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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

472–474

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Müller, Mathias

Titel/Untertitel:

Theologie im Transzensus. Die Wissenschaftslehre als Grundlagentheorie einer transzendentalen Fundamentaltheologie in Johann Gottliebs »Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre« von 1805.

Verlag:

Amsterdam/New York: Rodopi 2010. XI, 457 S. m. Abb. u. Tab. 22,9 x 15,2 cm = Fichte-Studien-Supplementa, 25. Kart. EUR 94,00. ISBN 978-90-420-3125-8.

Rezensent:

Andreas Arndt

Die erstmals 1986 publizierten Aufzeichnungen Fichtes zu seinen am 6. Februar 1805 begonnenen Vorträgen zu den »Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre« (im Rahmen der Fichte-Gesamtausgabe 1989 erschienen in GA II/7, 378–489) sind bisher von der Forschung kaum wahrgenommen worden. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Fichtes Manuskript, das ja zunächst der Selbstverständigung diente, den Argumentationsgang im Einzelnen oft nur schwer erkennen lässt und überdies fragmentarisch ist, so dass es sich dem Verständnis vielfach versperrt. Dies dürfte auch der Grund gewesen sein, weshalb Immanuel Hermann es nicht in seine Sammlung der Werke des Vaters aufnahm. Mathias Müller unternimmt nun eine ausführliche »Konstruktionsanalyse« der »Principien«, die etwa ein Drittel seines Buches umfasst, das schon deshalb die Aufmerksamkeit nicht nur der systematisch-theolo­gischen Forschung, sondern besonders auch der Fichte-Forschung sowie der Forschung zur Klassischen Deutschen Philosophie beanspruchen darf (154–291). Dabei liegt das Schwergewicht jedoch naturgemäß auf der Gotteslehre, wogegen die Sitten- und Rechtslehre nur am Rande Erwähnung finden. Die aufwändige Analyse des Fichteschen Manuskripts bildet den Hauptbestandteil des zweiten Kapitels und wird dann im dritten Kapitel für die Prinzipien einer transzendentalen Fundamentaltheologie in Anspruch genommen (293 ff.).
Hierbei geht es nicht nur um eine sich an das Fichtesche Verfahren anlehnende Konstruktion, sondern um erheblich mehr: Es könne, so heißt es schon in der Einleitung, »gezeigt werden, wie innerhalb des Transzendentalen die Existenz … des ›Ganz Anderen‹ oder eben ›Gottes‹ einholbar ist«, wobei M. betont, solche transzendentale Fundamentaltheologie sei nicht Theologie einer bestimmten Religion (10). In der weiteren Durchführung wird dann jedoch recht bald deutlich, dass die Theologie überhaupt mit der christlichen Trinitätslehre und speziell der katholischen umstandslos gleichgesetzt wird (vgl. besonders 18.294 und sogar Überlegungen zur Eucharistie: 306). Umso wichtiger sind die Erörterungen des ersten Kapitels zum »Desiderat der Rechtfertigung einer transzendentalen Grundlagentheorie für die Fundamentaltheologie im Kontext von Wissenschaftstheorien der Theologie« (15–99).
Vorgeführt werden drei »wissenschaftstheoretische Modelltypen« (19): das »theologale« Modell, bei dem Glauben und Wissen getrennt bleiben. M. hält dieses Modell, das besonders für Fundamentalisten affin sei, für »überholt« (36). Das zweite Modell sei das »theologische«, in dem die Theologie als Wissenschaft gefasst werde; hierbei handle es sich um das herrschende Modell, in dem das Transzendentale abgelehnt werde (50). Das dritte Modell schließlich sei das »integrative«, in dem auf Begründungskonzeptionen ganz verzichtet werde (51). Hiermit ist die später (92 ff.) erörterte Alternative »Letztbegründung versus postmoderne Theoriebildung« vorbereitet.
M.s Po­sition ist da­durch bestimmt, dass er in allen konkurrierenden Auffassungen »verborgene« transzendentale Implikate erkennt (52 f.), die explizit zu machen seien. Hierbei unterstreicht M. vor allem die Rolle des Subjekts in Bezug auf Glaube und Offenbarung (53 ff.; weitere Implikate sind Wissen, Rationalität und Geschichte), um schließlich die »Transzendentalität im Subjekt als Grund für [den] erstphilosophischen Gottes(v)erweis« in Auseinandersetzung mit den Positionen Hansjörg Verweyens, Klaus Müllers und Thomas Pröppers zu profilieren (67 ff.). Die »Transzendentalität des Ich« scheine hier als ein möglicher »archimedischer Punkt« der Fundamentaltheologie auf (91).
Damit ist der Anschluss an die Wissenschaftslehre Fichtes gleichsam vorgezeichnet, der im ersten Teil des zweiten Kapitels durch Darstellung des Transzensus ausdrücklich gemacht wird. Hierbei geht es M. um ein Modell, das dogmatische Festlegungen vermeiden, aber doch einen Überstieg über die Unmittelbarkeit des Lebensvollzugs »performativ-transzendental« (112) einsichtig ma­chen soll (vgl. 112 ff. die Ausführungen zu »Leben und Er-leben«). Im Blick auf die Fassungen der Wissenschaftslehre von 1794/95, 1801/02 und 1804 2 wird dieses Modell dann in Darstellungen des Transzensus als Ellipse entwickelt. Nun ist solches Denken in geometrischen Figuren um 1800 durchaus weit verbreitet; ob die das ganze Buch durchziehenden, immer weiter verfeinerten und mit Bedeutungen angereicherten Darstellungen von Ellipsen (die auch den Umschlag zieren) wirklich die begriffliche Einsicht befördern und dem Leser zur Klarheit verhelfen können, auch wenn sie zur Selbstverständigung M.s gute Dienste geleistet haben mögen, möchte ich aber bezweifeln.
Das so erarbeitete Modell dient dann als Folie der »Konstruktionsanalyse« der »Principien«, die weit über die bisherigen Deutungsversuche von Reinhard Lauth, Michael Brüggen und Marco Ivaldo hinausgeht, welche in ausführlichen »Vorbemerkungen« kritisch diskutiert werden (165–189). Diese Analyse ist vielfach erhellend und erschließt wesentliche Aspekte des Fichteschen Ma­nuskripts; die Stringenz und Systematizität, welche den »Principien« dabei unterlegt wird, ruft jedoch angesichts des fragmenta­rischen und hermetischen Charakters der Fichteschen Notizen eine gewisse Skepsis hervor, ob sie wirklich all das hergeben, was M. in sie hineinlegt, obwohl er auch Fichtes Revision der »Principien« berücksichtigt (286 ff.). Strittig ist ja schon, ob die »Principien« gegenüber der Wissenschaftslehre als eigenständig gelten können oder diese vielmehr voraussetzen.
Hieraus werden dann im dritten Kapitel »vier plus eins Prinzipien« einer Fundamentaltheologie gewonnen: I. das transzendentale Ich als relatives Bild des Absoluten (»Intrinsecus« als dreifaches Ich, d. h. Bild der Trinität; 308–336); II. Wahrnehmen des Urbildes im Gefühl des Bild-Seins (»Immanenz«; 336–356); III. Bild-Sein-Sollen als Begegnung mit einem Unverfügbaren, das auf unbedingte Transzendenz verweist (»Transzendenz«: der heilige Geist als Wirkung Gottes im Menschen zum ethischen Handeln; 356–377); IV. das absolute Bild als Ziel des transzendentalen Ich (»Inkarnation«, Christologie; 377–389). Hieran schließt sich noch eine Überlegung zur »absolute[n] Identifizierbarkeit des Prinzips Inkarnation« an, die schließlich in eine Einholung des Kirchlichen und des Glaubensstandpunktes übergeht.
Die gewiss scharfsinnige Arbeit wird freilich auch nur diejenigen überzeugen können, welche die Glaubensüberzeugungen M.s teilen und zudem von der Wahrheit der Fichteschen Wissenschaftslehre und der auf sie bezogenen Gotteslehre in der hier re­konstruierten Fassung ausgehen. Die Auseinandersetzung mit markanten Positionen der Epoche fehlt ganz. Ich denke hier vor allem an Schleiermacher, der den Wissenschaftscharakter der Theo­logie allein an der Form festmacht, sowie an Hegel, der die Vernunft in der Religion entdeckt, um sie in einen philosophischen Gottesbegriff aufzuheben. Beide Positionen, so kontrovers sie auch diskutiert werden können, ermöglichen zudem den vernünftigen Bezug auf eine Pluralität von Religionen, während das vorliegende Buch, trotz gegenteiliger Beteuerungen zu Beginn, nur eine bestimmte Konfession im Blick hat, die mit dem Vernunftstandpunkt grosso modo gleichgesetzt wird. Dass alles dies aus einer Selbsterfassung der Vernunft zwingend gemacht werden kann, ist mehr als zweifelhaft.