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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

467–470

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Fröhlich, Grit

Titel/Untertitel:

Umberto Eco. Philosophie – Ästhetik – Semiotik.

Verlag:

München: Fink 2009. 330 S. 23,4 x 15,4 cm. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-7705-4880-4.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Wer sich an Umberto Ecos Plädoyer für eine ungestörte, produk­tive Rezeption von Texten erinnert – »Ein Autor müsste das Zeitliche segnen, nachdem er geschrieben hat. Damit er die Eigenbewegung des Textes nicht stört« (Nachschrift zum Namen der Rose, München, 1986, 14) –, könnte angesichts dieser Studie stutzig werden. Schließlich liegt der Gewinn eines Buches, das die Entwick­lung des Denkens eines Philosophen, Literaturtheoretikers und Semiotikers nachzeichnet, der zu den anregendsten der Gegenwart gehört, nicht zu­letzt darin, dessen Schriften noch besser verstehen und würdigen zu können. In einem ausgesprochen erhellenden, auf Deutsch und Italienisch abgedruckten Interview, das Grit Fröhlich mit Umberto Eco in Bologna geführt hat, trägt der Gelehrte am Ende des Buches das Seine zum Verständnis der entsprechenden Zusam­menhänge bei.
Spätestens nach der Lektüre dieses Interviews aber ist auch klar, dass dieses Buch alles andere ist als eine brave Schülerarbeit, die das Denken des Meisters gegen Kritiker, Verächter oder allzu bequeme Leser verteidigte. Die am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin entstandene und von Jürgen Trabant (bekannt u. a. als Übersetzer der 1972 in deutscher Sprache erschienenen »Einführung in die Semiotik« von Umberto Eco) betreute Dissertation von F. ist ein ausgesprochen souverän geschriebenes Buch, dem an einer im besten Wortsinn kritischen, fachliche Dis­tanz wahrenden Spurensicherung gelegen ist. Die Arbeit versucht, die Genese der komplexen und bemerkenswert dynamischen Theo­riemodelle Ecos nachzuzeichnen sowie über die be­kannten Topoi seiner Semiotik hinaus nach Hintergründen, Einflüssen, Motivationen, Impulsen und Zäsuren zu fragen.
Angesichts der Fülle (auch) theologischer Untersuchungen, die sich auf Umberto Eco beziehen einerseits (die ThLZ weist eine be­trächtliche Anzahl von Rezensionen zu Werken Ecos bzw. zur theo­logischen Rezeption Ecos auf, vgl. u. a. die Hefte 10/1988, 4/1989, 7/1989, 11/1990, 12/1990, 5/1994, 6/1994), und angesichts der Menge abstruser Zitationsklischees andererseits (Eco als Dekonstruktivist, Eco als Verteidiger einer beliebigen Interpretation von Texten usw.), auf die der italienische Gelehrte oft reduziert wird, kommt ein Buch wie das von F. gerade recht. Es ist allerdings gerade kein »Eco light«, mit dem man sich die Lektüre der Schriften Ecos ersparen könnte; es macht vielmehr deutlich, dass die für Eco typischen Argumentationsmuster noch komplexer sind und eine noch differenziertere Betrachtung erfordern, als man bisher vermutet haben mag. Damit stellt die Arbeit eine wichtige Ergänzung zu dem breiter angelegten, von Michael Nerlich verfassten Überblick zu Leben und Werk Umberto Ecos dar (Umberto Eco: Die Biographie, Tübingen 2010).
Das besondere Interesse der Theologie am Werk Ecos gilt bis heute seinen hermeneutischen Prinzipien und in diesem Zusam­menhang dem Textbegriff, der Funktion der Zeichen, der Entstehung und Wirkung von Codes, den Regeln der kommunikativen Praxis – bis hin zur »Interpretation der Welt«. In der Konsequenz der theologischen Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk Ecos wurde die Debatte um den Zeichenbegriff von Theologie und Religion befruchtet, das Verständnis sozio-religiöser Kommunikationsprozesse vertieft (u. a. mit kritischem Bezug auf den Offenbarungsbegriff) und deren ästhetische Dimension neu in den Diskurs der Praktischen Theologie integriert.
Dass Ecos Theoriekonzepte vor allem zu einer infrage stellenden Auseinandersetzung mit den Interpretationsmodellen der Theologie und der Praxis der Religion herangezogen wurden, hängt – das erschließt sich vor allem durch die Lektüre des ersten Teils des Buches zur »philosophischen Herkunft« Ecos – wohl auch mit Weichenstellungen zusammen, die bei Eco selbst mit einer zunehmende Distanzierung von der katholischen Philosophie verbunden waren (21–124). Nur wenigen war bisher bekannt, dass Eco nicht nur über die Ästhetik Thomas von Aquins promoviert hat, sondern als Jugendlicher in katholischen Jugendorganisationen aktiv war und dass sein – u. a. aus dem Streit mit dem konservativen Lager erwachsener – Perspektivenwechsel hin zu einem dogmenkritischen Denken auch ein emanzipatorischer Akt innerhalb seiner Biographie war. F. zeigt, wie Eco trotz bzw. wegen seines »Ab­schieds von der katholischen Philosophie« durchaus dazu imstande war, bestimmte Betrachtungsweisen, die er in der Be­schäftigung mit Thomas gewonnen hatte, in neuen Kontexten zu reformulieren bzw. zu »säkularisieren«. Hierfür scheint Eco von seinem Lehrer, Luigi Pareyson, wichtige Impulse erhalten zu haben. Dabei spielt das Konzept des »offenen Kunstwerks« eine herausragende Rolle, das aufgrund seiner strukturalen – in gewissem Sinne eben doch: ontologischen – Widerständigkeit gegenüber jeglichen Verstehens- und Interpretationsversuchen zu einer Entautomatisierung der Wahrnehmung führt. Es ist gerade durch seine formvollendete Geschlossenheit für verschiedene Interpretationen offen, jedoch ausschließlich zu den ihm eigenen Bedingungen, die sich aus dem spezifischen Ensemble seiner Signifikanten ergeben.
Im 2. Teil macht F. auf die Brenn- bzw. sich bewegenden Fluchtpunkte der Ecoschen Semiotik selbst aufmerksam. Dazu gehören Modifikationen bezüglich der Charakterisierung der Referente (des ›Sachbezugs‹ von Zeichen) sowie der Art des in einer Kommunikationssituation auf der Basis von Codes entworfenen Zeichen- und Weltverständnisses (vgl. in diesem Zusammenhang die Beobachtungen F.s an Ecos »Kritik der Ikonizität« (184–201). Last but not least bringt F. die neuen Konturen der »kognitiven Semiotik« Ecos zur Sprache (227–250). Dabei nimmt F. vor allem auf Ecos Schrift Kant und das Schnabeltier Bezug (it.: Kant e l’ornitorinco, Milano 1997, dt.: München 2000). Nach F.s Ansicht kommt es hier insofern zu einer »ontologischen Wende« (229), als Eco die Grenzen der Interpretation und damit die Möglichkeiten des Verstehens nunmehr im Seienden verankere, während er früher auf jegliche Versuche der Orientierung von Verstehens- und Verständigungsprozessen an vorgegebenen Strukturen in oder gar hinter der Welt verzichtet habe. (Man vgl. in diesem Zusammenhang besonders die Funktion einer »Theorie der Lüge« im Werk Ecos, die genau dies zu bestätigen scheint.)
Zunächst ist zu würdigen, mit welch akribischer Genauigkeit F. das erweiterte Begriffsrepertoire Ecos analysiert. Gleichwohl ist die Thomasische Kontinuität in den Schriften Ecos womöglich stärker, als dessen Rede von »Tendenzlinien« (»linee di tendenza«) des Seienden vorzugeben scheint. Jene Kontinuität äußert sich bereits in der immer wieder aufgeworfenen Frage nach einem Verstehen ermöglichenden Gesamtzusammenhang, und sei er in der Enzyklopädie der Welt zu sehen – einschließlich des komplexen Verweisungs-systems ihrer Zeichen. Dass Eco gelten lässt, dass in der materialen Weltwirklichkeit Tendenzen angelegt sind, die unserem Verstehen in dem Sinne vorausgehen, als sie unserer Interpretation Widerstand leisten und insofern jegliche Erkenntnisprozesse »bedingen«, sagt im Prinzip nichts anderes, als was z. B. in der Theorie des offenen Kunstwerks und der Textsemiotik festgehalten wird: Wer etwas verstehen will, ist an Strukturen gewiesen, jenseits derer es nichts zu verstehen gibt bzw. »falsch« verstanden wird. Von daher spricht Eco korrelativ auch von »linee de resistenza«, von Resistenzlinien des Verstehens. Diese Argumentation begegnet der Sache nach auch im Trattato di semiotica generale (91985, 199), wo Eco den in einer Interpretations- bzw. Kommunikationssituation jeweils wirkenden Umständen (circostanze di communicazione) – jener Summe materialer bzw. realer Faktizitäten – eine das Verstehen beeinflussende, Codes erschütternde Kraft zuweist. Weitere implizite Referenzen zu Thomas ließen sich benennen.
So betrachtet korrespondiert Ecos »Ontologie« mit anderen philosophischen Konzeptionen, in denen das als Welt bzw. in der Welt Gegebene zu den Rahmenbedingungen gehört, unter denen es erst sinnvoll ist, zielgerichtet verstehen zu wollen, überhaupt etwas Bestimmtes zu wollen und entsprechend zu handeln. Neuere philosophische Konzepte, die versuchen, die Freiheit des Menschen als Freiheit des Erkennens, Wollens und Handelns zu reformulieren – wovon auch die Interpretation Gottes und der Welt berührt ist –, reden in ähnlicher Weise wie Eco von einer diese Prozesse (mit)bedingenden, sie damit jedoch keineswegs determinierenden Struktur des Gegebenen (und infolgedessen z. B. von einem »be­dingten« und gerade deshalb freien, nicht beliebigen Willen). Außerhalb der Bedingungen des Gegebenen kann schlechterdings nichts zielgerichtet verstanden und erkannt, gewollt oder getan werden.
So spricht z. B. Peter Bieri ähnlich wie Eco von den Gegebenheiten der Welt als von Konditionen, die uns auch vorgeben, was wir vernünftigerweise nicht wollen können – z. B. als Frau oder Nicht-Katholik Papst werden (Das Handwerk der Freiheit, München, 2001, 27–161). Bei Eco hört sich das so an: »Das Seiende entgegnet uns mit ›Nein‹ ebenso wie eine Schildkröte, von der wir verlangen zu fliegen. … Wir sind es, die – da unser Geist auch imaginäre Darstellungen von unmöglichen Welten hervorbringen kann – von den Dingen fordern, zu sein, was sie nicht sind, und wenn sie weiterhin das sind, was sie sind, so denken wir, dass sie uns mit ›Nein‹ antworten und dass sie uns eine Grenze setzen. … Doch die Grenze liegt in unserem Verlangen, in unserem Streben nach absoluter Freiheit« (zit. nach F., 231, Anm. 7).
So produktiv die semiotischen Irritationen waren, die besonders auf dem Gebiet der Theologie und der Geschichtsphilosophie zur Erschütterung einer bestimmten Art ontologischer Metaphysik, ihrer Erkenntnisprämissen und Kommunikationsprinzipien ge­führt haben, dürften Ecos konzeptuelle, begriffliche Anregungen nun auch für zeitgenössische ontologische Fragen von Bedeutung sein. Für Fragen, die nicht mehr darauf zielen, das weitere Nachdenken über Gott und die Welt mit dem Verweis auf letztgültige Offenbarungen oder abstrakte Wahrheiten zu erübrigen, sondern die die Möglichkeit eröffnen, sich dem »Inhaltskontinuum« der Welt, das »alles Erfahrbare, Sag- und Denkbare« einschließt (F., 232), anhand der Spur der Zeichen anzunähern. Die Lektüre von F.s Metamorphose des Ecoschen Ideengebäudes ist dafür Anregung und Orientierung auf höchstem Niveau.