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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

477–479

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Dabrock, Peter, Denkhaus, Ruth, u. Stephan Schaede[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gattung Mensch. Interdisziplinäre Perspektiven.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XIX, 411 S. m. Abb. 23,0 x 15,4 cm = Religion und Aufklärung, 19. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-150390-0.

Rezensent:

Konrad Hilpert

Bioethik ist in ihrer philosophischen wie in ihrer theologischen Spielart ein sich ausgesprochen rasch entwickelnder und unter großem Entscheidungsdruck voranschreitender Bereich der angewandten Ethik. Dass es notwendig ist, in dieser Entwicklung sich der hierfür grundlegenden Kategorien reflexiv zu vergewissern, zeigen die Beiträge des von der Arbeitsgruppe um den Erlanger Systematiker Peter Dabrock organisierten Bandes. Die Beiträge zeigen, dass sich diese Bemühung, in deren Mitte hier der Begriff der menschlichen Gattung und seine Rolle in der Bioethik und im Recht steht, auch lohnt. Als notwendig erweist sie sich, weil mit der Bemühung um sozialverträgliche Regelungen der Anwendung der jeweils neuesten Methoden und Technologien die stets neu sich stellende Frage verknüpft ist, was der Mensch ist angesichts der wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte auf der einen Seite und angesichts des Wissens um die Ambivalenzen, das in der kulturellen Tradition aufbewahrt ist, auf der anderen. »Der bio­-ethische Diskurs hat sich [so] zu einem der Hauptschauplätze für die Austragung von weltanschaulichen Auseinandersetzungen entwickelt, in denen bevorzugt das Humanum selbst zur Disposition steht.« (X) Als lohnend erweist sich die Reflexion, weil sie sich hier nicht in die Rinnen der fest gespurten Diskurse über »Natur« und »Menschenwürde« begibt, sondern den sehr viel nüchterneren Begriff der menschlichen Gattung zum Fokus und Kristallisationspunkt der anthropologischen Reflexionen im Kontext der Lebenswissenschaften wählt.
Die ethisch folgenreiche Frage, welchen Wert man den naturhaften Aspekten des menschlichen Seins beimisst, spielt vor allem im Kontext dreier Debatten eine wichtige Rolle, die in diesem Band zunächst jeweils für sich behandelt, dann aber begrifflich und ethisch zusammengeführt werden, nämlich 1. in der Debatte um die Sonderstellung des Menschen im Vergleich zu den Tieren, 2. in der Debatte über Eingriffe in den Prozess der Fortpflanzung und die genetische Verbesserung des Menschen, und 3. in der (eben erst begonnenen) Debatte über die Erzeugung von Inter-Spezies-Hy­briden und Chimären.
Die Debatte über Speziesismus wurde von Peter Singer ausgelöst, der für die Rechte von Tieren eintritt und als Grund ihrer Nichtberücksichtigung in den herkömmlichen Ethiken die religiöse Auffassung von der Heiligkeit menschlichen Lebens ausmachen will, welche die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch zum ausschließenden Kriterium moralischer Berücksichtigungsfähigkeit habe werden lassen. Das ethische Plädoyer für die Notwendigkeit einer Ethik der Erhaltung der Menschheit als Gattung hat seinen Ausgangspunkt bei den Überlegungen von Hans Jonas und später von Jürgen Habermas zu den Möglichkeiten der biotechnischen Transformation des Menschen mittels technischer Eingriffe in die bisher als naturwüchsig geltende organische Verfasstheit. Die Debatte über die Erzeugung von Mischwesen (korrekterweise geht es um sog. Zybride) schließlich ist verglichen damit (noch) eine unter Spezialisten; sie reagiert einerseits auf nur in wenigen Ländern zugelassene Forschungen mit Ei- und Samenzellen unterschiedlicher Arten und möchte andererseits die Option, in der Zukunft transgene Tiere oder sogar ein Mensch-Tier-Wesen entstehen zu lassen, bereits heute als unzulässige Grenzüberschreitung problematisieren, wofür aber die wissenschaftstheoretische Klärung des Gattungsbegriffs eine unverzichtbare Voraussetzung ist.
Diese drei Debatten bilden die durchgängigen Referenzpunkte der hier versammelten Beiträge, wenngleich sie nicht die Grundlage und architektonische Struktur für den inhaltlichen Zuschnitt und die Zuordnung der einzelnen Beiträge bilden.
Der erste Teil des Bandes enthält acht Beiträge, die den Begriff der menschlichen Gattung jeweils aus der Sicht der Biologie (Klemens Störtkuhl), der Logik (Thomas Potthast), der Theologiegeschichte (Stephan Schaede), der philoso-phischen Anthropologie (Gerald Hartung sowie – mit Bezug auf andere para­-digmatische Ansätze – Martin G. Weiß), der Literaturwissenschaft (Manfred Weinberg), der Kulturwissenschaft (Jörn Ahrens) und der Soziologie (Gesa Lindemann) erarbeiten.
Im zweiten Teil gibt es ebenfalls acht Beiträge. Sie befassen sich mit einzelnen Aspekten der ethischen Relevanz von Gattungszugehörigkeit und Gattungsintegrität: Ruth Denkhaus beschreibt Entstehung und Kontexte der Speziesismus-Debatte. Wilfried Härle setzt sich kritisch mit dem zentralen Vorwurf der anthropologischen Selbstprivilegierung auseinander. Peter Dab­rock be­müht sich im Anschluss an Härle um eine relationale Begründung der Menschenwürde (im Sinne von Habermas’ Forderung einer »Übersetzung«) und deren Reformulierung in eine auch außertheologisch verstehbare Sprache mithilfe des Brückenbegriffs der »leiblichen Vernunft«. Elisabeth List skizziert in Auseinandersetzung mit den Konzepten einerseits von Singer und andererseits von Habermas eine Ethik des Lebendigen. Ludwig Siep führt die Überlegungen zur Bedeutung der menschlichen Gattungszugehörigkeit seiner eigenen »konkreten Ethik« weiter im Blick auf die Konfliktfelder Enhancement, Umgang mit menschlichen Embryonen und Erzeugung von Chimären. Marianne Schark unterzieht die in der Statusdiskussion einschlägigen SKIP-Argumente und ihr Zusammenspiel für die Definition des Schutzbereichs der Menschenwürde einer Überprüfung. Sozusagen von der anderen Seite her bedenkt Markus Rothhaar, was die Techniken zur Erzeugung neuer embryonaler En­titäten für das Spezies- und für das Potenzialitätsargument bedeuten. Eingehend erörtert werden schließlich die mit der Erzeugung von Mischwesen aus Mensch und Tier verbundenen ethischen Fragen von Nikolaus Knoepffler.
Die Beiträge des dritten Teils – es sind im Gegensatz zu den beiden anderen Teilen lediglich zwei – diskutieren die möglichen Konsequenzen der Gattungsdiskussion für das Recht. Beiden Autoren geht es dabei um die Interpretation von Art. 1 Abs. 1 GG, doch sind die Zugänge denkbar verschieden: Jan C. Joerden interpretiert den Schutz der Menschenwürde als Schutz der Autonomie und referenziert stark auf Kant. Steffen Augsberg gelangt über die Darlegung der Schwierigkeiten einer Normkonkretisierung mittels fachfremder Erkenntnisse zum Postulat, im gemeinschaftlichen interdisziplinären Dis­kurs mögliche Gemeinsamkeiten zu entdecken sowie Unterschiede zu thematisieren, um auf diese Weise die für das Recht entscheidenden Vorstellungen herauszufinden.
Entstanden sind sämtliche Beiträge aus der Vor- und Nachbereitung eines Symposions, das im Dezember 2008 an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg stattgefunden hat. Streckenweise sind die Auseinandersetzung und die Bezugnahme der Beiträger aufeinander spürbar. Trotzdem wäre es eine völlig unrealistische Erwartung, nach einem gemeinsamen Ergebnis, in dem alle Beiträge zusammenlaufen, zu fragen. Wohl aber weist der Band ein substanzielles Ergebnis in dem Sinne auf, dass die Gattungsargumente durch ihre vergleichende Präsentation in ihren verschiedenen Spielarten deutlicher als sonst irgendwo herausgearbeitet sind und dass ihre argumentative Leistungsfähigkeit in ethischen Diskursen und für die Generierung von Rechtsnormen offengelegt, überprüft bzw. präzisiert wird. Solche Schärfung des Blicks und der begrifflichen Werkzeuge ist ein beachtenswerter Beitrag zur programmatischen Arbeit am Projekt »Religion und Aufklärung« und darüber hinaus zur Kultur der transdisziplinären wissenschaftlichen Diskussion.