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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

453–454

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Marty, Martin E.

Titel/Untertitel:

Dietrich Bonhoeffer’s Letters and Papers from Prison. A Biography.

Verlag:

Princeton/Oxford: Princeton University Press 2011. XII, 275 S. 19,3 x 11,5 cm = Lives of Great Religious Books. Lw. US$ 24,95. ISBN 978-0-691-13921-0.

Rezensent:

Ralf K. Wüstenberg

Der Band des bekannten amerikanischen Theologen Martin E. Marty folgt einem Trend in der angelsächsischen Welt, nämlich Biographien über das Leben bekannter Bücher abzufassen. Und Dietrich Bonhoeffers »Widerstand und Ergebung« (engl. Letters and Papers from Prison) kann auf ein reiches Leben (bios) zurück­blicken: Von seiner englischen Erstauflage 1954 über die enlarged edition von 1978 bis zur Übersetzung der kritischen Gesamtausgabe als »Dietrich Bonhoeffer Works Vol. 8« (DBWE 8) im Jahr 2010. Die Veröffentlichung der Biographie fällt zudem in das Jahr der Vollendung des über 20 Jahre angelegten Übersetzungsprojekts der englischsprachigen Bonhoeffer-Ausgabe. Man kann von einer Zäsur innerhalb der englischsprachigen Bonhoeffer-Forschung sprechen, insofern die Quellenlage vergleichbar verlässlich er­schlossen ist wie in der deutschen Forschung nach der erfolgreichen Edition der kritischen Dietrich Bonhoeffer Werke in 16 Bänden im Jahr 1998.
M.s biography bietet freilich mehr als die Darstellung des Lebens von Textausgaben. Es handelt sich vielmehr um ein Stück Theologiegeschichte, die von M. lebendig vor Augen geführt wird. »Widerstand und Ergebung« stellt einen der meistverkauften religiösen Titel im englischsprachigen Raum dar. Worin liegt der Erfolg des Bandes? M. sieht als Grund einerseits die hohe existentielle Aussagekraft, andererseits die ganz untheologische Darstellungsform, die bekannte Muster sprengt:
»We are picturing the physical object, Letters and Papers from Prison, as the book picked up almost randomly by someone who has an interest in prison literature and the Hitler years in Germany, but not necessarily in the philosophy of existence or theology. A dust jacket would certainly have identified the main author as a theologian, but this turns out to have been a theologian of a different sort, one who did not match the stereotypes« (18 f.).
Die Begegnung mit Bonhoeffers Gefängnisbriefen eröffnet dem Leser ein »changed view of existence« (29).
Während die ersten Kapitel der Biographie (1–50) vieles Interessante (für deutsche Leser allerdings zumeist Bekanntes) über die Entstehungsgeschichte der Edition der Gefängnisbriefe und dem Mitwirken Eberhard Bethges liefern, liegt der theologische Gewinn der Lektüre vor allem in den Folgeabschnitten. Es gelingt M. ausgezeichnet, komplexe Debatten aus der Wirkungsgeschichte von »Widerstand und Ergebung« übersichtlich darzustellen. Im Einzelnen werden wirkungsmächtige Debatten wie die um Bonhoeffers These von der »religionslosen Welt« (William Hamilton, John A. T. Robinson) thematisiert und kritisch mithilfe neuerer Literatur diskutiert; weiter wird die damit verbundene Diskussion um Kontinuität und Diskontinuität, ja Zäsur in seiner Gesamttheologie beleuchtet (Hanfried Müller, Eberhard Bethge, Ernst Feil), Bonhoeffers Rezeption in der DDR unter dem Stichwort »Travels East« beleuchtet (Albrecht Schönherr, Wolf Krötke), seine Wirkungsgeschichte in der angelsächsischen Welt differenziert nachgezeichnet sowie seine Spur in den Befreiungstheologien aufgenommen (in Lateinamerika, Asien und Südafrika).
Im letzten Kapitel (211–246) führt M. die wirkungsgeschichtlich bedeutenden internationalen Debatten mit einer der Kernfragen in der Bonhoeffer-Forschung, nämlich der Frage nach Kontinuität und Diskontinuität, zusammen (besonders 215 f.). M. schließt sich der inzwischen verbreiteten Auffassung an, dass von einer Kontinuität in der christologischen Fragestellung Bonhoeffers auszugehen ist, die selbst von Diskontinuitäten (in Begriffswahl und Themen, wie denen der Religion) gelegentlich unterbrochen scheint. Eine harte Diskontinuität und Anschlusslosigkeit der Tegeler Briefe mit den anderen Texten Bonhoeffers wird abgelehnt.
»The radical interpreters and formulators in both the European East and the modern West were emphatic: they found discontinuity, a clear breach. This was a discovery or a claim that, it must be said, was plausible, because some of the late Bonhoeffer writings gave signs that this second assessment may be warranted. Yet, as the years have passed, it is obvious that most of those who had known the earlier Bonhoeffer and who studied texts from ›before‹ and ›after‹ April 30, 1944, argue, against Hanfried Müller, Bishop Robinson, the ›Christian atheists‹, and those who left the church behind, that there was continuity. Despite the provocative materials in some prison letters, Bonhoeffer’s life and thinking seemed seamless if dynamic and restless.« (215 f.)
Das Buch ist gerade auch den deutschen Lesern zu empfehlen. Es stellt nämlich die deutsche Rezeption in den weiten Horizont der großen internationalen Debatten, bleibt dabei für deutschsprachige Leser leicht zu verstehen und schafft überdies meisterhaft den Spagat zwischen fachwissenschaftlicher Publikation und gut leserlicher, empathischer, ja unterhaltsamer und spannender Lektüre: ein Muss für jede theologische Fachbibliothek, die sich dem Wirken und der Entstehung von Bonhoeffers meist gelesenem Buch verschrieben hat.