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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

461–464

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Dittrich, Andreas

Titel/Untertitel:

Glauben, Wissen und Sagen. Studien zu Wissen und Wissenskritik im ›Zauberberg‹, in den ›Schlafwandlern‹ und im ›Mann ohne Eigenschaften‹.

Verlag:

Tübingen: Niemeyer (de Gruyter Imprint) 2009. IX, 365 S. 22,0 x 14,5 cm = Studien zur deutschen Literatur, 188. Kart. EUR 79,95. ISBN 978-3-484-18188-5.

Rezensent:

Uwe Gerber

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Müller, Tilo: Frömmigkeit ohne Glauben. Das Religiöse in den Essays Thomas Manns (1893–1918). Frankfurt a. M.: Klostermann 2010. IX, 304 S. 23,0 x 15,2 cm = Thomas-Mann-Studien, 42. Lw. EUR 54,00. ISBN 978-3-465-03678-4.


In den von »Heinrich Heine, der ›Gute‹« (1893) bis zu den »Betrachtungen eines Unpolitischen« (1915–18) reichenden Essays von Thomas Mann mischen sich Distanz zur institutionalisierten Religion des kirchlich-bürgerlichen Kulturprotestantismus und zur »va­-gierenden Religiosität« und ein persönlich-ästhetischer Zugriff auf das Religiöse als »ein Weg gleichermaßen gebrochener wie legitimer Teilhabe an dessen tieferer, unfixierbarer Wahrheit« (251).
Thomas Mann hielt Max Webers These über den Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus und die Wirkung von Nietzsches »Tod Gottes« mit ihrem Säkularisierungsschub für selbstverständlich; sein Thomas Buddenbrook sei ein Erzprotes­tant wie Luther und Goethes »Faust«, wie die modernen Menschen überhaupt, nervös und arbeits-, leistungs-, askeseverschrieben zugleich, autonome Persönlichkeiten mit Gewissen und Verantwortung, mit der Zähmung des Triebhaften und einem heroischen Ertragen des Widersprüchlichen. Das ambivalente Erbe Nietzsches trieb ›atheistische Protestanten‹ wie Thomas Mann in radikale Christentumskritik und zugleich in eine existentielle Religiosität persönlicher Frömmigkeit ohne expliziten Gottes-Glauben. In diesen durch Bezüge auf den Kulturprotestantismus, auf die an Luther und Kierkegaard orientierte Dialektische Theologie und speziell auf Friedrich Gogartens Anliegen der »rechten Weltlichkeit der Welt« und ebenso auf Lebensphilosophie, Neukantianismus, explizit auf seinen »Lehrmeister« Nietzsche, auf Benjamin und Arendt entfalteten Umbruchkontext um die 1900-Zeitenwende zeichnet Tilo Müller Thomas Manns gespaltenes Verhältnis zum Christlichen, zum Protestantischen und zum Religiösen detailliert nach. Man vollzieht die Bewegungen von Thomas Manns »Frömmigkeit ohne Glauben« interessiert mit.
Methodisch schlägt Müller die Doppelstrategie ein, mit einem offenen Begriff von Religion sowohl explizit Religiösem (z. B. in Christus-Vergleichen) als auch funktional Religiösem (wie z. B. in Äquivalenten wie Transzendenz des künstlerischen Aktes, Leben, Freiheit, Leiden) auf die Spur zu kommen (41 ff.). Dieser ambivalent-konstruktive Umgang mit ›Religion‹ wird eingebettet in den seit der Aufklärung initiierten Paradigmenwechsel vom kirchlich-monolithischen Christentum hin zu einer Pluralität religiöser Lebensstile, hin zu ›vagierender‹ Religiosität einerseits und der Beendigung der ›objektiven‹ Religion mit dem von Nietzsche propagierten ›Tod Gottes‹, einer Beendigung freilich, die für Nietzsche (wie für Thomas Mann) gleichzeitig eine Selbstentfaltung des Menschen im Verinnerlichen von Transzendenz bedeutet. Diesen Prozess als ›Säkularisierung‹ zu beschreiben heißt weder, dass Religion an ihrem Ende sei oder sich darauf zu bewege (so Marx) noch dass die neuzeitliche Säkularisierung historisierend als Produkt christlicher Tradition ausgewiesen werden könnte (49, gegen Rendtorff), sondern bedeutet mit Thomas Mann: das Religiöse in der Dialektik von »gebrochener wie legitimer Teilhabe an dessen tieferer, unfixierbarer Wahrheit« zu erfahren.
Im Rückgriff auf seinen »Lehrmeister« Nietzsche kritisiert Thomas Mann sowohl die Kunst-Religion der demokratischen, fortschrittsgläubigen Zivilisationsliteraten (z. B. seines Bruders Heinrich, später auch Wagners) und die säkularisierende Transformation des Religiösen ins Weltliche (z. B. bei Troeltsch und dem He­gelianer Rothe) als auch die Verabschiedung der Religion durch Feuerbach und Marx. Er steht eher auf der Seite der Dialektischen Theologen mit ihrem Krisen-Betroffenheits-Ansatz, den er auf das sterbliche Ich in seiner Auslieferung an ein »funktional religiös Überlegenes« zentriert: Betroffenheitsfrömmigkeit ohne fixierbaren Gottes-Glauben. Zugleich wird in »Friedrich und die große Koalition« eine Art Verobjektivierung angedeutet, indem diese Titelfigur zur »heroischen Personifikation des Zusammenhangs von homoerotischer Geschlechtlichkeit und religiös aufgeladener, allgemeinmenschlicher Repräsentativität« stilisiert wird, so dass sich das Künstlerische, das Soldatisch-Männliche, das Priesterlich-Religiöse in religiös erlebten und deutbaren Funktionalen wie Leben, Leiden, Freiheit im stellvertretenden Dasein des Künstlers für sein Volk schneiden. »Der Glaube an Gott ist der Glaube an die Liebe, an das Leben und an die Kunst« (193.212), und nicht ein ›positiver‹ Glaube an … Wie schwankend dabei Thomas Manns ›Religiosität‹ in den Essays zum Vorschein kommt, lässt sich am funktional religiösen Bild vom ›Ewig-Weiblichen‹ zeigen (42 ff.): von 1893 bis 1910 in metaphysisch gedeuteter Positivität, dann 1913 plötzlich negativ im Einklang mit Nietzsche und Friedrich dem Großen als Decadence, ab 1920 dann wieder positiv sogar als »Prinzip der Erlösung«, deutlich später im »Zauberberg«.
Eines der Grundprobleme dieser Krisenzeit zeigt sich bei Thomas Mann in dem unaufgelösten Nebeneinander von »Selbstheiligung« und Erlösung ›von außen‹, gleichsam verobjektiviert in dem vom Künstler ›abgehobenen‹ Werk, wie er es in »Bilse und ich« angezeigt hat. Originalton Thomas Mann: »Aber wie, wenn der künstlerischen Paradoxie, daß aus der totalen Konstruktion sich der Ausdruck – der Ausdruck als Klage – gebiert, das religiöse Paradoxon entspräche, daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte? Es wäre die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz der Verzweiflung, – nicht der Verrat an ihr, sondern das Wunder, das über den Glauben geht« (247, Anm. 64).
Also: Explizit Religiöses in Gestalt von Lehren, Geboten, Riten, aber auch von Säkularisaten des (Hegelschen) Weltgeistes oder kulturprotestantischen Weihen der Moderne ist als Glaubensanhalt und -inhalt von Thomas Mann (mit Nietzsche u. a.) als Antwortmöglichkeit auf den damaligen Umbruch verabschiedet. Aber Religion bleibt zugleich unfassbar lebendig in der persönlich-existentiellen Religiosität des Einzelnen. 1931 wird im »Fragment über das Religiöse« diese Grunderfahrung in einem Paradox artikuliert: »Der Mensch hat nie angefangen und nie aufgehört, aus den Antinomien seines geistig-fleischlichen Doppelwesens das Absolute, die Idee zu visieren … und er belöge sich selbst, wenn er sie verleugnete, – den Aufblick verleugnete zu ›Gott‹, den Aufblick zu sich selbst.« Mit dieser Art Doppelung des Aufblick-Subjektes, mit dieser »Möglichkeit totaler Alterität« bewahrt Thomas Mann den Einzelnen davor, »in seiner Endlichkeit unterzugehen« (243), und er weist auf eine »Frömmigkeit ohne Glauben«.
Zurück zu den Essays: Diese zeigen eine »grundsätzliche Kontinuität des Religiösen« (250). Und auch das Theorem von der Säkularisierung dient ihm gerade nicht zur Ablehnung des Religiösen, sondern zu einer verinnerlicht-gereinigten künstlerischen ›Konstruktion‹ persönlich-existentieller Religiosität. Müller gelingt es, diesen Religions-›Kampf‹ des ›atheistischen Protestanten‹ Thomas Mann sachkundig, anregend und lebendig nachzuzeichnen.
Andreas Dittrich stellt »erkenntnistheoretisch relevante Aspekte« und »interessante erkenntniskritische Paradigmen« in den drei Epochenromanen der Frühen Moderne heraus als »Weisen der kritischen und popularisierten Auseinandersetzung« mit zeitgenössischen und speziell mit den Erkenntnisphilosophien von Ernst Haeckel in »Die Welträtsel«, von Hermann Cohens neukantianischer »Logik der reinen Erkenntnis« und dem »Tractatus logico-philosophicus« von Ludwig Wittgenstein. In diesen »Metaromanen« und Erkenntnistheorien reflektiert sich diese Epoche selbst und ihren internen Wandel in breiten Bezügen auf damalige Diskurse, Wissenskonzepte, Glaubensdispute und ideologische Positionen. Dieses Geflecht, das in analoger Weise Müller in »Frömmigkeit ohne Glauben« in seiner Schilderung des Umbruchkontextes 1880–1918 mit der säkularisierenden Pluralität von Religiosität im Blick auf Thomas Manns ›atheistischen Protestantismus‹ zeichnet, wird von Dittrich in einem »vertieften«, sprachanalytisch ausgewiesenen Interpretationsverfahren entflochten.
Die Frage lautet, wie sich jeweils Glauben, Wissen und Sagen zueinander verhalten als unterschiedliche Erfahrungen von und Umgangsweisen mit Wirklichkeit. Aus der Fülle dieser detailliert und sensibel vergleichend-interpretierenden Arbeit wähle ich zwei Beispiele aus, um die lohnende Lektüre schmackhaft zu machen. 1. Wie wird der Status von Wissen, Erkenntnis und ›glaubendem‹ Für-wahr-Halten im »Zauberberg« und in Ernst Haeckels »Welträtsel« bestimmt? Während Ernst Haeckel Erkenntnis, Ästhetik und Ethik in seine monistische Erkenntnisphilosophie integriert, dabei die praktische Dimension betont und mit der unhinterfragten »Trinität des Wahren, Guten und Schönen« krönt, setzt Thomas Mann auf das persönliche Leben – wie in seinem Umgang mit Religion. Gegenüber Ernst Haeckels monistischer Integration von Leben, Erkennen und Sagen hält Thomas Mann an Kants Dualismus von intelligibler und empirischer Welt fest, verbindet aber beide insofern in der Ethik, als der »Pflichtgedanke« und der »Lebensbefehl« bei allem Erkennen und Wissen schon immer impliziert seien, so dass sich »das Wissenssubjekt in seinem Denken nicht von den Pflichten des ›Lebens‹ entferne« (203) – als lebensphilosophischer Hintergrund wie bei Thomas Manns existentiell-offener Religiosität. 2. Zu Musil und Wittgenstein: Für Ludwig Wittgenstein ist die reale Welt nicht als logisch geordnete Wirklichkeit denkend und sprachlich abbildbar zu vermitteln. Aber wir bedürfen der Logik zu ihrer Erfassung, d. h. Ludwig Wittgenstein konstruiert im Sinne Kants eine »linguistische Variante eines Transzendentalismus« (326), um Erkenntnis im Sinne »introspektiver Evidenzen« zu ›garantieren‹.
Robert Musil hingegen kritisiert diesen transzendentallogischen Ansatz ›aus dem Kopf‹ ebenso wie die idealistischen Systeme und beruft sich auf das kontingente Erkennen mit seinem aposteriorischen Wissen. Und während im »Tractatus« wissenschaftliche Hypothesen eine »logisch-absolute Weltanalyse« bieten, liefern sie im »Mann ohne Eigenschaften« konkurrierende Systeme der Weltbeschreibung eines »Gläubigen, der ohne Zweifel nichts glaubt« (331). Glauben ist hier ein offener Prozess, verknüpft mit Güte (Ethik) und Schönheit (Ästhetik). Während Ludwig Wittgenstein eine analytische Enthaltsamkeit hinsichtlich der »Rätsel des Le­bens« im »Tractatus« eingebaut hat, meint der »Mann ohne Eigenschaften«, »dass die ›Leitern‹ logischer Gedankenketten zu einer Entfernung vom ›Leben‹ geführt hätten« (335).
Das Fazit dieser luziden, spannenden Arbeit lautet: »dass keiner der drei Epochenromane eine abschließende oder abschließbare Lösung … bietet. Eine klare Priorisierung zwischen ›Wissen‹ und ethisch fassbarem ›Sollen‹ ist nicht feststellbar. Gerade darin mag ein Darstellungsmoment der drei Metaromane liegen, das über zeitgenössische Erkenntnistheorien hinausweist« (339).