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Ausgabe:

April/2012

Spalte:

445–447

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Greschat, Martin

Titel/Untertitel:

Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945–2005).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. 248 S. 24,0 x 17,0 cm = Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, IV/2. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02498-8.

Rezensent:

Jochen-Christoph Kaiser

Martin Greschat, nicht nur nach Auffassung des Rezensenten der augenblicklich wohl beste Kenner der Geschichte des deutschen Protestantismus nach 1945, hat in der renommierten Reihe »Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen« nun einen Band über den Protestantismus im deutschen Weststaat vorgelegt, der allerdings über das ›magische Datum‹ 1989 hinausgeht und die gesamtdeutsche Entwicklung seither einbezieht. Das Buch korrespondiert mit dem bereits 2005 erschienenen Titel von Rudolf Mau »Protestantismus im Osten Deutschlands (1945–1990)« (KGE IV/3). Jedoch ist im Folgenden ein Vergleich der beiden Darstellungen nicht intendiert, weil die Entwicklung in Ost und West in weiten Passagen nicht kompatibel gewesen ist.
G. gliedert seinen auf 221 Seiten ausgebreiteten umfangreichen Stoff in fünf Hauptkapitel, wobei er sich – bezogen auf die Jahrzehnte bis 1963 – auf seine beiden 2002 und 2010 veröffentlichten Gesamtdarstellungen jener Zeit stützen kann (»Die evangelische Christenheit und die deutsche Geschichte nach 1945. Weichenstellungen in der Nachkriegzeit«, Stuttgart 2002, und »Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945–1963«, Paderborn 2010). Geht es im ersten Kapitel um die frühe Nachkriegszeit mit der Konstituierung der EKD zwischen 1945 und 1948 sowie um die doppelte Staatsgründung, folgt dann ein größerer Abschnitt über die Ära Adenauer, der mit den Debatten um Wieder- bzw. Atombewaffnung der BRD endet. Die 1960er Jahre bilden mit der Ostdenkschrift, dem Aufkommen der Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium«, ökumenischen Themen sowie der gescheiterten EKD-Reform eine Art Inkubationszeit im Vorfeld jener großen Umbrüche der 1970er Jahre, in denen das Kirchenpapier der FDP, die terroristische Bedrohung und die neuen sozialen Bewegungen, schließlich Nachrüstung und Friedensbewegung die letzten Jahre der Bonner Republik prägten, bevor das fünfte Kapitel in einem knappen Ausblick auf den Pro­-tes­tantismus im wiedervereinigten Deutschland und die kirchlichen Neuordnungsversuche sowie auf die Diskussion um Zu­kunftsperspektiven der Volkskirche eingeht.
Die Darstellung orientiert sich in auffälliger Weise an den politischen Schaltstellen der Jahre des Berichtszeitraums. Dadurch entsteht der Eindruck nicht nur einer »Einbettung« der kirchengeschichtlichen Entwicklungen in die Gesellschaft der Bundesrepublik, sondern einer nahezu unentrinnbaren Abhängigkeit von den politischen Rahmenbedingungen. Dem ist an sich nicht zu widersprechen, denn in der Tat waren und sind diese Abhängigkeiten in beiden großen Konfessionen ja unübersehbar. Andererseits beziehen sich Theologie und Kirche nicht auf das politisch-gesellschaftliche Umfeld allein, sondern entwickeln immer wieder eine davon nicht unabhängige, aber dennoch zu beobachtende Eigendynamik im Sinne eines »Eigenlebens«, das von politisch-gesellschaftlichen Umfeldfaktoren nicht unbedingt beeinflusst und erst recht nicht abhängig sein muss. Deutlich wird das im Hinblick auf Geschichte und Ausprägung bestimmter Frömmigkeitsstile – durchaus nicht allein in abgelegenen Gebieten »auf dem Lande«, während etwa der Mainstream religiösen Lebens nur in den Metropolen mit ihren kulturellen Verdichtungen und als Sitz kirchenleitender Netzwerke zum Ausdruck gekommen wäre. Religiöse Praxis und frommer Lebensvollzug vermögen durchaus in gewisser Unabhängigkeit, ja im Widerspruch zu den »großen« Trends in Kirche und Gesellschaft ihr Recht zu behaupten und sei dies nur dadurch kenntlich, dass die gleichen Pfarrer, die als CDU/CSU-Anhänger dem Weg Gustav Heinemanns von der GVP zur SPD skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, Heinemann und seinen evangelischen Parteigängern solidarisch und mit hohem Respekt begegneten, wenn sich diese auf kirchlichen Zusammenkünften und festlichen Events in der Provinz zeigten. Dann wirkte die Verbundenheit durch Kirchenkampf und gemeinsame Unterdrückungserfahrungen im Nationalsozialismus weit stärker als die Abneigung gegen die mit Unbedingtheit vertretenen, neugewonnenen »linken« Bindungen aus bruderrätlich-dahlemitischer Tradition.
Mit anderen Worten: Kirche und Kirchenvolk lassen sich vielleicht doch nicht so eindeutig bestimmten politischen Herausforderungen resp. systematisch propagierten Auffassungen ihrer Führungseliten zuordnen, wie man nach der Lektüre von G.s durchweg eindrucksvoller Darstellung der Gesamtentwicklung schließen könnte. Immer blieben und bleiben Freiräume und nicht allein Nischen in der Gestaltung gemeindlichen Lebens und des kirchlichen Alltags vor Ort manchmal geradezu unberührt von der »großen Kirchenpolitik«, wie sie Liljes »Sonntagsblatt« oder Gerstenmaiers konservatives Pendant »Christ und Welt« als offiziöse Organe der innerkirchlichen Meinungsbildung verbreiteten. Und auch die Hauptquelle, auf die sich G. stützt, nämlich die Informationen des »Kirchlichen Jahrbuchs«, dürften nur einem Bruchteil der »praktizierenden« Protestanten zur Kenntnis gelangt sein. Daraus ein gültiges Bild des Evangelischen Deutschlands zu destillieren, scheint von daher gewagt, ist aber wohl der Gattung eines Handbuchs mit Über blickscharakter geschuldet, das vom vielbeschworenen Desiderat der religiösen Alltagsgeschichte weitgehend abstrahieren muss, wenn es um die kirchlichen Entwicklungslinien innerhalb eines halben Jahrhunderts geht. Einerseits ist trotz häufiger Betonung des Gegenteils letztlich enzyklopädisches Wissen gefragt, das ein solches Handbuch liefern soll, und dann wieder fehlt Lesern (und Rezensenten) das Einmalige, Besondere, nicht zu verallgemeinernde Bild gewisser Entwicklungsstränge – ganz zu schweigen von jenen eigenen Erfahrungen des Zeitgenossen, der natürlich immer genau das vermisst, was G. aus pragmatischen Gründen, oder weil es nicht in seine Konzeption passte, übergangen hat.
Es liegt in der Natur eines Hand- und Lehrbuches, dass Studienanfänger, Jungwissenschaftler und – sicherlich seltener – kirchengeschichtlich allgemein interessierte Leserinnen und Leser ohne persönliche »Verwertungsinteressen« sich rasch über komplexe Geschehnisse und die Strukturen, in die diese eingebettet sind, informieren können. So wünschte man sich für die Reihe am Ende jeden Bandes eine kurzgefasste chronologische Leiste, zumal bei einem solchen komplexen Thema wie es hier vorliegt. Das Fehlen eines solchen Hilfsmittels sowie die nicht gerade attraktive graphische Gestaltung des Buches mit seinen großen Textblöcken ist indessen nicht G. anzulasten, wirft aber doch die Frage auf, ob Herausgeber und Verlag sich nicht zu einer Revision der Formalia durchringen könnten. Es gibt ja Beispiele dafür, wie es auch anders geht, indem Chronologien, Zitierweise und Marginalien die Orientierung erleichtern.
Gleichwohl: Handbücher tragen ihre spezifischen Probleme in sich, die nicht ohne Weiteres aufzulösen sind. Sie informieren aber – wie hier – in der Regel zuverlässig und hindern die jeweiligen Autoren daran, vor allem ihre Spezialinteressen auf Kosten des Überblicks und seiner plausiblen Strukturierung zu vertreten. In diesem Sinne legt G. mit dem Band einen gewichtigen Beitrag vor, der umso hilfreicher ist, als es derzeit auf dem Markt kein Konkurrenzprodukt gibt, das die verschlungenen Pfade der Protestantismusgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland so überzeugend und zugleich umfassend präsentiert.