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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

451–452

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Barnett, Christopher B.

Titel/Untertitel:

Kierkegaard, Pietism and Holiness.

Verlag:

Farnham/Burlington: Ashgate 2011. XII, 230 S. 23,6 x 15,6 cm = Ashgate New Critical Thinking in Religion, Theology, and Biblical Studies. Lw. £ 50,00. ISBN 978-1-4094-1156-7.

Rezensent:

Gerhard Schreiber

Kierkegaards Verhältnis zum Pietismus ist in der Sekundärliteratur zwar gelegentlich thematisiert, aber noch nicht eingehend untersucht worden. Die zu besprechende Abhandlung, bei der es sich um die von B. geringfügig überarbeitete Fassung seiner 2008 an der Theologischen Fakultät der Universität Oxford eingereichten Dissertation (D. phil.) handelt, kann nun diesem Desiderat abhelfen. Während es B. im ersten, biographisch-rezeptionsgeschichtlichen Teil der Untersuchung (Kapitel 1–3) darum geht, den Pietismus als ein »key element« (138) in Kierkegaards Leben und denkerischer Entwicklung darzustellen, soll im zweiten, historisch-analytischen Teil (Kapitel 4–6) der nachhaltige Einfluss des Pietismus auf Kierkegaards schriftstellerisches Werk aufgezeigt werden.
Ausgehend von der weiten (Brechtschen) Definition des Pietismus als einer transnationalen und transkonfessionellen Frömmigkeitsbewegung gibt B. im 1. Kapitel einen selektiven Überblick über die Geschichte des Pietismus von Arndt bis Zinzendorf, um im 2. Kapitel die wechselvolle Entwicklung des Pietismus im Dänemark des 18. und 19. Jh.s und seine enorme Bedeutung (insbesondere in Gestalt der Herrnhuter Brüdergemeinde in Kopenhagen) für die Familie Kierkegaard darzulegen. Auf diesem biographischen Hintergrund und unter Heranziehung eines reichen Quellenmaterials widmet sich das gewichtige 3. Kapitel Kierkegaards Lektüre und Beurteilung der Erbauungsliteratur der spätmittelalterlichen Mystik und ihrer pietistischen Rezipienten. Der Fokus liegt dabei auf dem Motiv der Nachfolge Christi, dessen Akzentuierung B. nicht nur als einen durchgehenden »key aspect« (171) dieser Erbauungsliteratur, sondern zugleich als Kierkegaards »most significant debt to the Pietist tradition« (68) verstanden wissen will. Obwohl Kierkegaard weder dem »establishment-friendly« (90) hallischen Pietismus noch der vom herrnhutischen Pietismus sichtbar praktizierten Absonderung von der Welt habe folgen können (vgl. 138 f.), zeige sich in Kierkegaards Hinwendung zum Motiv der Nachfolge Christi, auf das er bei seiner Lektüre der Erbauungsschriften immer wieder gestoßen sei, eine tiefgreifende Übereinstimmung mit dem Pietismus (vgl. 168).
Wie Kierkegaards Lektüre der Erbauungsschriften ihn zu einem Neuüberdenken des Verhältnisses zwischen Christentum und säkularer Gesellschaft, zwischen dem Heiligen und dem Weltlichen, genötigt hat, ist Gegenstand der Darstellung in den Kapiteln 4 und 5. Für B. wird dies manifest anhand der Gegenüberstellung von Kierkegaards Kritik der (von B. mit dem herrnhutischen Separatismus gleichgesetzten) »Klosterbewegung« in der Nachschrift (1846) auf der einen Seite und der (von Kierkegaard unter dem Eindruck seiner erbitterten Auseinandersetzung mit dem politisch-satirischen Wochenblatt »Corsaren« formulierten) Kritik der »Gegenwart« im dritten Abschnitt der Literarischen Anzeige (1846) auf der anderen Seite: »Whereas the Postscript argues that authentic religious existence is primarily a matter of ›hidden inwardness‹ … A Literary Review shows Kierkegaard reworking this conclusion in light of the ills of modern secularity.« (141) Die ›Gegenwart‹ bedürfe nunmehr »a religiousness of suffering ser­-vanthood« (ebd., vgl. 161), worin B. die entscheidende Vorstufe für Kierkegaards Aufnahme des Nachfolge-Motivs in seinem Spätwerk sieht (vgl. 162.171). Gleichwohl ist Kierkegaards spätere Betonung der Nachfolge Christi, wie B. in Kapitel 6 zu Recht hervorhebt, »not a wanton call for martyrdom, but, in the manner of his favourite Pietist Erbauungsautoren, a means of encouraging Christians to live humbly and charitably in a fallen world.« (201)
So überzeugend B.s Darstellung der nachhaltigen Beeinflussung Kierkegaards durch die christliche Erbauungsliteratur und seine Herausstellung der Ambivalenz des Verhältnisses Kierkegaards zum Pietismus gegenüber anderen (Miss-)Deutungen dieser Beziehung (vgl. 90 f.) auch ist, so wenig überzeugend scheint mir seine angesichts der angeführten Stellen (vgl. 76–79.88–94) gemachte Behauptung, dass Kierkegaard »continued to peruse Pietist Erbauungsliteratur throughout his life« (62; vgl. 68.78). Bereits ein Blick in elektronische Konkordanzen und Register verdeutlicht vielmehr, dass Kierkegaards intensive Lektüre und produktive Rezeption der Erbauungsliteratur nicht vor 1847 eingesetzt hat. Neben den (mit Ausnahme Brorsons) wenigen Belegen aus der Zeit vor 1847 (bei denen Kierkegaards Quelle zum Teil unsicher ist, vgl. z. B. 89, Anm. 174), führt B. auch frühe Exzerpte und Vorlesungsnotizen Kierkegaards als dessen eigene Worte an (z. B. 89, Anm. 175; vgl. auch 112, Anm. 3). B. bleibt eine Erklärung schuldig, warum Kierkegaard in seinen Schriften – wenn er doch bereits seit seiner Jugend mit der Erbauungsliteratur »obviously intimate« (78, Anm. 99) gewesen ist – erst ab 1847 von der Nachfolge Christi spricht, zumal dieses Motiv in Kierkegaards Journalen und Aufzeichnungen (abgesehen von wenigen Ausnahmen in den Jahren 1847 und 1848) sogar erst ab 1849 regelmäßig begegnet. Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, dass auch im Hintergrund von Kierkegaards (späterer) Hinwendung zur Erbauungsliteratur das einschneidende Erlebnis seiner Auseinandersetzung mit dem »Corsaren« (vgl. 141–144.151 f.155) gestanden hat – quod esset demonstrandum!
Bemerkenswert und nicht eben zufällig scheint mir ferner, dass in das Jahr 1847 auch der Beginn von Kierkegaards regelmäßiger Lektüre der Predigten Luthers in der dänischen Luther-Postille (1828) von Jørgen Thisted (einem der Kopenhagener Brüdergemeinde nahestehenden Erbauungsschriftsteller!) fällt, auf deren für das Nachfolge-Motiv überaus wichtige Vorrede (Luthers) sich Kierkegaard mehrfach zustimmend bezogen hat (z. B. NB12:162, NB14:41, NB15:32, NB20:148). Leider hat sich B., der weder Thisted noch die Postille erwähnt (zu Luther vgl. insbesondere 71 f., Anm. 51; 180, Anm. 64; 184), in diesem Punkt zu sehr auf die von ihm behandelten mystischen und pietistischen Erbauungsschriften als einzige (mögliche) Quelle des Nachfolge-Motivs festgelegt.
Ungeachtet der angedeuteten Rückfragen sowie kleinerer Ungenauigkeiten (z. B. 58: »Henrik Nocolaj Clausen«; 87: »øyeblik«; 97: »Busskampf«) kann festgehalten werden, dass B.s Abhandlung mit ihren gelungenen Analysen eine wirkliche Bereicherung der neueren rezeptionsgeschichtlichen Untersuchungen zu Kierkegaard bedeutet.