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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

465–467

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Brouwer, Christian

Titel/Untertitel:

Schellings Freiheitsschrift. Studien zu ihrer Interpretation und ihrer Bedeutung für die theologische Diskussion.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XIV, 411 S. 23,2 x 15,5 cm = Religion in Philosophy and Theology, 59. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-150811-0.

Rezensent:

Christian Danz

Schellings Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Ge­genstände gehört zu den faszinierendsten und am häufigsten kommentierten Texten aus dem Œuvre des Leonberger Philosophen. Publiziert wurde die Abhandlung in dem 1809 erschienenen ersten und einzigen Band von F. W. J. Schelling’s philosophische[n] Schriften (Landshut 1809, 387–511). Schelling hatte dieser Sammlung seiner Schriften eine Vorrede vorangestellt, in der er die Freiheitsschrift in den werkgeschichtlichen Zusammenhang seiner Texte seit 1801 einordnete. Während die 1801 in der Zeitschrift für spekulative Physik erschienene Darstellung meines Systems der Philosophie den reellen Teil des Systems beinhalte, stelle die Abhandlung über die menschliche Freiheit nach dem missglückten Versuch in Philosophie und Religion (Tübingen 1804) erstmals den ideellen Teil des Systems der Philosophie »mit völliger Bestimmtheit« (ebd., IX) dar. Dieser von Schelling selbst vorgenommenen Einordnung der Freiheitsschrift in die werkgeschichtliche Entwicklung seines Denkens seit 1801 sind die Deutungen und Interpretationen dieser Schrift nur bedingt gefolgt. Viele, so auch Paul Tillich und Martin Heidegger, sahen in der Abhandlung von 1809 einen Neueinsatz des Philosophen, der wenn nicht mit der Identitätsphilosophie bricht, so doch den fulminanten Auftakt zum Spätwerk des Philosophen darstellt, das um die Geschichte Gottes und seine Offenbarung kreist.
Im Unterschied zu Deutungen der Freiheitsschrift, welche in dieser einen Bruch mit dem vorangegangenen Denken Schellings ausmachen, versteht Christian Brouwer in seiner Untersuchung Schellings Freiheitsschrift. Studien zu ihrer Interpretation und ihrer Bedeutung für die theologische Diskussion »die Freiheitsschrift in einer deutlichen Kontinuität sowohl zur Philosophie bis 1809 als auch zu den nachfolgenden Werken« (96). Die Untersuchung von B. wurde »im Sommersemester 2010 von der Evangelisch-Theolo­gischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen« (V). In die Druckfassung wurde die im Jahre 2011 erschienene Forschungsliteratur eingearbeitet. Die Studie von B. bietet einen umfassenden, methodisch hoch re­flektierten Kommentar zu dem Text Schellings, welcher sowohl den problemgeschichtlichen Hintergrund als auch die theologiegeschichtlichen Problemstellungen einbezieht und nach der Relevanz von Schellings Text für den theologischen Diskurs der Gegenwart fragt. Der Aufbau der Untersuchung folgt im Hauptteil dem Text von Schellings Abhandlung über die menschliche Freiheit.
Nach einer kurzen Einleitung (1–11), welche das Interesse der Untersuchung, die Forschungslage sowie den Aufbau der Studie darstellt, widmet sich das zweite Kapitel dem Kontext und [der] Einleitung der Freiheitsschrift (12–99). B. diskutiert hier zunächst die Idealistische Freiheitsphilosophie (15–46) anhand von Kants und Fichtes Konzeptionen des Freiheitsbegriffs. Sowohl Kants Verständnis der menschlichen Freiheit, wie er es in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in der Religionsschrift von 1793 ausgeführt hatte, als auch Fichtes Verständnis der Autonomie bilden die Folie von Schellings Erörterung des Freiheitsbegriffs. Die Auseinandersetzung mit dem idealistischen Freiheitsverständnis zeigt jedoch nur die eine Seite des Debattenkontextes von Schellings Ab­handlung. Die andere bildet der Spinozismus, in dessen Nähe die Philosophie Schellings durch Friedrich Schlegel und Friedrich Heinrich Jacobi gerückt wurde. B. zeichnet diesen problemgeschichtlichen Hintergrund anhand einer Rekonstruktion von Jacobis Spinoza-Büchlein – der Hauptquelle für die Spinoza-Rezeption am Ende des 18. Jh.s – sowie von Friedrich Schlegels Schrift Über die Sprache und Weisheit der Inder (1808) nach (51–74). Vor diesem problemgeschichtlichen Hintergrund wird von B. das Programm der Schrift von 1809 rekonstruiert, wie es in der Einleitung ausgeführt ist.
Das umfangreiche dritte Kapitel der Studie ist dem Hauptteil der Freiheitsschrift gewidmet (100–302). Diese wird, wie es in der Kapitelüberschrift heißt, einer »theologischen Lektüre« unterzogen. Dieser Hauptteil der Untersuchung ist von B. in drei Abschnitte untergliedert: A Gott in seiner Selbstoffenbarung (100–175), B Abhängigkeit und Freiheit des Menschen (175–249) und C Gott als sittliches Wesen (249–302). Wie bereits in der Einleitung verfährt B. so, dass er die fortlaufende Kommentierung und Rekonstruktion des Gedankenganges mit der Einbeziehung des problemgeschichtlichen Hintergrundes verbindet. Schellings Erörterung der menschlichen Freiheit wird von B. in den Horizont der Freiheitsbe­griffe von Augustin (175–194) und Luther (136–146.194–207) gerückt. In der Spannung von Augustins De libero arbitrio und Luthers De servo arbitrio bekommt der Text Schellings gewissermaßen theologische Tiefenschärfe. Im Horizont von deren religiösen Reflexionen des Freiheitsbegriffs zeigt sich Schellings 1809 sowohl in Auseinandersetzung mit den idealistischen als auch mit den pantheistischen Freiheitsbegriffen skizziertes Verständnis der menschlichen Freiheit als Weiterführung von Augustin und Luther. Denn ähnlich wie Augustin und Luther verstehe Schelling die menschliche Freiheit so, dass sie grundsätzlich und gleichsam ab ovo in das Böse verstrickt sei. Die theologische Lektüre des Hauptteils von Schellings Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit wird von B. im vierten Kapitel der Studie unter der Überschrift Theologische Ausblicke aufgenommen und zusam­mengefasst (303–366). Auch dieses Kapitel ist in drei Abschnitte untergliedert: A Die Freiheitsschrift und der Gott der Theologie (303–316), B Aspekte eines theologischen Freiheitsbegriffs im Anschluss an Schelling (316–335) und C Freiheitsschrift – Sprache – Metapher (336–366).
Die von B. vorgelegte Rekonstruktion von Schellings Freiheitsschrift bietet eine dichte Lektüre des Textes, welche weite problemgeschichtliche Zusammenhänge zur Erschließung des Textes heranzieht. Dabei beschränkt sich B. fast ausschließlich auf die Schrift von 1809, so dass die werkgeschichtliche Einbindung des Textes zurücktritt. Die naturphilosophischen Grundlagen der menschlichen Freiheit – und darum geht es Schelling in seinem Text – werden von B. nicht anhand einer eigenen Rekonstruktion der einschlägigen naturphilosophischen Schriften Schellings erörtert.
Die für die Schrift von 1809 als methodische Grundlage fungierende naturphilosophische Unterscheidung zwischen Grund von Existenz und Existenz versucht B. auf der Folie von Luthers Unterscheidung von Deus absconditus und Deus praedicatus aufzuhellen. Dass sich eine gedankliche Entfaltung des Gottesgedankens vor solche Unterscheidungen gestellt sieht, ist unbestritten, aber was trägt sie für die Interpretation von Schellings Unterscheidung aus, die ihren Entdeckungszusammenhang in naturphilosophischen Phänomenen hat?
Schelling geht es in der Schrift von 1809 um eine angemes­sene Bestimmung des Wesens der menschlichen Freiheit. Weder der Kantische noch der Fichtesche Begriff der Freiheit scheinen Schelling zu überzeugen. Diese Weiterführung des formalen Freiheitsbegriffs im Sinne einer Konkretisierung als Freiheit zum Guten und zum Bösen deutet B. sündentheologisch. Schelling ra­dikalisiere »den idealistisch-neuzeitlichen Autonomiegedanken, indem er die Tat sündentheologisch deutet und damit der Autonomiegedanke selbst einer sündentheologischen Transformation dergestalt zugeführt wird, dass die Sünde gerade durch Autonomie zu interpretieren ist« (221; vgl. 231.233). Man mag fragen, ob B. Schellings Freiheitslehre nicht doch zu sehr in den Bannkreis der überlieferten Erbsündenlehre rückt, die bereits der junge Schelling in seiner Magisterdissertation einer fulminanten Umdeutung unterzogen hat. Das Kantische und Fichtesche Verständnis von Freiheit als Autonomie, also als Unterstellung des Willens unter das Sittengesetz, reicht Schelling nicht aus. Er erweitert diesen Begriff der Freiheit zu dem Gedanken, dass die Selbstbestimmung sich selbst als Freiheit widersprechen könne. Diese Näherbestimmung des Freiheitsbegriffs als Autonomiekritik zu verstehen, scheint mir etwas zu weit zu greifen, auch wenn Schelling in den nur ein Jahr später in Stuttgart vor einem kleinen Kreis von höheren Beamten gehaltenen Privatvorlesungen ganz andere Töne anschlägt als in der Freiheitsschrift.
Der angedeuteten Kritikpunkte ungeachtet hat B. eine kenntnisreiche, gründliche und für die Schellingforschung wichtige Studie vorgelegt. Der Band bietet nicht nur eine dichte Lektüre der Freiheitsabhandlung im Horizont der philosophischen und theologischen Problemgeschichte des Freiheitsgedankens, sondern er un­terstreicht die Bedeutung von Schellings Freiheitslehre und deren Durchführung für die theologischen Debatten der Gegenwart.