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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

455–457

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Webster, John

Titel/Untertitel:

Barth’s Earlier Theology. Four Studies.

Verlag:

London/New York: T & T Clark International 2005. VIII, 144 S. 22,2 x 14,1 cm. Kart. £ 19,99. ISBN 978-0-567-08352-4.

Rezensent:

Georg Pfleiderer

Seit 40 Jahren wird unter der Ägide des Karl Barth-Archivs die Gesamtausgabe der Werke des großen Basler Theologen editiert. Der beste Rechtfertigungsgrund für die Fortsetzung der seit Jahrzehnten vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten, unermüdlichen Aktivitäten liegt in den Forschungsaktivitäten, welche die neu erscheinenden Bände jeweils auslösen. So unterstützten beispielsweise die Anfang der 1990er Jahre herausgekommenen ersten beiden Bände der »Vorträge und kleineren Arbeiten« neue, intensive Erforschungen der liberal-theologischen Anfänge Barths; und ähnlich führten die einige Jahre später aus dem Nachlass publizierten Vortragsmanuskripte aus Barths Göttinger Zeit in den 1920er Jahren zu entsprechenden Arbeiten. Darf als state of the art jener Erforschung der liberal-theologischen Anfänge heute gelten, dass der junge Barth auch bereits in seinen liberalen Zeiten um eine eigenständige Position bemüht war, die durchaus bereits Züge seiner späteren, scheinbar um 180° gedrehten Theologie aufweist, so lässt sich an den Vorlesungen der Göttinger Zeit erkennen, in welch intensiver Weise sich »the enfant terrible of the academic establishment« (3), der vermeintliche theologische Autodidakt und antihistoristische Ikonoklast (vgl. 100), um eine exegetische, aber vor allem auch historisch-theologische Abstützung seiner im Rö­merbriefkommentar scheinbar genialisch hingeworfenen Theologie bemüht hat. Darum dürften Urteile fehlgehen, die in Barth nichts als einen theologisch drapierten Neukantianer, einen ge­schichtsvergessenen Expressionisten oder Postmodernen avant la lettre oder aber den neo-orthodoxen Erneuerer einer sich direkt auf die altkirchlichen Dogmen zurückbeziehenden (hoch-)kirchlichen Dogmatik sehen wollen.
Genau um solche Korrekturen diesseits und jenseits des Atlantiks verbreiteter Barth-Bilder ist es dem Aberdeener Systematiker und ausgewiesenen Barthkenner John Webster mit seinen kleinen, aber feinen Studien zu Barth-Vorlesungen aus jenen 1920er Jahren zu tun. Er wählt dafür die Vorlesungen über Zwingli von 1922/23, über die reformierten Bekenntnisschriften von 1923, die im selben Sommersemester entstandene Vorlesung über den 1. Korintherbrief sowie – auf den ersten Blick überraschend – Barths »Protes­tantische Theologie im 19. Jahrhundert«, die jedoch ebenfalls in ihren ersten Anfängen auf Göttinger und Münsteraner Vorlesungen zurückgeht. Bewusst werden so Texte Barths, die durch die Editionen in der Werkausgabe mehr oder weniger erstmals zugänglich geworden sind, als ›eye-opener‹ für bereits von Barth selbst publizierte Schriften verwendet. Zu diesem syn- und diachron kontextualisierenden Verfahren gehört auch, dass W. über die jeweiligen Hauptreferenztexte hinausgreift und Verbindungen zu späteren Arbeiten, im Fall der Theologiegeschichte, etwa zu Stücken aus der KD herstellt.
Barths eigentliche Stärke in der Auseinandersetzung mit historischen Materialien liege, so das plausible Urteil W.s, in seiner kritisch-dialogischen Herangehensweise an die Texte bzw. Autoren, die ihm in den meisten Fällen (Ausnahme z. B. das Ritschlkapitel in der Theologiegeschichte, vgl. 38) dazu verholfen habe, deren konstruktive Leistungen wahrzunehmen – und für seine eigene weitere theologische Arbeit fruchtbar zu machen. Dieser dialogische Zug trete in den Vorlesungsmanuskripten besonders plastisch zutage, was die gleichwohl ebenfalls unübersehbaren Durcharbeitungsmängel der oft unter extremem Zeitdruck entstandenen Texte verschmerzbar mache.
So habe Barth in der Zwingli-Vorlesung, trotz aller Hassliebe zu dessen allzu undialektischem »pure transcendentalism« (31), dessen Effekt zu schätzen gelernt, der in der Kritik an aller Vermittlung von Gott und Welt in einer religiösen Eigensphäre (vgl. 27.29) und einer entsprechenden Aufwertung der Ethik liege – ein Urteil, das seinerseits geeignet sei, Vorurteile über den vermeintlich ethikvergessenen Dialektischen Theologen Karl Barth zu korrigieren.
Zweifellos viel wichtiger für Barths theologische Entwicklung als die Beschäftigung mit Zwingli ist die Auseinandersetzung mit der altprotestantischen Dogmatik, wie er sie namentlich in seiner Vorlesung über die Reformierten Bekenntnisschriften aufnimmt. Das ist freilich einigermaßen bekannt, ebenso wie Barths Versuch, in dieser Tradition zwischen einem theologisch wegweisenden Theo- bzw. Christozentrismus auf der einen und problematischem Wetterleuchten neuzeitlicher Subjektivität auf der anderen Seite zu unterscheiden.
Die theologiekonstitutive Bedeutung des Dialogischen zeigt sich naturgemäß besonders deutlich an Barths exegetischen Arbeiten, gehe es Barth dort doch darum, »drawing the reader into his own process of discovering the Sache« (77). Im Falle der Korintherbriefvorlesung führe diese Bemühung allerdings nicht (wie beim Römerbrief) zur Entstehung eines neuartigen theologischen Kommentars, sondern zu einer »Erklärung …« des Textes, die als »… combination of historical observation, textual comment and theolo­gical re-articulation« (80) und solchermaßen als eine Art Mimesis apostolischer Zeugenschaft anzusprechen sei, die trotz oder gerade wegen ihrer eschatologischen Thematik namentlich ethische Pointen habe (vgl. 85 ff.)
Zu unerwarteter Blüte sei Barths dialogische Hermeneutik aber gerade auch in seiner Vorlesung über die Protestantische Theologiegeschichte gekommen, die darin etlichen zeitgenössischen (Tillich) und neueren (Pannenberg, Rohls) Entwürfen in ihrer Dichte an Lebendigkeit, überraschendem Ideenreichtum, Fairness und generell hinsichtlich ihrer human texture (97) überlegen sei. Daran mag etwas Richtiges sein, auch wenn W.s Versuch, Barths hermeneutischem Programm, Theologiegeschichte als Kirchengeschichte, nämlich als Geschichte von in der Kirche Gleichzeitigen, und diese wiederum als Nukleus von Geschichte überhaupt zu lesen, gegen jene neueren Autoren Plausibilität zu verschaffen, noch weiterer Ausarbeitung jenseits der hier vorgelegten Studien zu bedürfen scheint.
Ob jene Barthsche Hermeneutik der Gleichzeitigkeit mit historischen Texten auch als Entschuldigungsgrund für säumige Re­zensenten herhalten kann, muss dem Urteil der geneigten Leserschaft überlassen bleiben.