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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

481–483

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Nethöfel, Wolfgang, Dabrock, Peter, u. Siegfried Keil [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Verantwortungsethik als Theologie des Wirklichen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 300 S. 20,5 x 12,3 cm. Kart. EUR 49,95. ISBN 978-3-525-56810-1.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Der Buchtitel enthält zwei Schlüssel- und Großbegriffe der Ethik, nämlich »Verantwortung« sowie »Wirklichkeit«. Im Buch selbst finden sich dann 14 Einzelbeiträge, die recht heterogen ausfallen und zum Teil nur in weitem Sinn und assoziativ mit den beiden Begriffen zu tun haben. Der Band erschien aus Anlass des 75-jährigen Bestehens des Marburger Fachgebiets Sozialethik und geht auf ein Symposion zurück. Der erste Lehrstuhlinhaber Georg Wünsch hatte seine Sozialethik als eine »Theologie des Wirklichen« umschrieben (vgl. 7; ausführlicher: Keil, 239 ff.). Neben der Einleitung blicken die Artikel im Schlussteil des Sammelbandes auf die Geschichte der Sozialethik in Marburg zurück. Mit dieser speziellen Schwerpunktsetzung hat Marburg innerhalb der evangelischen Ethik in der Tat eine Vorreiterrolle übernommen.
Zwei Aufsätze stammen von Wolfgang Huber. Sie erörtern den Freiheits- und den Verantwortungsgedanken (18 ff.74 ff,). Wolfgang Nethöfel befasst sich mit der Ethik von Unternehmen (101 ff.) und warnt den Protestantismus vor einer Selbstsäkularisierung (65). Ganz anders gelagert: Ethische und sozialpolitische Denkanstöße vermittelt Franz Segbers zum Thema des Grundeinkommens (181 ff.). Sodann beschäftigt sich Michael Haspel mit dem Grundlagenthema »Glaube und Handeln«, deutet unter Rückgriff auf Luther beide Größen konditional (statt konsekutiv) und beleuchtet das Verhältnis von Dogmatik und Ethik (165.174 ff.). Hiermit berührt er ein Kernproblem evangelischer Ethik, zu dem anhaltend Unsicherheit und Klärungsbedarf besteht. Für Haspel bildet der Sündenbegriff die Klammer zwischen Dogmatik und Ethik. Er möchte aus ihm die sozialethische Kernaussage des Protestantismus gewinnen, um auf seiner Basis auf »die dunkle Seite moderner Gesellschaft« hinweisen und hiervon ausgehend Einzelprobleme der Bio-, Wirtschafts-, Gender- oder Friedensethik erörtern zu können (179 f.). Um die Tragkraft seines Ansatzes zu erweisen, müsste er näher entfaltet werden.
Dem Begriff des »Wirklichen«, der sich im Buchtitel findet, widmet sich besonders ausführlich Peter Dabrock. Dies erfolgt indessen nicht unter Rück­griff auf den Marburger Sozialethiker Georg Wünsch, sondern auf Dietrich Bonhoeffer. Nun wird die Kategorie der Wirklichkeit im Werk Bonhoeffers in vielschichtiger Weise, im Einzelnen auch inkohärent verwendet. Dabrock versucht, Einzelaspekte auszudifferenzieren. Bei Bonhoeffer sei sowohl eine essentialistische als auch eine kommunikative, relationale oder responsive Ontologie anzutreffen (136.139). Seine Ethik besitze dekonstruktive Bedeutung (157 u. ö.). Auf dieser Basis lasse sich nicht nur innertheologisch eine stringente ethische Position entwickeln; vielmehr sei der Denkansatz auch außertheologisch in besonders hohem Maße plausibel und rezipierbar (139.145). Jedoch erläutert und exemplifiziert Dabrock nicht, in welcher Hinsicht die christologische Ontologie Bonhoeffers für die nichttheologische Ethik seines Erachtens fruchtbar zu machen sei.
Da das Buch sich im Schwerpunkt auf die Marburger Sozialethik bezieht, enthält es Rückblicke auf ihre 75-jährige Geschichte (218–299). Dabei kann und darf die Verstrickung in die NS-Ideologie nicht verschwiegen werden. Die Bewältigung der Vergangenheit erfolgt im vorliegenden Band zum Teil aber in einer Form, die zu Rückfragen führt. Georg Wünsch, der erste Lehrstuhlinhaber, habe durchaus Abstand vom Nationalsozialismus gehalten (Schindel, 277). Daneben stehen seine Äußerungen, die den nationalsozialistischen Staat mit Hilfe lutherischer Ordnungstheologie verklärten. Einige Problemzitate Wünschs werden wörtlich wiedergegeben (bei Schindel, 279 f.). Nach 1945 habe die Spruchkammer jedoch geurteilt: »Vom Gesetz nicht betroffen« (zit. bei Keil, 244; vgl. Kaiser, 237). Trotzdem wurde ihm für fünf Jahre die Professur entzogen. Dies sei vor allem deshalb der Fall gewesen, weil sich Rudolf Bultmann gegenüber der Spruchkammer – auf deren Anfrage hin – kritisch zu Wünsch geäußert habe. Bultmanns Votum wird im vorliegenden Band ein »falscher und schlimmer Versuch« genannt, »einen missliebigen Kollegen, der einen abweichenden theologischen Ansatz vertritt, zu diskreditieren« (Schindel, 282). Unbefriedigend ist, dass nicht gründlich abgewogen wird, wie gewichtig und wie triftig der schwere Vorwurf ist, der hiermit gegen Bultmann erhoben wird. Immerhin hatten Dritte Bultmann ausdrücklich zugestimmt (vgl. E. Wolf, in: Verkündigung und Forschung 1949/50, 154 unten). Kurze persönliche Erinnerungen an die Vorgänge vor der Spruchkammer, die sich an anderer Stelle des Buches finden ( Eberhard Amelung, 247 f.), bringen keine sachliche Aufklärung.
Noch irritierender ist es, wie die NS-Vergangenheit des 1980 emeritierten Marburger Sozialethikers Dietrich von Oppen dargestellt wird (von Martin Schindel, 256–270). In einer Fußnote wird gesagt, von Oppen sei SS- und NSDAP-Mitglied gewesen (260, Anm. 17). Seine Dissertation über die »Umvolkung in Westpreußen« habe antipolnische und antisemitische NS-Ideologie enthalten (257 f.). Dies wird dann freilich unter anderem dahingehend kommentiert, es habe sich doch gar nicht um eine theologische, sondern nur um eine soziologische Dissertation gehandelt (263.266 f.). Der Hochschullehrer K. Ahlheim, der auf die Sachverhalte erstmals 1995 in einem Zeitungsartikel hingewiesen habe, habe hierfür persönliche Motive gehabt (264 f.268 f.) und »billige Polemik« geübt (263). Dies hinterlasse ein »Geschmäckle« (269).
Aus Sicht des Rezensenten ist es inadäquat, wenn eine Edition, die aus Anlass eines 75-jährigen Jubiläums publiziert wird, die belastende NS-Vergangenheit insgesamt unpräzis und in einer derart gewundenen Form wiedergibt. Hierdurch bringt das Buch in Erinnerung, dass – zweifellos über Marburg hinaus – zur evangelischen Theologie in der NS-Zeit nach wie vor Forschungs- und Aufklärungsbedarf besteht.