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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

483–484

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schardien, Stefanie [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mit dem Leben am Ende. Stellungnahmen aus der kirchlichen Diskussion in Europa zur Sterbehilfe.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2010. 338 S. 23,0 x 16,2 cm = Edition Ethik, 3. Geb. EUR 41,90. ISBN 978-3-7675-7123-5.

Rezensent:

Christian Polke

»Manchmal wird man sofort fündig, häufig sucht man länger.« (15) Mit dieser treffenden Bemerkung eröffnet Stefanie Schardien den von ihr herausgegebenen Sammelband zu kirchlichen Stellungnahmen zur Sterbehilfe in Europa. Um dem Problem des längeren Su­chens Abhilfe zu schaffen, und zwar sowohl für Lehrende an akademischen, kirchlichen und schulischen Bildungseinrichtungen als auch für Kundige und Interessierte, ist dieses Buch entstanden.
Dabei ist jeder Abschnitt gleich strukturiert. Den zentralen Dokumenten wird eine sehr knappe Einführung zu Art und Entstehungskontext des kirchlichen Dokumentes gegeben. Der fällt naturgemäß bei Instruktionen einer vatikanischen Kongregation (vgl. 34 ff.) anders aus als in einem Papier des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich (vgl. 307 ff.) Überhaupt hat der Band einen ökumenischen Schwerpunkt. Denn neben den üblichen Ak­teuren auf dem religiösen Feld (katholische Kirche, Anglikaner, klassischer Reformationsprotestantismus und Orthodoxie) findet man auch die Altlutheraner und Siebenten-Tags-Adventisten vertreten. Außerdem sind neben konfessionellen Stellungnahmen mehrere ökumenische Konsensdokumente abgedruckt. Sowohl was die geographische (Frankreich, Niederlande, Schweiz, Nordeuropa, Russland, Griechenland etc.) als auch die kirchliche Vielfalt anbelangt, ist der Band vorbildhaft. Ein Problem bei der Rezeption könnte sich freilich daraus ergeben, dass der Leser, die Leserin sich mitunter andernorts über die jeweilige juristische und politische Lage in den einzelnen Ländern informieren muss. Am Ende des Bandes finden sich ein umfangreiches Literaturverzeichnis, ein Bibel- sowie ein Sachregister.
Statt auf einzelne Kontexte einzugehen, was notwendigerweise stark selektiv ausfiele und somit selbst rechtfertigungsbedürftig wäre, möchte ich kurz auf die Einleitung der Herausgeberin (vgl. 17–33) eingehen. Zu Recht betont Sch. die Notwendigkeit klarer Meinungsbildung und öffentlicher Positionierung der einzelnen Ak­teure bei einem so umstrittenen Thema in pluralistischen Ge­sellschaften (vgl. 17). Schon eine sachgemäße Arbeitsdefinition von Sterbehilfe oder, wie andere bereits die Bedeutung variierend sagen würden: von Euthanasie gestaltet sich schwierig. Sch. selbst erarbeitet sich die Ihrige anhand der für sie zentralen Dimensionen von Intention, Patientenwille und Art der Einwirkung auf den Patienten. Von daher erklärt sich die Definition von Sterbehilfe als »Töten oder Sterbenlassen in Form der Anwendung, Nicht-Einleitung oder Beendigung einer medizinischen Behandlung. Sie richtet sich auf den schwer-leidenden Menschen und wird vollzogen durch eine andere Person, die dessen Wohl bezweckt« (22; im Original kursiv). Eine solche Formulierung verweist von selbst zurück auf die ethisch-rechtliche Grundproblematik am Lebensende. Denn was Sch. zunächst als Vorteil sieht, der nicht-normativ festgelegter Charakter, wird von anderen Stimmen bereits als Variante liberaler, protestantisch einseitig am Subjekt orientierter Positionen gewertet. Von dort zur Würde des Leidens oder zum absoluten Lebensschutz zu gelangen, Optionen, die auch Sch. vor allem in der Orthodoxie und im römischen Katholizismus verortet (vgl. 26), ist es jedenfalls ein langer Weg. So changiert auch die Einleitung zwischen Vermeidung vorschneller Be- und Verurteilungen und grundsätzlich protestantischer Selbstpositionierung. Das gilt es nicht zu kritisieren, sondern schlicht festzuhalten. Es könnte sich jedenfalls als Vorteil eines pluralismusoffenen Protestantismus er weisen, gegenüber jeder vorschnellen Eindeutigkeitsvermutung (innerhalb wie unter den verschiedenen Konfessionen) durch Berufung auf ein gemeinsames ökumenisch verbindendes christliches Menschenbild skeptisch zu bleiben. Damit wird nicht die Bedeutung anthropologischer Einsichten (etwa in die Fragilität und bleibende Schwäche der menschlichen Natur) abgelehnt, wohl aber daran festgehalten, dass es zum Wesen des Ethischen ebenso sehr gehört, sich auf die Suche nach humanen, d. h. menschenfreundlichen Konsensen und notfalls Kompromissen zu machen.