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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

447–449

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Kirchhof, Astrid Mignon

Titel/Untertitel:

Das Dienstfräulein auf dem Bahnhof. Frauen im öffentlichen Raum im Blick der Berliner Bahnhofsmission 1894–1939.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2011. 274 S. m. Abb. 24,6 x 17,2 cm = Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung, 11. Geb. EUR 52,00. ISBN 978-3-515-09776-5.

Rezensent:

Detlef Metz

Das Buch zeichnet die durch massenhafte Zuwanderung von Frauen initiierte Arbeit von Frauen in der Berliner Bahnhofsmission, in deren Trägerverein und im Dachverband der Bahnhofsmission in Deutschland von den Anfängen bis zur Auflösung durch das NS-Regime nach. Die geschichtswissenschaftliche Dissertation wurde an der Technischen Universität Berlin bei Heinz Reif verfasst. Eines seiner Forschungsgebiete ist die Stadtgeschichte im 19. und 20. Jh., in dem auch die facettenreiche Studie von Astrid Mignon Kirchhof anzusiedeln ist. Sie geht vom Begriff des »öffentlichen Raumes« aus und verbindet ihn mit der Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte, fokussiert auf die in der Bahnhofsmissionsarbeit tätigen Frauen, sekundär auf die von ihr betreuten Frauen. Dass hier das regierende Zentrum liegt, zeigen die in die Fragestellung einführenden Sätze (16): Es geht um die Wahrnehmung von Frauen, die in diversen öf­fentlichen Räumen agieren, konkret um die Frage, »wie sich die Zu­nahme öffentlicher Präsenz von Frauen in verschiedenen sozialen Räumen im städtischen Kontext vom Ende des 19. Jh.s bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Einzelnen gestaltete und unterschiedliche bahnhofsmissionarische Räume konstituiert wurden«.
Methodisch legt K. das relationale Raumkonzept der Soziologin Martina Löw zugrunde. Dieses hat für K. den Vorzug einer Begriffsbestimmung von Raum, die den Handlungsmöglichkeiten von Frauen Rechnung trägt, und die These von der Konstruktion zweier getrennter gesellschaftlicher Sphären, denen die Geschlechter zugeordnet werden – die öffentliche den Männern, die private den Frauen –, hinterfragt. Nach Löw ist die Erstellung von Räumen eine Verknüpfungsleistung, die von der materiellen Basis ausgeht, aber berücksichtigt, dass der Raum in eine soziale Struktur integriert ist und keine vom Handeln und von symbolischen Komponenten getrennte Größe darstellt. So gelingt es, den materiellen und sozialen Raum der Missionarinnen am Bahnhof zusammenzudenken und auch die Sonderform des institutionalisierten Raumes, die mit der Bahnhofsmissionsarbeit verbundenen Vereine, einzubeziehen. K.s Ansatz markiert eine neuartige Fragestellung. Bei der Erforschung der Bahnhofsmission dominierten bislang organisationsgeschichtliche Zugänge. Der Handlungsrahmen für Frauen war bezüglich des Gesamtprotestantismus zuweilen Forschungsgegenstand, nicht aber in Bezug auf eine Organisation wie die Bahnhofsmission. Aus der Forschung nimmt K. hier das Konzept der »geistigen Mütterlichkeit«, die der Frau attribuierte pflegende und emotionale Kompetenz, produktiv auf.
Kapitel II behandelt die weltanschauliche Grundlage der Bahnhofsmissionsarbeit. K. analysiert das für die Zuwanderinnen ge­brauchte Konzept der »gefährdeten« Frau und die durch dieses be­dingte differente Wahrnehmung von weiblichen und männlichen Wandernden durch die Wohlfahrtsagenten. Dieses Konzept wirkte ambivalent: Während es den in der Bahnhofsmissionsarbeit engagierten Frauen öffentliches Wirken und damit Räume ermöglichte, suchte es die Raumkonstituierung der zuwandernden Frauen einzuschränken. Die beiden folgenden Kapitel gehen der Konstitution sozialer Räume in der Bahnhofsmissionsarbeit nach: Kapitel III untersucht die praktische Arbeit an den Bahnhöfen und, im Sinne des umfassend angelegten Konzeptes als vorausgehende, nachgehende und mitgehende Hilfe, außerhalb der Bahnhöfe. Dazu betrachtet K. Motivation und sozialen Hintergrund der Bahnhofsmissionarinnen, kontrastiert mit den betreuten Frauen. Für die Einordnung der Bahnhofsmissionsarbeit ist die Darstellung der Kooperationen wichtig, die eingegangen wurden, um die Räume konstituieren und erhalten zu können. Während die Verbindung zum Komitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels problemlos war, ebenso die Wohlfahrtsbehörden die Bahnhofsmission protegierten, wurde die weibliche Polizei als Konkurrentin empfunden. Kapitel IV hat die Vereinsarbeit zum Gegenstand, den Berliner Trägerverein »Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend« (später »Verein Wohlfahrt der weiblichen Jugend«) und mit diesem verbundene Vereine wie den »Ev. Verband für die weibliche Jugend« sowie den »Dachverband der Ev. Deutschen Bahnhofsmission«. K. fragt, welche Rolle Frauen in diesen Verbänden einnahmen. Spezielle Aufmerksamkeit erfahren Gertrud Müller (1864–1912), Ge­schäftsführerin des Ev. Verbandes für die weibliche Jugend und erste Sekretärin des Vereins Wohlfahrt der weiblichen Jugend sowie Geschäftsführerin des Verbands der Berufsarbeiterinnen der Inneren Mission, und Theodora Reineck (1874–1963), erste Geschäftsführerin des Dachverbandes. Kapitel V beschreibt die Einschränkung der sozialen Räume der Bahnhofsmission durch das NS-Regime. Da die Bahnhofsmission nach Jahrzehnten etabliert und in der Bevölkerung präsent war, konnte das NS-Regime die Bahnhofsmissionen nicht unvermittelt schließen. Stattdessen wurde ein langsamer Aufbau der von der »NSV« getragenen NS-Bahnhofsdienste vorangebracht und die Handlungsräume der Bahnhofsmissionen wurden nach und nach verkleinert, bis zu ihrer Aufhebung 1939. Die Bahnhofsmission versuchte, sich dem Druck durch Akzentuierung einer tatsächlich gegebenen Schnittmenge zwischen ihr und der NS-Politik und entsprechender Kooperation zu entziehen, konnte aber die Marginalisierung nicht aufhalten.
K. gelangt zu begründeten Ergebnissen. Sie arbeitet heraus, dass das Konzept der »geistigen Mütterlichkeit« den Weg von Frauen in die Öffentlichkeit ebnete, weitere Aufstiegsmöglichkeiten aber verhinderte, da die soziale Mission stets Vorrang vor Erwerbstätigkeit genoss. Ihre Analyse der Arbeit von Frauen in den genannten Vereinen widerlegt die These von der Konstruktion zweier getrennter gesellschaftlicher Sphären, denen die Geschlechter zuzuordnen sind: Die Akteurinnen ließen sich nicht auf den Privatbereich verweisen. Jahrzehntelang vermochten sie öffentliche Räume zu konstituieren und zu erhalten. K. bewegt die Frage der Festanstellung von Frauen. Hier wäre in Rechnung zu stellen, dass die christliche Gemeinde auf eine erkannte Notsituation mit den ihr gegebenen Ressourcen, theologisch gesprochen: ihren Charismen, reagiert. Ehrenamtlichkeit ist auch auf diesem Hintergrund zu sehen, nicht nur bürgerschaftlichem Selbstverständnis geschuldet. Dass die Bahnhofsmission mit ehren- und hauptamtlichen Kräften durchaus professionell agierte, belegen die von K. erwähnten Schulungen, mit denen im Wohlfahrtsstaat der Weimarer Republik Konkurrenzfähigkeit erhalten werden sollte. Bei der Betrachtung der Motive der Mitarbeiterinnen müsste die Basis der Voten größer sein; im behandelten Zeitraum könnten Wandlungen erfolgt sein. Doch fällt dies kaum ins Gewicht, in summa ist die Quellengrundlage breit und vielfältig. K. hat eine sorgfältige, für die weitere Forschung zur Rolle der Frauen auf dem Feld der Diakonie unentbehrliche Studie vorgelegt.