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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

460–461

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Kranefuss, Annelen

Titel/Untertitel:

Matthias Claudius. Eine Biographie.

Verlag:

Hamburg: Hoffmann u. Campe 2011. 320 S. m. Abb. 20,5 x 12,5 cm. Geb. EUR 23,00. ISBN 978-3-455-50190-2.

Rezensent:

Uwe Wolff

Der reformierte Hagiograph Walter Nigg (1903–1988) hatte mit »Große Heilige« (1946) gezeigt, dass sich theologische Wissenschaft und Spiritualität nicht ausschließen müssen. Wie sein Vorbild Gerhard Tersteegen sah er in den Heiligen »überkonfessionelle« Urbilder der Nachfolge Christi. Als Walter Nigg starb, hatte er in über 60 Büchern das Leben der Heiligen so beschrieben, dass sich Millionen Leser angesprochen wussten. In seinem Nachlass fand sich eine Biographie jenes Mannes, dessen Frömmigkeit er sich zutiefst verwandt fühlte: Matthias Claudius (1740–1815). Gedichte wie »Abendlied« oder »Die Sternseherin Lise« bezeugen die unverwechselbare Stimme des »Wandsbecker Bothen« in der deutschen Dichtung. Sie sind zum unverlierbaren Grundbestand des kulturellen Gedächtnisses geworden.
Mit Annelen Kranefuss hat Claudius eine kongeniale Biogra­phin gefunden, die das Wunderbare im Alltäglichen entdecken kann. Sie besitzt jene profunde Kenntnis der politischen und so­-zialen Umstände, die Vertrautheit mit den großen Persönlichkeiten der Epoche zeigt. Sie kennt die Familiengeschichte und die biographischen Schlüsselerlebnisse, sie kann die großen Kontroversen darlegen, in denen sich auch Matthias Claudius bewähren musste. Vor allen Dingen aber beherrscht K. die Kunst des wissenschaftlich abgesicherten Erzählens, das neben dem souveränen Umgang mit den neuesten Ergebnissen der Forschung niemals die Frage vergisst: Warum sollen wir Menschen des 21. Jh.s uns mit Matthias Claudius beschäftigen?
Die Antwort ist eindeutig: Matthias Claudius kannte die großen theologischen Strömungen seiner Zeit, die orthodoxe Theologie eines Johann Melchior Goeze, die historisch-kritische Theologie eines Johann Salomo Semler, er war mit den Dichtertheologen Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder befreundet, doch was er suchte und schließlich fand, war eine Frömmigkeit des Herzens. Sie hatte ihre Grundlage in der frühkindlichen Erziehung und einem positiven Vaterbild, sie gründete sich auf einen ganz persönlichen Umgang mit Bibel und Gesangbuch und die Lektüre der Kirchenväter. Seine Dichtung entzündete sich an den »unspektakulären Grundtatsachen des Lebens«. Er sah die Spuren Gottes im Garten, in Wald und Wiese, im Familienalltag, er spürte Gottes Gegenwart in den einzelnen Lebensphasen des Menschen nach und schuf jenseits aller Tagesaktualität einen zeitlosen Spiegel menschlicher Urerfahrungen, in dem auch die Leser kommender Generationen ihr Leben wiederfinden konnten.
K. zeigt einen Dichter, der sich bei aller Bescheidenheit seiner Sendung sehr bewusst war. Sie beschreibt seinen beruflichen Werdegang, seine Arbeit als Journalist, seine Freundschaften und schließlich sein langes und trotz aller Wirren der Zeit glückliches Leben als freier Schriftsteller in Wandsbek, ohne dabei seinen Eigensinn und einen gewissen Altersstarrsinn auszusparen. Claudius lebte, was er verkündigte: Sein Familienleben strahlte Innigkeit, Herzensbildung, Erfahrung, Empfindung, Lebensfreude und Zufriedenheit aus. Mit 30 Jahren hatte er die 13 Jahre jüngere Rebecca Behn geheiratet. Mit ihr und den zahlreichen Kindern lebte er ein genügsames Leben, das viele Besucher anzog. Sie machten Wandsbek zum Kultort eines alternativen Lebensstiles in Lebensfreude und Zufriedenheit, der ohne die Teilnahme an den ständig wechselnden Moden des Zeitgeistes auskam. Ebenso gab es aber auch berühmte Zeitgenossen, die Claudius als dumm oder naiv verspotteten. Eine grobe Verkennung, wie K. zeigt. Denn die Leichtigkeit und die Innigkeit der Verse von Matthias Claudius sind einem Leben voller Grenzerfahrungen abgerungen. Claudius ist alles andere als naiv. Er kennt die Abgründe des Lebens ebenso wie sein wunderbares unergründliches Geheimnis. Diese Erfahrung setzt er gegen den einseitigen Rationalismus der Aufklärung und gegen eine Theologie, die über der Textkritik und der Dogmatik den Menschen vergisst. Wie der »Lieblingsjünger« Johannes will Claudius mit dem Herzen hören. Claudius steht an jener Schnittstelle von Theologie, Literatur und Lebenswelt, wo nach Worten gesucht wird, mit denen der Mensch leben und sterben kann.
Immer wieder wurde die ökumenische Offenheit von Matthias Claudius als heimliche Sehnsucht nach dem Katholischen missverstanden. Dagegen hatte sein katholischer Zeitgenosse Johann Michael Sailer den Ort von Claudius Spiritualität klar benannt: »Claudius kann nie zu unserer Kirche übergehen, denn Claudius sitzt tief und fest in dem Mittelpunkte der reinen Mystik und die da sitzen, sind vor Übergängen ziemlich sicher.« K. nennt diesen Glauben »überkonfessionell« und bedient sich dabei eines Begriffes, der für Walter Niggs Heilige und Mystiker zentral war. »Überkonfessionell« meint nicht jene Strömung synkretistischer Spiritualität der Gegenwart, sondern ein Bleiben in der eigenen Tradition und einen vertieften Blick auf jenen Grund des Christentums, der über alle konfessionellen Grenzen hinweg das gemeinsame Erbe bildet. In dieser Tiefenschicht war die Ökumene des glaubenden Herzens für Matthias Claudius bereits verwirklicht. Er starb bei klarem Bewusstsein und in Erwartung. Rebecca überlebte ihn um 17 Jahre. Sein Werk aber wird gelesen werden, solange das kulturelle Gedächtnis des Abendlandes lebendig bleibt.