Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2012

Spalte:

458–459

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Genest, Hartmut

Titel/Untertitel:

Über Goethe. Vorträge und Aufsätze.

Verlag:

Aachen: Shaker 2011. 326 S. 21,0 x 14,8 cm = Theologische Studien. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-8440-0318-5.

Rezensent:

Udo Kern

Es ist schon überraschend und erstaunlich, dass es in dem kleinen mecklenburgischen Städtchen Tessin in der Nähe von Rostock eine Goethegesellschaft gibt. Hartmut Genest, der seit ein paar Jahren hier wohnt und früher Professor für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Naumburg war, sieht sein Goethebuch als »das Ergebnis der Arbeit für die Goethegesellschaft Tessin vom 28.08.2008 bis zum 28.08.2011« (Vorwort) an. Es geht G. darum, einen spezifisch theologischen Beitrag zu Goethe zu leisten. Ein im Sommersemester 2008 von ihm an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock gehaltenes Seminar über Goethe stimulierte G. zur Veröffentlichung dieses Buches. Es bietet 14 Kapitel: 1. Goethes Liebe; 2. Goethes Marienbader Elegie; 3. Das Viergespann – Goethes frühe religiöse Gedichte; 4. Gott und Welt – Goethes späte weltanschaulichen Gedichte; 5. Religion und Ethik in Goethes »Werther«; 6. Über Goethes »Wahlverwandtschaften«; 7. Goethes »Faust« in christlicher Sicht; 8. Klassische Freundschaft – Goethe und Schiller; 9. Goethe und die Philosophie; 10. Rose und Kreuz – Goethe und Hegel; 11. Goethe als Natur(er)forscher; 12. Über Goethes Theologie der Farben; 13. Goethes Islam und 14. Ehrfurcht – Goethes religionspädagogisches Projekt.
G. befasst sich also mit vielen Themen aus Goethes Werk und gibt eine Art Gesamtschau auf den Dichterfürsten in Weimar. Vermutlich durch Schellings Vermittlung kam es am 21.10.1801 zur ersten Begegnung Goethes mit dem Privatdozenten Hegel. 1805 wird Hegel durch Goethes Bemühen zum Philosophieprofessor in Jena berufen. »Goethe und Hegel haben das Ganze des Seins sehr verschieden aufgefasst: als angeschaute Gott-Natur« – so Goethe – »und als begriffenen Geist« – so Hegel (202). Die Differenz beider zeige sich in ihrer Kreuzesdeutung. »Auf der … Hegelmedaille werden die Attribute der Eule und des Kreuzes und damit Philosophie und Theologie durch den Genius (Hegel) vermittelt und versöhnt.« (203) Goethe will ebenfalls, wie er sagt, »das Kreuz als Mensch und als Dichter … ehren«, aber philosophisch lehnt er es ab, »durch einen Umweg über die Ur- und Ungründe des Wesens und Nicht-Wesens« das Kreuz philosophisch zu lehren (203).
Goethe ist ein philosophischer Eklektiker. Durch die Beschäftigung bzw. die Begegnungen mit Kant, Jacobi, Schiller, Herder, Schelling und Hegel wurde Goethe mit der klassischen deutschen Philosophie bekannt. Bei Spinoza fand Goethe »im wesentlichen Bestä-tigung der Einheit von Gott und Natur, die Ablehnung der traditionellen anthropologischen Gottesvorstellung und ein ateleologisches Verständnis der Natur sowie die ethische Anweisung zur Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit« (G. von Wilpert, zit. 183).
Bei der Interpretation von Goethes Werther stellt G. fest, Goethe habe »durchaus und durchweg die religiös-ethische Problematik im Auge« (70). Das werde unzulässigerweise vom gegenwärtigen pädagogischen Gebrauch des Werthers vernachlässigt. »Die Probe aufs Exempel ist die banalisierende Wertherrezeption in Ulrich Plenzdorfs Die Leiden des jungen W. von 1973, die die sprachliche und geistige Dürftigkeit des Zeitgeistes … bestätigt.« (70) Tiefe Religiosität offenbare Werther im zweiten Brief. Er fühle in der ihn umgebenden Natur »die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewiger Wonne trägt und erhält.« Der Mensch spüre die Harmonie des Alls: »es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes!« (73)
Goethes über 60 Jahre andauernde Arbeit am Faust erweist dieses Werk als sein Lebenswerk. G. schildert und dokumentiert das strukturell und materialiter überzeugend. Er konstatiert vier Stufen in Goethes Arbeit am Faust: 1. den Urfaust (1775); 2. das Fragment (1790); 3. Fertigstellung von Faust I (1808) und 4. von 1825 bis 1831 verfasst Goethe Faust II. Mit Th. Friedrich bietet G. eine schöne Tafel über die Entstehung des Faust (124). Der Sinnaufbau des Faust hat folgende Struktur: 1. »Faust I: Die Tragödie der kleinen Welt (Mensch – subjektive Tragödie)«; 2. »Faust II: Die Tragödie der großen Welt (Welt – objektive Tragödie)«; 3. »Prolog und Epilog: Die Tragödie im Absoluten (Gott – absolute Tragödie)« (125). Bekannt sind Goethes kirchenkritische Aussagen. Fast unbekannt »sind aber die Aussagen Goethes im Faust …, die das Christliche positiv bewerten, ja eine grundlegende Übereinstimmung feststellen« (150). Den von ihm selbst gesetzten Skopus des Faust (»Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen«) interpretiert Goethe dementsprechend: »Es steht dieses mit unserer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade.« (150)
»›Klassisch‹ ist die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller … durch ihren Gehalt, die Bemühungen um eine (an der Antike orientierte) theoretische Ästhetik, praktische Poetik und eine entsprechende Didaktik für Dichter und Schauspieler. So zeigt sich …, dass die (subjektive) ›klassische Freundschaft‹ … sich letztlich erweist als eine (objektive) ›Freundschaft der Klassik‹.« (176) Das Verhältnis zwischen Goethe und Schiller sei einerseits ein sachliches Arbeitsbündnis, andererseits sei es ebenso von persönlicher Gestaltung wie von Freundschaft geprägt. Goethe schreibt am 6.11.1798 an Schiller: »Das günstige Zusammentreffen unserer beiden Naturen hat uns schon manchen Vorteil verschafft und ich hoffe, dieses Verhältnis wird immer gleich fort wirken … Sie haben mir eine zweite Jugend verschafft und mich wieder zum Dichter gemacht, welcher zu sein ich so gut als aufgehört hatte.« (169)
Am Anfang seines Werkes beschäftigt sich G. mit Goethes Auffassung von der Liebe. Bei Goethe handele es sich präzise jedoch gänzlich um das »Leben der Liebe« (5), das lebt und räsoniert wird. Hier differenziert G. mehrere Stadien: 1. das ästhetische (Käthchen Schönkopf, Friedricke Brion); 2. das ethische (Charlotte von Stein, Chris­tiane Vulpius, Marianne vom Willemer) und 3. das religiöse Stadium (Ulrike von Levetzow, das Ewig-Weibliche). Von Goethes Liebe erarbeitet G. ein schönes Schema (20.21). Goethes Liebe zu Ulrike von Levetzow (im Jahr 1822) wird profiliert dargeboten (Marienbader Elegie). Konkret wird hier wie auch bei den anderen Fragestellungen das Textmaterial nicht nur zur Darstellung gebracht, sondern im Gespräch mit dem Text und im Hören auf den Text bei Goethe erörtert. Wichtige Zitate Goethes werden von G. in den Diskurs gestellt und profiliert mithilfe des Textmaterials gestaltet. Das Hören auf den Text qualifiziert gerade auch den theologischen gebildeten Leser, sich Goethes Œuvre produktiv erschließen zu können.