutschen evangelischen Theologen des 20. und 21. Jh.s aber kaum verhandelt. Die Zielrichtung des Bandes ist es, »einen Beitrag zur Überwindung theologischer Sprachlosigkeit im Hinblick auf die elementare Frage nach dem Verständnis von Religion und Krankheit, von Heil und Heilung zu leisten« (11).
Das Thema wird von 41 verschiedenen Autoren und Autorinnen in 39 Beiträgen bearbeitet, und zwar ganz überwiegend im binnentheologischen Sinne interdisziplinär, d. h. aus Sicht der fünf verschiedenen evangelisch-theologischen Disziplinen.
Ausgehend von der These, dass das theologische (gemeint ist offenbar schwerpunktmäßig das dogmatische) Verstehen die Grundlage für ethische und andere Handlungsorientierungen im Blick auf Krankheit und Heilung bilde, bietet der Band (nach drei Einführungen ins Themenfeld, in gesellschaftliche und in begriffliche Kontexte) 14 (!) systematisch-theologische Beiträge gegenüber nur vier kirchenhistorischen und je sechs alt- und neutestamentlichen sowie sechs praktisch-theologischen. Von den sechs dem praktisch-theologischen Teil zugeordneten Beiträgen machen sich leider nur drei das Thema Krankheitsdeutung im engeren Sinne zu eigen.
Bei der Mehrzahl der Beiträge handelt es sich um Ausarbeitungen von Vorträgen, die in den Jahren 2005 und 2006 auf drei Symposien im Rahmen eines vom Bundesland Nordrhein-Westfalen geförderten Forschungsprojektes »Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft« gehalten wurden. Dieser Genese ist es wohl zu verdanken, dass viele der Beiträge sprachlich gut lesbar und verständlich sind – wobei die Lesefreundlichkeit leider durch den sehr kleinen Schrifttyp wieder erheblich eingeschränkt wird.
Die Herausgeber schließen sich nicht der These von der »Wie­-der­kehr der Religion« (F. W. Graf) an, sondern greifen im Anschluss an Jürgen Habermas den Begriff der »postsäkularen« Gesellschaft auf, der »aus Sicht einer kulturanalytisch informierten und religionssoziologisch umsichtigen Theologie« einen »graduellen, aber dennoch elementaren Wandel in der kulturellen Wahrnehmung von Religion« bezeichne (15). Infolge der Attentate vom 11. September 2001 sei der Zusammenhang von Religion und Gewalt und damit die Ambivalenz von Religion ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Daher sei die Frage, wie viel Religion die Gesellschaft brauche, ab­zulösen durch die Frage: »Welche Inhalte der Religion sind lebensförderlich?« (16)
Die Frage nach lebensförderlichen Inhalten der Religion konkretisieren die Herausgeber im Blick auf Krankheitsdeutung u. a. wie folgt:
1. Wenn heute in der Medizin ein Wandel von einem ontologischen zu einem naturwissenschaftlich-analytischen Krankheitsbegriff stattgefunden hat und ein Denken in magischen Kausalitäten (z. B.: Krankheit als Strafe Gottes) gesellschaftlich obsolet geworden ist, wie kann Theologie dann von Krankheit sprechen und welche religiösen Formungen von Krankheitswerten, d.h. Bewertungen von Krankheitsbeschreibungen sind sinnvoll (11.17 f.)? 2. Wenn Leiden weder bagatellisiert noch spiritualisiert werden soll – wie kann der »Heilungsauftrag der Kirche« (nach Mk 6,7–13 und 16,8b–20, Anm. der Rezensentin) dann angemessen metaphorisiert werden, und wie sind in diesem Zusammenhang Heilungsgottesdienste, Krankensalbung, Gebet und Fürbitte etc. theologisch zu beurteilen? 3. Wenn Erlösung immer weniger als Erlösung aus Leiblichkeit, Zeit und Welt verstanden wird – wie kann heute der Zusam­menhang von Krankheit und Erlösung sinnvollerweise verstanden werden, und was folgt daraus für die Frage nach einem Zusammenhang von Krankheit und Sünde (13 f.)? 4. Wenn heute in einer alternden Gesellschaft die letzte Lebensphase von einer »Morbiditätskompression« geprägt ist (Andreas Kruse) – welches Verhältnis von Widerstand gegen und Ergebung in die Krankheit ist dann theologisch angemessen und religiös zu gestalten (15)?
Kaum sind solche und weitere Fragen benannt, beeilen sich die Herausgeber auch schon festzustellen, dass der Band mehr Fragehorizonte aufreißen als alle Herausforderungen produktiv aufgreifen könne (16). Das ist nachvollziehbar, jedoch wäre es sehr hilfreich gewesen, wenn sie den Band abschließend auf seinen Ertrag hin ausgewertet hätten: Inwieweit und wie beantworten die gesammelten Beiträge die eingangs aufgerissenen Fragen? – Eine solche Gesamtauswertung kann eine Rezension nicht er­satzweise leisten, dazu ist der ihr gesteckte Rahmen zu eng; aber es seien wenige Schlaglichter auf Antwortansätze einzelner Beiträge geworfen:
Zu Frage 1 konstatiert Martin Hailer (im Anschluss an Karl Barth) aus systema­tisch-theologischer Sicht: »Die theologische Wahrnehmung von Krankheit« hat weder die isolierte naturwissenschaftliche Beobachtung degenerativer Zellprozesse noch eine abstrakte Grundsatzdebatte über die Rechtfertigung Gottes angesichts des Leidens in der Welt (Theodizeefrage) zu sein, sondern »die Wahrnehmung des kranken Menschen in Selbst- und Fremdreferenz und in seinen Umwelten« (423). Der kranke Mensch trage, theologisch-anthropologisch gesprochen, das Signum der Endlichkeit (431), medizinisch gesprochen, das Signum der pathischen Existenz (vgl. V. v. Weizsäcker). Zu erwerben sei ein Habitus, in dem beide, der »kranke« und der »gesunde« Mensch »im Raum des Sterblichen« als Subjekt anerkannt werden (432 f.).
Auf die Fragen 1 und 2 bezieht sich der alttestamentliche Beitrag von Thomas Staubli über Amulette (dazu zählt er u. a. auch das Weltaidstagsymbol, die rote Schleife). Er antwortet auf die postsäkular aufgeklärten Fragen der Herausgeber ganz unmodern mit der überraschend und etwas skurril wirkenden These von der bleibenden Bedeutung der Magie in einer sich als rational verstehenden Gesellschaft: Irrationale, magische Praktiken wie der Amulett-Gebrauch hätten wichtige unausgeschöpfte theologische und heilende (Pla­-cebo-)Potentiale (94). Das Amulett habe eine präventive Beudeutung und rege die Selbstheilungskräfte an. Es ziele auf die »gesellschaftliche Di­mension der Krankheit« und auf den »Ausschluss lebensfeindlicher Mächte«. Im Sinne einer »Gesundheitsökonomie« er­weise sich »das Amulett als Therapeuticum den meisten Therapeutica der modernen Medizin noch heute als überlegen« (114).
Die Fragen 2 und 4 beantwortet Isolde Karle aus praktisch-theologischer Sicht mit einem zweifachen Sowohl … als auch. Obwohl das Reich Gottes (wie Jesu Heilungswunder zeigen) sich nicht nur als geistliches Gut, sondern auch als leiblich-konkrete Erfahrung realisiere (549), seien Heil und Gesundheit voneinander zu unterscheiden – schon, »um der Medizin ihre Grenzen aufzuzeigen« (550). »Heil sein bedeutet, lieben und sich lieben lassen zu können«, »unabhängig von Verfehlungen und Beschädigungen« (552). Jesus habe gelitten, »damit wir die Sinnlosigkeit des Leidens aushalten können« (ebd.). Daher seien Geistheilungen und Heilungsgottesdienste eher kritisch, Salbungs- und Segnungshandlungen jedoch positiv zu bewerten. Im seelsorglichen und liturgischen Handeln komme es darauf an, sowohl die Überwindung von Leid, Krankheit und Schmerz (Widerstand) als auch die Erfahrung von Ohnmacht und Ausgeliefertsein an unabweisbar auszuhaltendes Leiden (Ergebung) zu thematisieren (553 f.). Gegenüber einer verbreiteten »Gesundheitsideologie« und einer »hochgetriebenen Individualisierung« in der gegenwärtigen Ge­sellschaft habe die Kirche einen heilsamen Realismus zu vertreten, der »die Erde auf Erden« (vgl. Odo Marquard), d. h. die conditio der eigenen Endlichkeit akzeptiere (554 ff.).
Zu Frage 3. bietet der Beitrag von Ruben Zimmermann folgenden neutestamentlichen Befund: Viele neutestamentliche Texte setzen eine »kausal-konsequentialistische oder sogar identifikatorische Zuordnung« von Krankheit und Sünde voraus – es handelt sich aber offenbar um eine Denkfigur aus der Umwelt Jesu. Jesus selbst aber durchbricht (so wird exemplarisch durch die Exegese von Mk 2,1–12 und Joh 9,1–3 gezeigt) den Deutungszusammenhang von Krankheit als der Sünde Sold durch persönliche Hinwendung zu Kranken. Aus systematisch-theologischer Sicht stellt Gregor Etzelmüller fest: Die Deutung von Krankheit als Folge von Schuld sei ebenso objektiv falsch wie subjektiv mächtig (453). Eine dämonologische Krankheitsdeutung stigmatisiere die Kranken. Krankheit sei daher nicht dämonologisch, sondern stattdessen im Kontext der Schöpfungslehre zu deuten als realer, aber sinnloser naturaler Prozess, gegen den Theologie und Medizin gemeinsam zu kämpfen haben. Das Proprium der Theologie gegenüber der Medizin sei es, darauf hinzuweisen, dass nicht Gesundheit, sondern Humanität das höchste Gut sei. Der Kampf gegen die Krankheit müsse der Humanität verpflichtet bleiben, indem er nicht gegen, sondern mit den Kranken und konsistent mit deren individuellen Biographien geführt werde (464).
Der kapitale Band stößt in eine kapitale Lücke neuerer Evangelischer Theologie – er ist ein überfälliger Beitrag zur Selbstakzentuierung der Evangelischen Theologie in einer brennenden Gegenwartsfrage. Die zahlreichen versammelten Beiträge sind naturgemäß von unterschiedlicher, oft aber hoher Relevanz und Qualität, doch anwendungsbezogene Beiträge aus der Praktischen Theologie sind m. E. unterrepräsentiert. Eine abschließende Ergebnissichtung die­ses über 600 Seiten starken Bandes vermisst die Leserin schmerzlich – hätte man nicht mindestens Abstracts der Autoren zu ihren Einzelbeiträgen einholen können?
Theologische Sprachlosigkeit angesichts der Frage nach Krankheitsdeutung zu überwinden, so lautete das eingangs formulierte Ziel der Herausgeber. Das gelingt! Nur – wohin zielt die gewon­-nene Sprachfähigkeit? Das Buch ist interessierten Theologen und Theologinnen eine Fundgrube, ein Steinbruch. Ein evangelisch-theologisches Kommuniqué an Partnerwissenschaften und Gesellschaft ist es nicht.